Читать книгу König und Meister - Theresa Hannig - Страница 10
3. Kapitel
ОглавлениеAls Ada erwachte, wusste sie sofort, was geschehen war und wo sie sich befand. Sie lag in einem Einzelzimmer eines Krankenhauses in einem frisch bezogenen hellblauen Bett. Sie trug eines jener Patientenhemden, die oben wie ein Lätzchen zugebunden waren und den Rücken frei ließen, sodass man sich nachts den Tod holte, wenn man die Decke von sich gestrampelt hatte. Erleichtert stellte sie fest, dass sie noch ihre eigene Unterwäsche trug. Das Zimmer war winzig, bot gerade genug Platz für einen Stuhl, der zwischen Bett und Schrank gezwängt worden war, und bei Ikea sicher in der Kategorie Singlewohnung oder Raumwunder bestellt werden konnte. Das Fenster zu ihrer Linken zeigte den grauen Himmel und das mit Kies gedeckte Vordach des Haupteingangs, neben dem sich die Raucher tummelten, die trotz oder wegen ihres Krankenhausaufenthalts nicht aufhören konnten. Ganz hinten, am Beginn der Auffahrt, sah Ada einen Bettler, der dort sein Lager aufgeschlagen hatte.
Sie wandte den Blick ab. Auf dem aufklappbaren Tischchen neben ihr wartete ein Tablett: zwei Scheiben Graubrot, ein zehn-Gramm-Würfel Butter, zwei Räder Fleischwurst, ein Prisma Käse, ein Becher Himbeerjoghurt. Ada war im Standard der deutschen Gesundheitsversorgung angekommen. Obwohl sie keinen Hunger verspürte, löffelte sie den Joghurt. Es war kein Genuss, aber Essen beruhigte sie immer, egal ob es schmeckte oder nicht. Sie hätte gerne mit einem Arzt gesprochen und gefragt, was mit ihrem Vater los war. Doch sie wagte es nicht, die Notruftaste zu betätigen. Immerhin war Nichtwissen kein Notfall und solange sie nicht nachfragte, war er auch nicht tot. Schrödingers Vater, dachte sie, und fand, dass der Joghurt plötzlich bitter schmeckte. Mit zittrigen Fingern drückte sie dann doch auf den orangenen Knopf mit der aufgedruckten Krankenschwester.
Bis sich endlich die Tür öffnete, hatte Ada schon das erste Käsebrot verspeist.
»Guten Morgen, Frau König. Wie ich sehe, geht es Ihnen schon viel besser. Mein Name ist Dr. Kern«, sagte die Frau im weißen Kittel.
»Guten Morgen. Wo bin ich, was ist mit meinem Vater? Wir hatten einen Unfall, er wurde noch vor mir abtransportiert.«
Dr. Kern nickte bei jedem Wort. Ihr Mund war zu einem dünnen Strich zusammengepresst. »Sie hatten gestern einen Verkehrsunfall. Jetzt sind wir im Krankenhaus Rechts der Isar. Ihr Vater ist auch hier. Er hat leider schwere Verletzungen erlitten und befindet sich auf der neurologischen Intensivstation. Falls Sie möchten, können Sie ihn besuchen.«
Die unendliche Last eines möglichen Universums, in dem Adas Vater bereits tot war, wich von ihr.
»Ja, das würde ich sehr gerne. Wo sind denn meine Klamotten?«
»Die sind in einer Plastiktüte im Schrank, aber ich würde Ihnen empfehlen, sie zuerst zu waschen. Sie sind voller … Blut und Scherben. Am besten werfen Sie sie weg. Wir dürfen das nicht, wir müssen alle persönlichen Gegenstände aufbewahren.«
»Haben Sie dann was anderes für mich zum Anziehen?«
»Ich werde mal bei den Schwestern nachfragen, die haben sicher was. Als Erstes möchte ich aber überprüfen, wie es Ihnen geht, in Ordnung?«
Ada nickte und ließ sich von Dr. Kern den Blutdruck messen, Brust und Rücken abhorchen und mit der Taschenlampe in die Augen leuchten. Auch den Verband, der um Adas linkes Knie geschlungen war, kontrollierte sie. Erst als sie nach Schmerzen fragte, merkte Ada das Ziehen, das alle Schichten ihres Körpers durchdrang, als habe sie einen gewaltigen inneren Muskelkater.
»Sie haben ein Schleudertrauma. Das geht vorbei. Auch Ihr Bein sieht schlimmer aus, als es ist. Es wurde genäht, die Röntgenbilder sind unauffällig. Ihr Blutdruck ist vollkommen in Ordnung, die Lunge frei. Falls Sie laufen können, dürfen Sie aufstehen. Gegen die Schmerzen gebe ich Ihnen ein paar Tabletten. Wir sehen uns heute Abend noch einmal zur Visite, aber ich denke, dass Sie morgen früh nach Hause können. Haben Sie noch Fragen?«
»Wie es meinem Vater geht, das …«
»Das können Sie am besten die Kollegen vor Ort fragen.«
»Gut, danke.«
»Dann probieren wir am besten gleich mal, aufzustehen, in Ordnung?«
»Echt?«, fragte Ada langsam.
Sie hatte damit gerechnet, als Vorsichtsmaßnahme das Bett hüten zu müssen, und hatte den Verdacht, dass Dr. Kern das Ausmaß ihrer Verletzungen unterschätzte. Doch die schob den Tisch zur Seite und bot ihr den Unterarm an, wie ein Gentleman aus längt vergangenen Zeiten. Ada schlug die Decke zurück und schob vorsichtig ihre Beine über die Bettkante. Ein dunkler Ball aus Schmerz meldete sich in ihrem linken Knie.
»Das tut schon ganz schön weh«, sagte sie.
Dr. Kern nickte verständnisvoll. »Tut es nur weh oder tut es so weh, dass Sie sich nicht bewegen können?«
Zögernd ließ Ada ihre Füße auf den kalten Linoleumboden gleiten. Der Schmerz blieb gleich, kein Stechen, kein Aufheulen, nur der dumpfe Hinweis ihres Körpers, dass etwas grundsätzlich nicht in Ordnung war. Vorsichtig verlagerte Ada ihr Gewicht auf die Füße. Ja, es klappte. Am Arm der Ärztin humpelte sie die paar Meter zum Klo.
»Ich glaube, den Rest schaffe ich alleine«, brachte sie heraus und fühlte sich sehr tapfer.
»In Ordnung. Dann sage ich den Schwestern Bescheid wegen Ihrer Kleidung und auch wegen Krücken.«
»Danke.«
»Keine Ursache.« Damit verschwand die Ärztin aus dem Zimmer und Ada konnte sich im Bad erleichtern.
Zurück im Bett freute sie sich, das Abenteuer überstanden zu haben. Ihr Knie pochte, während sich in ihrem Nacken und dem Rücken der Muskelkater weiter ausbreitete. Es schien, als habe ihr Körper nur darauf gewartet, dass sie stark genug war, um die Schmerzen zu ertragen, die er ihr bislang vorenthalten hatte. Doch sie erkannte, wie gut es ihr eigentlich ging. Der Anblick des völlig zerstörten Autos blitzte durch ihre Gedanken. Die roten Blasen auf dem Airbag. Ada zitterte und zog die Bettdecke fester um sich.
Ein Krankenpfleger in fliederfarbener Uniform kam herein, lehnte zwei Krücken an ihren Besucherstuhl und überreichte ihr ein in Plastik eingeschweißtes Päckchen, in dem sich offenbar eine identische Pflegeruniform befand.
»Die müssen Sie aber bitte wieder zurückbringen«, sagte er.
»Natürlich«, erwiderte Ada dankbar.
Der Pfleger lächelte und verschwand aus dem Zimmer.
Sie riss die Plastikverpackung auf und streifte sich das T-Shirt über. Die Hose bereitete ihr Schwierigkeiten, da sie ihr verletzten Knie nicht anwinkeln und den schmerzenden Rücken kaum vorbeugen konnte, doch sie wollte nicht schon wieder um Hilfe bitten. Als sie es endlich geschafft hatte, sich hineinzuwinden und auf der Bettkante sitzend versuchte, das Pochen in ihrem Körper wegzuatmen, klopfte es erneut an der Tür.
Zwei uniformierte Polizisten – ein Mann und eine Frau – traten ein.
Sie waren jung, sicherlich jünger als Ada und zeigten offene, freundliche Gesichter. Es war nichts bedrohlich an ihnen, wenn man von den schusssicheren Westen und den obligatorischen Schusswaffen am Gürtel absah, und doch war Ada, als zöge sich ihr Innerstes zu einem Eisblock zusammen. Nichts wünschte sie sich mehr, als dass die Polizisten sie allein ließen und ihr keine Fragen stellten!
»Grüß Gott, ich bin Polizeimeisterin Wagner, das ist mein Kollege Polizeioberwachtmeister Ertl.«
»Hallo …«, brachte Ada schwach heraus.
»Wie geht es Ihnen?«, fragte die Polizistin freundlich und reichte Ada zur Begrüßung die Hand. In der Linken trug sie eine schwarzlederne Aktenmappe.
»Ganz gut, danke.«
»Wir konnten am Unfallort zwei Ausweise sichern und so Ihre Personalien feststellen. Sie sind Ada König, richtig?« Die Polizeimeisterin holte aus der Mappe eine Plastiktüte mit rotem Reißverschluss, in der Ada ihren Personalausweis erkannte.
»Ja.«
»Und der Fahrer des Wagens war Ihr Vater, Frank König.«
»Genau.«
»Wir sind hier, um Ihnen ein paar Fragen bezüglich des gestrigen Autounfalls zu stellen. Ist das in Ordnung, oder möchten Sie die Vernehmung lieber zu einem anderen Zeitpunkt durchführen?«
Ada zögerte. Am liebsten würde sie überhaupt nicht über den Unfall sprechen, aber jetzt waren die Polizisten schon einmal hier und da es sicherlich nicht angenehmer wurde, konnte sie die Sache auch gleich hinter sich bringen. »Ist schon in Ordnung. Was wollen Sie denn wissen?«
»Falls Sie nichts dagegen haben, würden wir die Befragung mit der Stenorette aufzeichnen«, sagte der Polizist Ertl, und holte ein schmales, graues elektronisches Gerät aus seiner Jackentasche, das verdächtig nach einem Diktiergerät aus dem letzten Jahrtausend aussah.
»Na klar, kein Problem.«
»Gut«, sagte Ertl und drückte auf einen Knopf. »Vernehmung von Ada König am dritten September im Klinikum Rechts der Isar. Gestern um fünfzehn Uhr zwanzig wurden Sie mit dem Rettungswagen hierher gebracht. Laut Aussage der Rettungssanitäter waren Sie an einem Verkehrsunfall beteiligt. Können Sie uns bitte den Unfallhergang schildern?«
»Ich war mit meinem Vater essen. Auf dem Nachhauseweg stand plötzlich ein …« Sie stockte. Was war auf der Straße gewesen?
Ihr war, als würden die Bilder in ihrem Kopf an dieser Stelle flimmern, wie Luft über einer heißen Straße. Ein Teil ihrer Erinnerung wusste, dass es sich um ein Reh gehandelt hatte. Das siebte Reh, ein rotbraunes Tier mit aufgerichteten Ohren und goldenen Augen. Ein anderer Teil war sich sicher, etwas anderes gesehen zu haben. Aber was? Allein schon die Vorstellung jagte ihr erneut Eisschauer über den Rücken. Was war hinter den flimmernden Gedanken? Stand da ein Mann? Was für ein Mann? Ihr Atem ging schneller, Übelkeit und Hitze stiegen in ihrem Rachen auf. Was war nur los mit ihr?
»Ein Reh!«, platzte sie heraus. »Ein Reh stand auf der Fahrbahn. Da hat mein Vater das Lenkrad verrissen und wir sind in den Graben gefahren.« Das hörte sich plausibel an.
»War es ein Reh oder ein Rehbock?«, fragte Polizeimeisterin Wagner.
»Ein Reh. Es hatte kein Geweih.«
»Und das ist auf die Straße gesprungen.«
»Es stand auf der Straße.« Ganz deutlich konnte sie sich das Reh ausmalen. Aber es war ein erfundenes Reh, eines, das wie ein Flicken einen Riss im Bild überdeckte.
»Es stand die ganze Zeit auf der Fahrbahn?«
»Ja, nein, was weiß ich … Ich habe nicht gesehen, wie es auf die Straße gesprungen ist. Es war einfach plötzlich da.«
»Waren noch andere Rehe in der Nähe zu sehen?«
»Ja, auf der linken Seite, also auf der Seite meines Vaters.«
»Kann es sein, dass Ihr Vater sich durch die Rehe neben der Fahrbahn ablenken ließ?«
»Keine Ahnung … wir sind gefahren, da war ein Reh und mein Vater hat zur Seite gelenkt. Das ging alles so schnell.«
»Befanden sich außer Ihnen und Ihrem Vater noch andere Personen im Fahrzeug?«
»Nein.«
»Waren noch andere Verkehrsteilnehmer an den Unfall beteiligt?«
Ein Mann. Irgendwie war da noch ein Mann. »Nur das Reh.«
»Sie müssten dann noch eine Wildunfallbescheinigung ausfüllen. Das ist wichtig für Ihre Versicherung«, sagte Polizeioberwachtmeister Ertl hilfsbereit. »Wir werden den zuständigen Jagdpächter informieren.«
»Warum?«
»Wir haben am Unfallort kein totes Tier entdeckt. Es könnte verletzt sein und sich verstecken.«
»Aber wir haben das blöde Vieh doch gar nicht berührt!«
Etwas in der Jackentasche der Polizistin piepste. Sie gab ihrem Kollegen mit einem Handzeichen zu verstehen, die Aufnahme zu pausieren, und holte dann ein Funkgerät hervor.
»Ja bitte?« Sie lauschte hinein, nickte und verzog dann das Gesicht. »Ja, verstanden. Wir kommen gleich.« Dann zu Ada gewandt. »Tut mir leid, wir müssen sofort los. Ein Notfall. Wir werden die Vernehmung zu einem späteren Zeitpunkt fortsetzen. Können Sie zu uns auf die Wache …« Sie ließ den Satz unbeendet, als ihr Blick auf Adas dick verbundenes Knie fiel. »Wissen Sie was? Wir kommen noch mal vorbei. Das ist, denke ich, einfacher. Am besten, Sie geben uns eine Telefonnummer, unter der wir Sie erreichen können.« Ada sprach die Nummer noch auf das Diktiergerät und schon waren die beiden verschwunden.
Als die Tür ins Schloss fiel, ließ Ada die Atemluft zischend entweichen. Seit der Uni-Abschlussprüfung hatte sie keine solche Erleichterung mehr verspürt, dabei hatte sie den Polizisten doch alles gesagt, was sie wusste, alles, was wirklich passiert war. Und trotzdem fühlte es sich irgendwie falsch an, unvollständig. Die Sekunden zwischen dem Augenblick, als noch alles normal gewesen war, und dem Aufprall dehnten sich ins Unendliche. Die Erinnerung an ihren eigenen Schreck jagte jedes Mal neue Schübe Adrenalin durch die Glieder und Schweiß auf ihre Haut. Es war unerträglich und gleichzeitig so intensiv und unmittelbar, dass sie es immer und immer wieder nachfühlen wollte. So wie man eine schmerzende Wunde immer wieder berührte, um sich zu vergewissern, dass sie noch da war. Und dann ihre Gedanken. Dieser eine Gedanke, der in ihrem Kopf brannte wie ein unsichtbarer Glassplitter im Fleisch.
Sie hatte um ihr Leben gefleht. Nur um ihr eigenes, nicht um das ihres Vaters. Aber was waren schon Gedanken, die man in Todesangst hatte? Dafür brauchte sie sich nicht zu schämen. Doch sobald sie meinte, der Glassplitter wäre verschwunden und die Aufmerksamkeit auf etwas anders richtete, meldete er sich wieder scharf, und gnadenlos. Sie hatte nur an sich gedacht. Das Leben ihres Vaters war ihr in diesem einen Augenblick völlig gleichgültig gewesen. Es half nichts, es zu leugnen. Sie konnte ihre eigenen Gedanken nicht ungeschehen machen. Aber es sind nur Gedanken!
»Ich hab doch gar nichts gemacht«, sagte sie laut zu sich selbst, doch das Geräusch ihrer eigenen Stimme im leeren Raum verunsicherte sie mehr, als dass es sie beruhigte. »Papa ist gefahren. Er hat nicht aufgepasst. Er hat das Steuer herumgerissen. Er war wie immer nicht angeschnallt. Ich kann doch nichts dafür, dass mir kaum was passiert ist.«
Die Stille gab keine Antwort. Ada begann zu schluchzen, vergrub das Gesicht in den Händen. Eine Welle Schrecken, Angst und Trauer rollte über sie hinweg und sie ließ sich ganz davon erfassen, sich mittragen und durchdringen. Sie ließ alles aus sich herauslaufen, weinte so lange, bis keine Tränen mehr da waren und eine hohle Nüchternheit blieb, die erst nach und nach wieder mit Gefühlen aufgefüllt werden würde.
Schließlich kämpfte sie sich aus dem Bett, hangelte sich am Stuhl entlang zu den Krücken, um sich im Bad die Nase putzen. Im Spiegel sah sie ihr jämmerliches, verheultes Gesicht. Wie so oft schnitt sie sich selbst Grimassen. Es hatte keinen Zweck. Das leere Gefühl blieb.
Sie zog das Hemd aus, wusch sich Gesicht und Oberkörper mit kaltem Wasser ab und putzte sich die Zähne so lange, bis sie das Brennen der scharfen Zahnpasta nicht mehr aushielt. Dann gab es nichts mehr für sie zu tun und sie machte sich auf den Weg zu ihrem Vater.