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Die Zeit der Revolution 1918/19
ОглавлениеDie Zeit der Heimkehr aus dem Zuchthaus Rawitsch schilderte uns Haarmann folgendermaßen: »Als ich aus dem Kittchen entlassen wurde, fuhr ich nach Berlin. Aber da war nicht viel los. Da ging ich wieder nach Hannover. Ich ging gleich zu Emma. Bertchen, Emmas Jüngste, sagte: ›Iss nicht so viel Brot, Onkel. Wir stehn Schlange; sind alle krank.‹ Da sagte ich: ›Will mal sehen, mein Kind, was sich machen lässt.‹ Ich ging gleich zum Bahnhof. Emma gab Geld. Da sind ja die Schiebers, die Hamsterers! Da klauten wir. Da hatten wir alles. Da wurden wir alle wieder schöne dick. Emma verkaufte weiter. Da ging aber der olle Haarmann zum Hauswirt. Da hat er mich verklatscht. Da sagte Emma: ›Fritz, geh’ man wieder weg‹.« – Haarmann war in eine Zeit hineingeraten, in der alle seine bösen Urtriebe wild ins Kraut schießen konnten. Sein Hauptquartier wurde die große Vorhalle des Hauptbahnhofs in Hannover, wo ein schwunghafter Handel mit gestohlenem oder schwarzgeschlachtetem Fleisch und mit allen, in jenen Tagen nicht mehr aufzutreibenden, in Deutschland schwer entbehrten Gebrauchsgütern getrieben wurde. April 1918 mietete Haarmann von der Ww. Schildt in dem Haus Cellerstraße 27 einen Laden mit Hinterzimmer, angeblich zu Bürozwecken. Der Laden wurde mit einigen Möbelstücken notdürftig ausgestattet. Er wohnte zunächst noch bei seiner Schwester Burschel, zog aber Ende August in das Hinterzimmer des Ladens. Es begann dort ein Betrieb, der den Hausbewohnern immer rätselhafter und unheimlicher wurde. Aus und ein flogen junge Leute. Sie brachten Rucksäcke mit Fleisch. Nachts hörten die Nachbarn ein Hacken und Klopfen in dem Hinterzimmer; sie nahmen an, dass Haarmann das zu seinem Schleichhandel »gehamsterte« Fleisch zerlege. Neben dem Haarmannschen Laden war der Gemüseladen von Frau Seemann, einer verängstigten Frau, die in jenen schweren Tagen mit ihrem Nachbarn wohl ein bisschen Kippe machte und gelegentlich ebenfalls von den bei Haarmann ein- und ausgehenden jungen Leuten einige Schleichware billig erstand. Diese bängliche Frau war wohl die erste, der eine Ahnung davon aufstieg, dass in dem Nebenraum dunkle Mordtaten vorgehen könnten. Einmal, als Haarmann im Nebenraum Knochen hackte, klopfte sie an die Wand und rief hinüber: »Krieg’ ich auch was ab?« Haarmann rief zurück: »Ne, das nächste Mal.« Anderen Tages brachte er ihr einen Sack Knochen. »Ich machte Sülze daraus, aber ich dachte: I gitte, die sehn so weiß aus; mir wird fies davor.« Erst sechs Jahre später klärte sich auf, dass in diesem Hinterzimmer in der Cellerstraße mindestens zwei Personen getötet wurden: der 14jährige Sohn Hermann des Fahrradhändlers G. Koch und der 15jährige Friedel des Gastwirts Rothe; und wenn auch ungewiss blieb, ob Haarmann das Fleisch der getöteten Knaben bei seinem Fleischhandel mit verwendete (vielleicht hat ein letztes Restchen menschlicher Scham ihn abgehalten, das Grässlichste einzugestehen), so ist doch so viel gewiss, dass nicht erst 1923 der Tötungszwangstrieb einsetzte, sondern dass schon in den Jahren 1918-1923 manche Mordtat geschehen sein muss. Diese Taten sind nicht ans Tageslicht gekommen. Haarmann, der sonst ein ausgezeichnetes Erinnerungsvermögen hat, konnte sich an die Zahl seiner Opfer so wenig erinnern, wie an ihre Gesichter (wie er denn überhaupt alles Quälende aus seinem Bewusstsein zu verdrängen versucht). Nach der Zahl seiner Morde befragt, pflegte er, unsicher und wortkarg werdend, sofort zu erwidern: »Es können dreißig, es können vierzig sein; ich weiß das nicht«; im einzelnen aber gab er immer nur solche Fälle zu, die ihm nachgewiesen werden konnten, und mit einem fast gemütlichen Hohn hielt er oft dem Staatsanwalt vor: »Es sind auch Opfer da, die Sie nicht wissen. Die aber, die Sie meinen, sind es nicht.«