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6. Kapitel

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Am nächsten Tag befand die Morgenvisite Ada für stabil genug, das Krankenhaus zu verlassen. Doch sie hatte kein Ziel, keinen Ort, an den sie sich hätte zurückziehen wollen. Ihre WG in der Agnesstraße stand bis auf ihr eigenes Zimmer leer. Ihre beiden Mitbewohnerinnen waren erst letzte Woche ausgezogen und der Makler führte im Stundentakt neue Interessenten durch die Räume. Unter normalen Umständen war das schon schwer zu ertragen gewesen, doch in ihrer jetzigen Situation schien es ihr unmöglich, dort zu sein. Ada überlegte, welche ihrer Freunde sie anrufen konnte, und erkannte mit Bitterkeit, dass es niemanden gab, dem sie sich selbst zumuten wollte. Sie hatte die letzten fünf Jahre als Projektmanagerin bei verschiedenen Kunden verbracht. Manche Aufträge dauerten Monate, andere nur Wochen. Kaum Zeit, um engere Beziehungen aufzubauen oder Freundschaften zu pflegen. Kurz nach dem Studium war sie noch zu dem ein oder anderen Abendessen, einigen Wohnungseinweihungen und sogar zu zwei Hochzeiten eingeladen worden. Doch da sie fast alle Termine hatte absagen müssen, weil das Projekt in Berlin oder der Abschluss in Zürich ihre Anwesenheit erfordert hatten, wurden die Einladungen weniger und blieben schließlich ganz aus.

Sie kam meist nur am Wochenende in ihre Wohnung – niemals würde sie die winzige WG, in der sie seit ihrer Studentenzeit wohnte, als Zuhause bezeichnen. Deshalb war es ihr auch nie in den Sinn gekommen, ihren Ausweis anpassen und die Adresse eintragen zu lassen, und so war sie immer noch im Haus ihres Vaters gemeldet. Meistens war sie montagmorgens froh, endlich wieder unterwegs zu sein. Die schlechteste Laune überkam sie freitags gegen 16 Uhr, wenn es an der Zeit war, aufzubrechen und sich die fragile Schicksalsgemeinschaft aus Beraterkollegen und Kundenmitarbeitern für die zweieinhalb Tage Wochenende auflöste. Unter der Woche fühlte Ada die integrative Kraft des gemeinsamen Projekts, das Kollegen mit unterschiedlichsten Kompetenzen und Interessen um sich scharte wie ein Elektromagnet, der Eisenteilchen an seinen Feldlinien ausrichtete. Doch am Wochenende stellte jemand den Strom ab und die Eisenspäne drifteten alle in ihre jeweiligen privaten Winkel, bis am Montag das Spiel von Neuem begann. Die Zeit zwischen Freitag und Sonntag ging für all die Erledigungen drauf, die Ada unter der Woche neben den Projekten nicht schaffte und die sich meistens um Wäsche, einkaufen und ihre Mitbewohnerinnen drehten, die der Meinung waren, sie solle ihre Putzpflichten genauso erfüllen wie sie selbst, unabhängig davon, ob Ada auch nur einen Staubkrümel verursacht hatte oder nicht.

Dann war da noch ihr Vater und vielleicht das Bedürfnis nach Ruhe und einer Art Ankommen. Alle paar Samstage verabredete sie sich mit Freunden aus der Studienzeit oder mit Nachbarn zum Tanzen, Brunchen, ins Kino oder zum Essen. Bevor sie dieselbe Person ein zweites Mal sah, konnte leicht ein halbes Jahr vergehen. Keine guten Voraussetzungen für ein belastbares Sozialleben, geschweige denn eine ernsthafte Beziehung oder Familie. Ada war jetzt 29 Jahre alt und fühlte sich immer noch so, als müsse das wahre Leben bald anfangen. Sie hasste den Begriff »biologische Uhr«, aber sie wusste auch, dass die einzige Gruppe Singles, die noch schwerer einen Partner fand, als arbeitslose Männer ohne Schulabschluss, Akademikerfrauen über 30 waren.

Ihr aktueller Lebensstil nagte schon länger an ihr. Unter anderen Umständen wäre das Jobangebot von diesem Mike gar nicht uninteressant gewesen, doch im Augenblick kam ihr der Gedanke an Arbeit vollkommen absurd vor. Das Leben war so kurz, mochte von einer Sekunde auf die andere vorbei sein. Wie konnte man da seine Zeit mit einer Beschäftigung verschwenden, die fremden Menschen diente, vornehmlich anderen Leuten Geld einbrachte und sich selbst nur einen Flickenteppich aus wechselnden Projekten, Aufgaben und Verantwortungen, die ihr im Grunde genommen vollkommen gleichgültig waren und genauso austauschbar wie die immer gleichen Zimmer in den immer gleichen Hotels, in denen sie die Abende ihrer Wochentage verbrachte. Als sie ihren Teamleiter gestern Abend per E-Mail über den Unfall informiert hatte, hatte der ihr alles Gute gewünscht und ihr gesagt, sie solle sich Zeit nehmen, so lange sie brauche, das Projekt würde nicht weglaufen. Sie war von seiner herzlichen Mail so gerührt gewesen, dass sie ihn fast angerufen hätte. Aber was hätte sie sagen sollen? Was hätte er ihr sagen können? Er war ihr Teamleiter und natürlich war er nett, aber im Grunde kannten sie einander kaum.

An wen sollte sie sich also wenden? Die meisten Namen, die in ihrem Kopf auftauchten, waren gut für schöne Abende, für nette Geschichten. Freunde, mit denen man Smalltalk machte und denen man auf die Frage »Wie gehts?«, immer mit »Gut« antwortete. Klar, da waren auch ein paar Freundinnen von früher, mit denen sie sich alle Jubeljahre traf. Aber sie hatten sich mittlerweile zu weit voneinander entfernt, als dass Ada ihnen mit dem Gewicht ihres jetzigen Schicksals zur Last fallen wollte. Vielleicht morgen, vielleicht in einer Woche. Doch im Augenblick hinderte sie eine unerklärliche Scham daran, diese Frauen anzurufen. Ja, sie schämte sich für ihre Schwäche, ihre Verletztheit. Als wäre es ein Makel, den sie selbst zu verantworten hatte und der daher keinem Fremden zuzumuten war. Nur der Familie. Dafür war doch die Familie da, um den Makel aufzunehmen, ihn zu akzeptieren und still hinzunehmen, weil er Teil des Ganzen war, für das niemand allein die Verantwortung trug.

Die Erkenntnis traf sie wie ein Schock: Wäre der Autounfall ihr allein passiert, wäre es ihr Vater gewesen, den sie als Erstes angerufen hätte. Er hätte keine Sekunde gezögert, wäre zu ihr gefahren und hätte ihr beigestanden, und wenn die Schramme noch so klein gewesen wäre. Doch ihren Vater gab es nicht mehr. Sie konnte die Abwesenheit der unsichtbaren Hülle fühlen, die bis gestern noch das wir von denen abgegrenzt hatte. Zum ersten Mal in ihrem Leben fühlte Ada sich ganz und gar allein.


Bis zur neurologischen Intensivstation war es ein langer Marsch, vor allem wenn man wie Ada mit zwei Plastiktüten samt Kleidung, Geldbeutel und Handy unterwegs war, die bei jedem Schritt an die metallischen Beine ihrer Krücken klatschten. Auf dem Weg begegnete sie unzähligen halb versehrten Menschen; Leuten mit verbundenen Gesichtern, mit Bandagen und Pflastern an den unterschiedlichsten Körperteilen. Viele schoben fahrbare Metallständer vor sich her, an denen Infusionen oder Medikamente baumelten, die durch Gummischläuche, die irgendwo in den Gewändern der Patienten verschwanden, in deren Körper eingeleitet wurden. Bei anderen ragten Schrauben oder Stahlschienen aus frisch operierten Wunden. Dazwischen huschten Ärztinnen, Pfleger und Reinigungspersonal durch die Gänge. Und dann gab es Besucher wie Ada, die man daran erkannte, dass sie eigentlich nicht am Ziel ihrer Reise ankommen wollten. Doch so langsam sie auch schlurfte, irgendwann erreichte sie ihren Zielort und blieb vor der undurchsichtigen Milchglastür der neurologischen Intensivstation stehen.

Ada drückte auf die Klingel.

»Ja bitte?«

»Ada König, ich möchte zu meinem Vater.«

»Ja, das dauert jetzt leider ein bisschen. Wir haben heute zwei Notfälle reinbekommen.«

»Kein Problem, ich warte.« Die Tür fiel ins Schloss. Ada ließ sich mithilfe ihrer Krücken auf den weiß lackierten Sitz daneben gleiten.

»Das kann lange dauern«, sagte ein Mann, der auf einem Stuhl zwei Plätze links von ihr saß.

Sie hatte ihn bisher nicht bemerkt, doch nun löste sein Anblick etwas in ihr aus, das sie selbst kaum einordnen konnte. War es Erregung, Furcht, Ekel? Oder hatte sie sich einfach nur erschrocken? Augenblicklich knipste sie ihr herzliches Beraterlächeln an, das sie immer aufsetzte, wenn unzufriedene Kunden oder Mitarbeiter zu ihr kamen, weil sie den Mann nicht spüren lassen wollte, wie abstoßend sie ihn fand – denn er sah aus wie ein verbranntes Stück Fleisch. Oben auf dem Kopf kräuselte sich wie verschmortes Zellophan ein winziges Nest Haare. Der Rest seines Schädels wurde von einer bräunlich verfärbten, narbendurchwachsenen Haut umspannt, die weder Ohren noch eine Nasenspitze kannte. Sein Gesicht war wimpernlos und ohne Augenbrauen. Ada war sich nicht sicher, ob er die Augenlider beim Blinzeln ganz schließen konnte. Ihr war, als starrten die verstörend hellbraunen Augen sie wie glühende Kohlestücke an.

Sie schluckte die Frage, was mit ihm passiert war, hinunter und sagte stattdessen: »Warten Sie schon lange?«

»Die machen erst die Tür auf, wenn die Angehörigen auch bereit für das sind, was sie sehen werden.«

»Wie kommen Sie darauf?«

»Sind Sie sicher, dass Sie wissen, wen Sie besuchen?«

»Natürlich.«

»Aber genau werden Sie einen Menschen niemals kennen. Jeder von uns trägt Geheimnisse in sich.«

»Vielleicht …«

Ada massierte ihr Knie. Die Anwesenheit des Mannes beunruhigte sie. Es war nicht nur das Gesicht, es war die Stimme, die sich anhörte, als habe er zu viele Zähne im Mund. Ada wurde das Gefühl nicht los, ihn schon einmal gesehen zu haben, obwohl sie sich doch sicherlich daran erinnern würde, der Mann sah schließlich zum Fürchten aus.

»Besuchen Sie auch jemanden?«, fragte sie, um das Thema zu wechseln, doch er ging nicht darauf ein.

»Manche Geheimnisse sind harmlos. Andere sind unverzeihlich. Was ist mit Ihnen? Wo haben Sie sich das Knie gestoßen?«

»Ich hatte einen Autounfall.«

»Und deshalb fühlen Sie sich schuldig und besuchen das Unfallopfer hier …«

»Nein, das war ganz anders. Ich hatte überhaupt keine Schuld.«

»Sind Sie sicher?«

Die Tür der Intensivstation öffnete sich und zeigte das Lächeln von Frau Mirovic. »Frau König! Sie können jetzt kommen. Ihr Papa ist fertig.«

Ohne sich zu verabschieden, stand Ada auf und verließ erleichtert den Vorraum.

»Gibt es etwas Neues?«, fragte sie die Schwester.

Frau Mirovic war schon halb im ersten Krankenzimmer verschwunden, hielt sich aber noch an der Türzarge fest, als sie bedauernd den Kopf schüttelte.

»Alles wie gehabt. Aber zumindest nicht schlechter als gestern!«

Ada bedankte sich und humpelte allein zum letzten Zimmer.

Der König lag unverändert in seinem Bett. Es schien, als habe er sich seit ihrem letzten Besuch keinen Millimeter bewegt. Nur das blütenreine Weiß des Kopfverbands ließ darauf schließen, dass man ihn frisch versorgt hatte.

Der mächtige Sog in ihrem Bauch nahm Fahrt auf, drehte sich und bildete Wirbel, die ab und zu in Adas Rachen aufstiegen, doch außer ein paar Tränen blieb er tief in ihr verborgen. Sie setzte sich zwischen Bett und Fenster und betrachtete den vermummten Kopf. Sie hatte nur für sich gefleht, nur für sich. Der unsichtbare Glassplitter verwandelte ihr Herz in Blei.

»Was wolltest du mit mir besprechen?«, flüsterte sie. »Was denn? Warum hast du es nicht erzählt?«

Doch außer dem rhythmischen Rauschen der Beatmungsmaschine bekam sie keine Antwort. Also setzte sie sich wieder auf den Stuhl neben seinem Bett und wartete.

Als vor dem Fenster die Straßenlaternen aufleuchteten und die Leute vermehrt Jacken statt T-Shirts trugen, verabschiedete Ada sich von ihrem Vater. Sie war hungrig und die Pfleger, die immer wieder nach dem Rechten sahen, machten mit ihren zurückhaltenden Bemerkungen klar, dass es zwar keine offizielle Besuchszeit gab, diese aber trotzdem langsam vorbei sei.

Auf dem Weg nach draußen wurde sie von einer jungen Krankenschwester aufgehalten, die ihr eine weitere Plastiktüte mit persönlichen Gegenständen ihres Vaters übergab. Dafür war auf der Intensivstation kein Platz, denn Schließfächer gab es nicht und die Schwestern waren froh, in der Zentrale nicht mehr darauf achtgeben zu müssen. Vor der Milchglastür im Wartebereich untersuchte Ada den Inhalt der neuen Tüte: Ein hellblaues Hemd, eine beigefarbene Cordhose, Socken, Unterwäsche, zwei Lederschuhe, alles zerrissen, aufgeschnitten und blutverschmiert, 1,25 Euro in Münzen, ein Taschentuch und eine Walnuss. Sie fischte die Walnuss heraus und ließ sie auf ihrer Handfläche hin und her rollen. Woher die wohl kam? Wahrscheinlich hatte er sie in seiner Hosentasche gehabt. Im Garten des Vaters stand ein Walnussbaum, der mit den Jahren über alle anderen Bäume hinausgewachsen war und den ihr Vater scherzhaft den Meister nannte, weil er den Garten beherrschte und selbst der König nur dann ein Sonnenbad nehmen konnte, wenn der Meister seinen Schatten noch nicht über den Garten gebreitet hatte. Auch das Haus musste sich seit einigen Jahren mit einem Platz unterhalb des alten Walnussbaums begnügen. Beim Gedanken an das Haus biss Ada fest die Zähne zusammen. Dachte sie daran, stellte sie sich ihren Vater auf der Terrasse sitzend vor mit einem großen Becher Kaffee in der Hand und den Kater Juro auf dem Schoß.

Juro! Er war seit vorgestern allein. Jetzt wusste Ada, was zu tun war.

König und Meister

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