Читать книгу König und Meister - Theresa Hannig - Страница 8

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2. Kapitel

Sie fuhren schweigend zurück. Ada kannte den Weg auswendig, hätte ihn blind selbst fahren können und doch starrte sie mit einer Inbrunst nach draußen, als glühe hinter den Wipfeln der prächtigste Sonnenuntergang und nicht nur eine nullachtfünfzehn Nachmittagssonne mit versprengten Wattewölkchen. Jetzt hatte sie ihre Ruhe, doch es war eine bedrückende Stille. Ihr Vater war wütend, das spürte sie, und in ihr wuchs immer stärker das Bedürfnis, sich zu entschuldigen. Einfach entschuldigen, da ist doch nichts dabei. Dann ist alles wieder gut, dachte die brave Tochter in ihr. Aber nein, sie war es satt, um der Harmonie willen einlenken zu müssen. Sie war es so satt.

Aus der Jackentasche kramte sie ihr Handy hervor und machte ein Video der vorüberjagenden Landschaft.

»Schau mal, da vorn«, sagte ihr Vater.

Sie schwenkte das Handy nach links. Neben der Fahrbahn grasten ein paar Rehe, die wie gleichgeschaltet den Kopf hoben, als das Auto an ihnen vorbeirauschte. Fünf oder sechs mochten es sein. Als Ada wieder nach vorn sah, stand auf der Straße das siebte.

»Ach du …«, zischte ihr Vater, bevor er das Lenkrad ruckartig zur Seite riss und die Welt ins Chaos stürzte.

Der Wagen schoss rechts über die Fahrbahn hinaus, tauchte in die Böschung ab und wurde vom nächsten Baum wie ein Kreisel um die eigene Achse gerissen. Die Wucht des Aufpralls war übermenschlich. Es schien Ada, als würde sich der Druck durch das Metall über den Sitz direkt in ihren Kopf wühlen. Die Gewalt, mit der sie in den Gurt geworfen und herumgeschleudert wurde, war so überwältigend, dass ihr Innerstes durch die Poren der Haut nach außen gepresst zu werden schien. Instinktiv spannte Ada alle Muskeln an, um nicht zerfetzt zu werden. Die Zeit dehnte sich auf schreckliche, unaufhaltsame Art und wurde gleichzeitig auf einen winzigen Punkt komprimiert, der nur in ihrem Bewusstsein existierte. In diesem unendlichen Stillstand durchflutete sie ein Gefühl, das sie nur aus den fiebrigsten Albträumen ihrer Kindheit kannte und das eine grässliche eisige Lähmung erzeugte, die ihren Atem und alle Lebenskraft aufsaugte. So fühlte sich das Grauen an. Sie wusste genau, was geschah. Wir haben einen Autounfall. Jetzt gerade. Ada dachte an Bäume, Äste, einen Wald aus hölzernen Speeren, die sie durchbohren würden. Und sie wusste, dass es jeden Augenblick vorbei sein konnte. Doch selbst den größten Schrecken wollte sie haben, wollte ihn greifen, jede Sekunde ihres Lebens so lange wie möglich auskosten – sich das schlagartige Ende vorzustellen, war unerträglich. Sie wollte leben. Leben, sonst nichts. Es war ihr egal, was mit ihrem Vater geschah, solange sie nur leben durfte.

»Bitte«, flehte sie, »Ich will noch nicht sterben. Lass mich leben. Nur mich, nur mich, nur mich.«

Dann krachte der Wagen in den nächsten Stamm und löschte alles aus.


Sie musste das Bewusstsein verloren haben, denn als sie wagte, die Augen wieder zu öffnen, stand das Auto still. Vor ihr klickte der Warnblinker, von links hörte sie gurgelndes Keuchen. Ihr Vater hing über dem Lenkrad, den blutverschmierten Airbag wie ein zerwühltes Laken unter sich. Mit jedem Atemzug sprudelten Speichel und Blut aus den Öffnungen seines Gesichts, das sie hinter dem Gewirr seiner Haare nicht erkennen konnte. Feine rote Bläschen zerplatzten dazwischen. Ein Bild aus der Hölle.

Bitte hör auf, dachte Ada. Sie konnte den Anblick des blutigen Schaums nicht ertragen. Bitte hör auf zu atmen, dann ist alles vorbei.

Doch stattdessen klopfte jemand an ihr Fenster. Reflexartig nickte sie: jaja, alles okay. Ich lebe noch.

Nahtlos ergriff die Zivilisation von ihr Besitz, denn es bereitete ihr Unbehagen, dass sich die Fremden um sie herum unnötig Sorgen machen würden, wo doch jetzt alles in Ordnung schien – sie war doch mit dem Leben davongekommen!

Ada blickte an sich herab. Weißer Glitzerstaub aus Glas bedeckte ihre Kleidung, ihre Hände, sicher auch die Haare. Ein dumpfer Körperschmerz pochte im Hintergrund, als würde er sich darauf vorbereiten, bald ihr ganzes Bewusstsein einzunehmen. An ihrem linken Knie sah sie einen blutigen Riss. Dort hatte sich ein Teil der Mittelkonsole ins Fleisch versenkt. Sie wagte kaum, das Bein zu bewegen, weil sie nicht wusste, wie tief die Wunde war. Nicht den Schmerz fürchtete sie, sondern den Anblick. Wenn sie jetzt aufstand, war es durchaus möglich, dass sie ihr Bein unter dem immer tiefer klaffenden Spalt im Auto zurücklassen würde. Doch die Verletzung stellte sich als kleiner heraus, als befürchtet, das Bein war nicht abgetrennt, auch die anderen Körperteile waren noch da, wo sie hingehörten.

Mit zittrigen Fingern schnallte sie sich ab, während von draußen immer mehr Leute versuchten, mit bloßen Händen die Beifahrertür herauszureißen. Plötzlich kamen Ada Bilder von Fahrzeugexplosionen in den Sinn. Was, wenn das Auto Feuer fing, was, wenn sie hier bei lebendigem Leib verbrennen würde? Von Panik erfasst zwängte sie sich durch die geborstene Seitenscheibe, wo helfende Hände sie ergriffen, damit sie nicht zu Boden fiel. Jemand stützte sie beim Gehen und setzte sie an den Straßenrand. Viele besorgte Gesichter. Ein paar Arme um ihre Schulter. Im Hintergrund hörte sie die Schreie anderer Menschen, als sie versuchten, ihren Vater zwischen Fahrersitz und Lenkrad herauszuwühlen.

Erst jetzt erkannte sie in dem verformten Wrack den Wagen, der vollkommen in sich zusammengeknüllt und unförmig, wie weggeworfenes Bonbonpapier, halb um den Stamm einer Tanne gefaltet war. Darunter ragten die Äste kleinerer umgeknickter Bäume hervor. Ein paar Meter weiter rechts krümmte sich ein Baum, als hätte ein Raubtier mit seiner Pranke eine tiefe Wunde in den Stamm gerissen. Von dem Mann fehlte jede Spur. Nein, korrigierte Ada ihre Gedanken. Es war kein Mann, der auf der Straße gestanden hatte. Es war ein Reh.

Wie geisterhaftes Hintergrundrauschen nahm sie die Menschen wahr, die sich um den Unfallort versammelt hatten. Gesichter von Leuten, die selbst nicht wussten, ob sie mehr Gaffer oder mehr Helfer waren: freundliche Augen, lächelnde Münder, aber auch Wangen, die vor Aufregung rot leuchteten. Ada registrierte, dass einige versuchten, mit ihr zu sprechen. Sie bewegten ihre Lippen und sahen auch sonst sehr nett und hilfsbereit aus, doch aus irgendeinem Grund konnte sie ihre Worte nicht verstehen. Vielleicht stehe ich unter Schock, dachte sie, und wunderte sich gleichzeitig, wie distanziert und unbeteiligt sich dieser Gedanke anfühlte.


Ohne zu wissen, wie und warum saß sie plötzlich in einem Notarztwagen. War sie wieder ohnmächtig geworden? Zwei Sanitäter untersuchten sie, sprachen zu ihr mit ruhigen, wohlwollenden Stimmen, doch die Worte drangen nicht zu ihr durch. Nur »gut« immer wieder »gut«, das sagten sie. Ihr Knie wurde versorgt, und sie bekam eine Infusion, die augenblicklich schwere Müdigkeit über sie breitete. Doch die breiige Dunkelheit, die sie umhüllte, war nicht dicht genug, um das Martinshorn auszublenden, das direkt neben ihr aufheulte und sich mit knirschenden Reifen und lautem Motorenkeuchen entfernte. Das Reh werden sie nicht so abtransportieren, dachte Ada. Dann war es ihr Vater. Er lebt noch!, war der letzte Einfall, bevor sie endlich nichts mehr dachte.

König und Meister

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