Читать книгу König und Meister - Theresa Hannig - Страница 11

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4. Kapitel

Der Wartebereich der neurologischen Intensivstation befand sich im Zwischengeschoss direkt vor zwei großen Treppenaufgängen, über die kaum Besucher oder Patienten kamen, dafür eine Menge Ärzte und Ärztinnen, Klinikpersonal und Reinigungskräfte. Die meisten beachteten Ada nicht, doch wer zufällig ihren Blick streifte, runzelte kurz die Stirn oder hob verwundert die Augenbrauen, als fragte er sich, was eine Krankenschwester auf Krücken hier zu suchen hatte.

Ada klingelte an der zweiflügligen Milchglastür und wartete auf einen Summton. Doch stattdessen öffnete sich die Tür einen Spalt breit und eine dunkelhaarige Frau mit müden Augen lugte heraus.

»Ja bitte?«

»Ich bin Ada König und möchte zu meinem Vater, Frank König. Er wurde gestern hier eingeliefert. Wir hatten einen Autounfall.«

Der Blick der Krankenschwester glitt an Adas verheultem Gesicht hinab zur lila Uniform, ihren Krücken und wieder zurück zu den Augen. In einer Sekunde hatte sie Adas Situation erfasst und lächelte sie erschöpft, aber ehrlich an.

»Natürlich, Frau König. Kommen Sie rein.«

Sie hielt die Tür auf, damit Ada auf ihren Krücken hineinhumpeln konnte. Dann seufzte sie, als hätte sie gerade eine schwere Aufgabe hinter sich gebracht, und marschierte den Gang entlang. Ada versuchte, mit den forschen Schritten mitzuhalten, doch sie kam nur langsam hinterher. Ihr Knie brannte und ihre Hände verkrampften sich. Die empfindliche Haut zwischen Daumen und Zeigefinger war von der ungewohnten Belastung durch die Krücken schon ganz wund. Endlich kam sie am Ende des Gangs an, an dem die Krankenschwester wartete und in die letzte offene Tür wies. Unsicher blieb Ada neben ihr stehen.

»Waren Sie wirklich mit im Fahrzeug?«, fragte die Krankenschwester.

Ada atmete schwer, wie nach einem Sprint. Das gab ihr Zeit, auf das Namensschild der Krankenschwester zu blicken, während sie nickte. Mirovic.

»Ja, aber ich war angeschnallt. Mein Vater schnallt sich nie an.«

»Oh, das erklärt einiges«, sagte Frau Mirovic, strich sich verlegen über Stirn und Wange und fügte dann mit einem Nicken in Richtung der Krücken hinzu: »Sie haben Glück gehabt. Ist das alles?«

»Ja, sonst ist mir nichts passiert. Ich habe noch ein Schleudertrauma, aber …« Ada schluckte, angesichts der Frage, die sie als Nächstes stellen musste. »Wie geht es meinem Vater?«

Sekunden verstrichen, bevor Frau Mirovic antwortete. Adas Finger schlangen sich fester um das harte Plastik der Krücken. Im Grunde war die Frage absurd. Sie standen im Gang der neurologischen Intensivstation.

»Ich kann gleich den diensthabenden Arzt rufen, damit er Ihnen …«, begann die Krankenschwester, doch Ada unterbrach sie mit gepresster Stimme:

»Können Sie mir es nicht sofort sagen? Bitte.« Sie konnte sich unmöglich noch länger an die Hoffnung krallen und dann enttäuscht werden. Lieber gleich die schlimmste aller Nachrichten.

Frau Mirovic verschränkte die Arme. »Ihr Vater, Herr König, hat mehrere sehr schwere Verletzungen erlitten, die durchaus typisch für einen Unfall ohne Sicherheitsgurt sind. Durch die Wucht des Aufpralls wird der Fahrer nach vorne auf das Lenkrad geschleudert, dabei knickt der Kopf nach hinten ab, das Gesicht schlägt mit der Stirn und dann der Nase gegen die Windschutzscheibe. Wenn der Körper wieder zurückfällt, prallt der Hinterkopf nicht selten an das seitliche Fenster oder die B-Säule des Autos. All das scheint ihrem Vater passiert zu sein. Ich arbeite viel in der Notaufnahme … diese Kombination ist typisch.«

»Aber der Airbag …?«

»Der ist aufgegangen, ja, aber die Verletzungen, die Ihr Vater erlitten hat, sind dennoch – es tut mir leid, wenn ich es nicht anders sagen kann: drastisch. Im CT wurden Einblutungen in den Kopf festgestellt. Im Augenblick ist das Gehirn aber noch zu geschwollen, um sagen zu können, wie groß die Verletzungen insgesamt sind. Wir müssen abwarten, und sehen, wie es sich entwickelt.«

»Kann ich zu ihm?«

»Natürlich.«

Frau Mirovic löste sich aus ihrer Erstarrung und führte Ada in das Zimmer, in dem insgesamt vier Patienten hinter teilweise geschlossenen Vorhängen lagen. Die Krankenschwester blieb an der rechten hinteren Parzelle vor dem Fenster stehen. Dort, in einem Bett, das mehr einem Industrieroboter als einem Möbelstück ähnelte, lag unter der weißen Decke ein Körper, dessen Innerstes durch zahlreiche Schläuche mit der Außenwelt verbunden war. Nirgends konnte Ada Haut sehen. Die Hände steckten in dicken Bandagen und auch das Gesicht war bis auf die Nasenspitze und den Mund vollkommen in einem weißen Mullkokon verschwunden. Eine Magensonde mit kaffeebrauner Flüssigkeit führte in eines der Nasenlöcher. Aus dem Mund ragte ein halbtransparenter Schlauch, durch den von der Beatmungsmaschine Luft in die Lungen ihres Vaters gepumpt wurde. In dem dunklen Loch, das einst sein Mund gewesen war, lag träge eine rosa Zunge, umrahmt nur von ein paar weißen Stümpfen. Die restlichen Zähne waren verschwunden. Im rechten Mundwinkel glitzerte halb geronnenes Blut. Auch an anderen Stellen des Kopfes traten frische rote Flecken durch den Verband.

Adas Atem beschleunigte sich. Schweiß sammelte sich unter ihren Achseln. Ein harter, dumpfer Schmerz stieß von ihren Handflächen nach oben zu den Unterarmen, bis sie bemerkte, dass sich ihre Finger um die Krücken krampften. Mit aller Kraft stieß sie die Gehhilfen von sich, die daraufhin mit ohrenbetäubendem Krach auf den Boden polterten. Augenblicklich begann einer der Apparate über dem Nachbarbett zu piepen.

»Ist Ihnen nicht gut?«, fragte Mirovic und hielt Ada an beiden Oberarmen, als befürchte sie, sie könne fallen.

»Danke, ich … das hatte ich nicht …«

»Schon gut. Setzten Sie sich erst mal.« Sanft, aber bestimmt, drückte die Krankenschwester Ada auf einen Stuhl neben dem Bett. Dann hob sie die Krücken auf und reichte sie ihr. »Atmen Sie durch. Es tut mir leid, aber ich muss mich um die anderen Patienten kümmern. Kommen Sie klar?«

»Ja, natürlich …«

»Soll ich einem der Ärzte Bescheid sagen?«

»Das wäre sehr nett. Danke.«

»Gut.«

Damit schob sich Frau Mirovic an ihr vorbei, drückte auf dem Weg nach draußen noch ein paar Knöpfe am Nachbarbett, sodass der Alarm verstummte, und verschwand dann aus dem Zimmer.

Ada starrte auf die Mumie, die ihr Vater sein sollte. Sie hatte Schlimmes erwartet, aber doch nicht so schlimm. Sie hatte gehofft, ihn sehen, ihn erkennen zu können. So war es nur ein Stück Fleisch, ein lebloser Körper, der von den Maschinen am Leben erhalten wurde.

Sie hätte ihn gerne umarmt oder seine Hand berührt, doch sie wagte nicht, die weißen Verbände anzufassen. Vorsichtig rückte sie mit dem Stuhl näher an das Kopfende heran.

»Hallo, Papa«, sagte sie leise. »Kannst du mich hören?«

Der König zeigte nicht die geringste Reaktion. Ada streckte ihre Hand nach seiner aus und zog sie dann auf halbem Weg wieder zurück. »Papa, mir geht es gut. Mir ist nichts passiert.«

Ihr war, als würde sich sein Puls, den der Monitor aufzeichnete, mit einem Mal beschleunigen, doch dann kehrte die Anzeige zu ihren konstanten 63 Schlägen zurück. Obwohl überall Maschinen klickten, surrten und piepten, war es sonderbar still – es war die Abwesenheit von menschlichen Geräuschen. Überaus deutlich nahm Ada den fremden Geruch ihrer Kleidung nach Krankenhauswaschmittel und parfumfreier Seife wahr.

Es war so schwer, sich unter diesem weißen Berg ihren Vater vorzustellen. Wenn sie an Frank König dachte, dachte sie an einen großen, athletischen Mann, der aufrecht und mit selbstsicherem Schritt voranging. Die weißen, halblangen Haare, die ihm etwas Dandyhaftes oder wildes – je nach Tagesform – verliehen, waren stets sein Markenzeichen gewesen. Schon ihre Mutter hatte ihn mit dieser verlängerten Prinz-Eisenherz-Frisur kennengelernt; früher blond, später grau, dann weiß, schneeweiß wie sein Bart, wie der Weihnachtsmann in der Coca-Cola-Werbung, oder wie ein alter König.


Irgendwann kam ein Arzt in den Raum, an der Position bestand kein Zweifel, denn er trug einen weißen Kittel über seinem hellgrünen Gewand. »Hallo, ich bin Dr. Belram, Sie wollten mich sprechen?«, sagte er, während er ihr ein bisschen zu fest die Hand drückte. Dennoch war Ada froh, endlich jemanden vor sich zu haben, der ihre Fragen beantworten konnte.

»Hallo, ich wollte gerne wissen, wie es meinem Vater geht und … was mit ihm passiert ist.«

Der Arzt trat an das Fußende des Bettes, an das ein kleiner Tisch montiert war und blätterte in der darauf liegenden Akte. Er nickte ein paar Mal, übersprang ein paar Seiten und las dann halblaut: »Dislozierte distale Tibiafraktur links, Trümmerfraktur linkes Knie, pertrochantäre Femurfraktur beidseitig, Beckenfraktur links. Schweres stumpfes Bauchtrauma, serielle Rippenfraktur. Fraktur von Unterkiefer, Nasenbein, und Stirnbein. Stabile Fraktur HWK3. Schulterpfannenfraktur links, Trümmerfraktur rechter Ellenbogen. Schweres Schädelhirntrauma mit Contre-Coup und subduralem Hämatom.«

So mechanisch und medizinisch korrekt, wie der Arzt die Zusammenfassung der Verletzungen auflistete, hörten sie sich an wie die Mängelbeschreibung eines maroden Hauses, dessen Preis man drücken wollte. Es klang nicht wie etwas, was durch einen fleißigen Handwerker und ein paar Wochen Zeit repariert werden konnte. Es verlangte nach einer Totalsanierung, oder gleich einem Abriss. Ada verstand nur die Hälfte von dem, was der Arzt gesagt hatte, aber die schiere Menge an Verletzungen und die Wiederholung von »Fraktur, Fraktur« waren niederschmetternd. Sie fragte sich, welcher Teil der Mumie eigentlich noch intakt war. Konnte man das noch als menschliches Leben bezeichnen?

»Ihr Vater …«, der Arzt stockte, schien nach Worten zu suchen. »Hat sehr schwere Verletzungen erlitten. Wir konnten ihn so weit stabilisieren, aber er ist immer noch in einem kritischen Zustand. Wir haben ihn mit Medikamenten sediert, damit sich sein Gehirn erholen kann, aber selbst ohne die Sedierung wäre er nicht bei Bewusstsein. Wir überprüfen ständig den intrakraniellen Druck, das heißt, wir müssen sicherstellen, dass sein Gehirn nicht zu sehr anschwillt. Wenn die Schwellung abgeklungen ist, können wir ihn langsam aufwachen lassen und sehen, wie es ihm geht. Bis dahin sind alle Prognosen reine Spekulation.«

»Aber … ist es möglich, dass er wieder ganz gesund wird?«

»Möglich ist es.«

»Und wahrscheinlich?«

Der Arzt hob die Augenbrauen und wackelte leicht mit dem Kopf hin und her. Dann zuckte er mit den Schultern. In entschuldigendem Tonfall sagte er: »Das kann ich wirklich nicht sagen. Ich hab schon Leute hier rausspazieren sehen, da hatten wir alle Hoffnungen aufgegeben. Und andere sterben, da hätte man es niemals erwartet. Wir müssen abwarten.«

Ada konnte sich denken, was das heißen sollte. Ihr Vater war erst im Frühling 66 Jahre alt geworden. Sicher, er war schlank und sportlich und man hätte ihn ohne Probleme fünf Jahre jünger schätzen können. Aber er war trotzdem kein junger Mann mehr. Vorletzten Winter hatte er sich bei einem Sturz die Hand gebrochen. Bis heute klagte er über Schmerzen, Steifigkeit und Taubheitsgefühl – und das war nur eine kleine Fraktur gewesen. Sie sah zu der Mumie im Bett und schüttelte den Kopf. Ihr war, als würde sich in ihrem Innersten ein schwarzes Loch auftun, ein Mahlstrom, der jedes Gefühl, jeden Hauch von Hoffnung in einen schwarzen Abgrund jenseits dieser Welt zog.

Und wenn ich auch um sein Überleben gefleht hätte?, kroch eine Frage über den Rand des Strudels, doch Ada schluckte sie herunter, bevor sie sich bis zu ihrem Mund hinaufwinden konnte.

»Sie können ruhig bei ihm bleiben und auch mit ihm reden, wenn Sie wollen. Haben Sie keine Angst, sprechen Sie mit ihm, als wäre er wach. Sie müssen nicht schüchtern sein. Falls er sie versteht, wird er sich freuen, und falls er nichts mitbekommt, können Sie auch nichts falsch machen. Es ist immer gut, mit den Patienten so umzugehen, als wären sie wach. Das verhindert auch, dass man über sie spricht, verstehen Sie?«

König und Meister

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