Читать книгу König und Meister - Theresa Hannig - Страница 7
1. Kapitel
ОглавлениеAda zwickte sich in die empfindliche Haut ihres Unterarms, um nicht einzuschlafen. Es war wie ein Reflex: Kaum lehnte sie sich in das weiche Polster des Beifahrersitzes, atmete den unverwechselbaren Geruch von Leder und frisch gesaugter Fußmatte ein und lauschte den unablässigen Reden ihres Vaters, wollte ihr Geist abschalten. Für die nächsten dreißig, vierzig Minuten gab es nichts anderes zu tun, als zuzuhören und ab und zu ein »hm« oder »aha« vor sich hinzubrummen. Nicht einmal ein Nicken war vonnöten, denn ihr Vater widmete seine Aufmerksamkeit gewissenhaft der Straße und sah nur selten zu ihr herüber. Umso verlockender war der Gedanke, kurz die Augen zu schließen und wegzudösen. Ein Teil ihres Bewusstseins sank langsam tiefer in warme Abgründe, ließ hyperrealistische Traumbilder an ihr vorbeiziehen, die wundersame Abenteuer versprachen. Doch es blieb bei dem Versprechen, denn der wohlerzogene Teil in ihr mahnte sie: Es ist unhöflich, einzuschlafen, wenn dein Vater mit dir redet!
Wie sie diesen Brave-Tochter-Modus hasste! Also fingerte sie am Radio herum und suchte nach einem Sender, der etwas anderes als Werbung brachte. Adas Vater schien nur kurz irritiert und sprach dann weiter, als wäre nichts geschehen. Sie versuchte, ihre Konzentration auf den Liedtext zu richten, vergeblich.
»Und dabei hätte ich ihm das Land schon vor zehn Jahren abgekauft. Aber nein, mir wollte er es ja nicht überlassen. Wahrscheinlich, weil ich seiner Tochter damals keine besseren Noten gegeben habe. Hat mich immer wieder beschimpft, ich sei ein arroganter Pinkel, einer, der sich für was Besseres hält. Pah! Dabei war er es doch, der seine Tochter gegen jede Vernunft aufs Gymnasium schicken wollte. Und ich soll dann Schuld sein, wenn sie versagt. Was jetzt passiert, ist ja klar. Die wollen sicher einen Dreispänner hinbauen oder ein Hochhaus oder was weiß ich. Da kann man sich ja denken, was da für Leute einziehen. Dann ist es aus mit der Ruhe. Aber das kriegen die nicht durch. Ich habe schon einen Termin bei der Bürgermeisterin!«
Ada änderte ihre Sitzposition und richtete sich auf, um die Müdigkeit zu bekämpfen. Dabei streifte ihr Blick die Handtasche, die sie zwischen ihren Beinen im Fußraum deponiert hatte.
»Ach Papa, ich habe dir noch etwas mitgebracht«, sagte sie, glücklich darüber, das Thema wechseln zu können. »Hier, Pralinen vom Dallmayr. Die magst du doch so gerne.«
»Ja, Danke sehr. Tu sie am besten gleich ins Handschuhfach.«
Sie öffnete die Klappe vor sich, doch das Fach war bereits voll. In zwei durchsichtigen Zellophan-Tüten lagen eng aneinandergequetscht Dallmayr-Pralinen, dem Aussehen nach schon mehrmals geschmolzen und wieder hart geworden.
»Sag mir halt, wenn du keine Pralinen mehr magst«, knurrte sie und warf die Klappe zu.
»Nicht so feste, sonst geht der Verschluss kaputt«, ermahnte sie ihr Vater und begann gleich wieder über die Familie zu schimpfen, die auf dem Nachbargrundstück ein Haus bauen wollte.
Ada stopfte die Pralinen zurück in ihre Handtasche und verschränkte die Arme. Wäre sie doch einfach zu Hause geblieben. Die Wäsche wartete und ein Tag Ruhe wäre auch nicht schlecht gewesen.
Zu allem Überfluss hatte Adas Vater die Angewohnheit, immer langsamer zu fahren, je aufgewühlter er war. So würde es noch länger dauern, bis sie am Restaurant ankamen. Ada versuchte, mit ihrem Handy zu überprüfen, ob der Laden an diesem Sonntag auch wirklich geöffnet hatte. Nicht dass ausgerechnet heute der Wirt krank war oder eine geschlossene Gesellschaft den Schankraum besetzte, und sie am Ende den ganzen Weg hungrig wieder nach Hause fahren mussten. Aber sie hatte kein Netz, von wegen Internet an jeder Milchkanne.
Noch konnte sie sich zusammenreißen, doch je größer ihr Hunger wurde, desto ungeduldiger würde sie werden und das führte beim Redebedürfnis ihres Vaters über kurz oder lang zu Streit.
»Essen spielt in deinem Leben eine viel zu große Rolle«, hatte ihre Mutter Karin erst kürzlich zu Ada gesagt. »Versuch, dir im Alltag andere Belohnungen anzugewöhnen, als immer nur zu essen. Du siehst ja, wohin das führt. Geh lieber spazieren oder zum Yoga. Dafür hat wirklich jeder Zeit.«
Ada seufzte. Dann schon lieber essen gehen mit ihrem Vater.
Sie hatten Glück. Auf dem Parkplatz vom Huberwirt standen vier Fahrzeuge. Ein untrügliches Zeichen dafür, dass die Küche geöffnet hatte. Es war schon fast zu einem Ritual geworden: Wenn Ada ihren Vater besuchte und sie wichtige Dinge zu besprechen hatten, fuhren sie zuerst gemeinsam zum Huberwirt, tranken ein dunkles Bier, aßen jeder eine Portion Pfannkuchensuppe und danach Wiener Schnitzel mit Pommes, natürlich mit Bratensoße. Wer Pommes ohne Bratensoße aß, war nach Ansicht von Adas Vater ein rückständiger Barbar.
Als sie die schwere Tür zum Schankraum aufdrückte, quoll Ada der vertraute Duft nach Bier, Bratfett und heißem Kachelofen entgegen. Obwohl der Sommer draußen nicht zu Ende gehen wollte, war die Gastwirtschaft schon auf gemütliches Herbstwetter eingestellt. Denn je mehr die Gäste schwitzten, desto mehr tranken sie. Ada hatte nichts dagegen einzuwenden. Sie liebte die Hitze.
Kaum hatten sie an einem Tisch Platz genommen, erschien eine überaus füllige Bedienung in einem schwarzen Dienstdirndl von beeindruckenden Ausmaßen. Sie lächelte Ada herzlich an und begrüßte ihren Vater mit einem schelmischen Nicken.
»Ja, da schau her, der König gibt sich die Ehre. Wie geht’s, wie steht’s?«
»Gut. Danke. Viel zu tun.«
»Ach ja, so ist des immer bei den Rentnern. Kaum haben sie nichts mehr zum Arbeiten, geht der Stress schon los.«
»Ganz genau«, pflichtete er ihr ohne die geringste Spur von Ironie bei.
»Machen wir das Gleiche wie immer?«
»Ja, wie immer. Oder, Ada?«
Sie nickte, woraufhin die Bedienung das Bestellblöckchen in das Lederhalfter an ihrer Hüfte gleiten ließ und auf die Bierzapfanlage zusteuerte. Fasziniert blickte Ada ihr hinterher. Sie konnte die Füße nicht sehen und hätte schwören können, die Frau bewege sich auf Schienen, so elegant und zielstrebig glitt sie durch den Raum.
»Starr nicht so, Ada«, wies ihr Vater sie in wohlkalkulierter Lautstärke zurecht.
Er war ein Meister der Dosierung seiner Stimme. Das musste sie ihm lassen. Dass er auch in vielen anderen Dingen ein Meister war, glaubte oft nur er selbst. Wie selbstverständlich nahm er zur Kenntnis, dass ihn die Leute nur König, anstatt Herr König nannten. Als Ada klein gewesen war, hatte sie deshalb geglaubt, dass sie eine echte Prinzessin sei. Verbissen hatte sie sich gegen die Kinder aus dem Dorf gewehrt, die ihre adelige Abstammung bezweifelten. Nur Josef, der Nachbarsjunge von gegenüber, hatte ihr geglaubt und sie gegen die anderen verteidigt. Aber eines Tages hatte Adas Mutter die beiden beim Spiel beobachtet und mitangehört, wie Ada Josef hierhin und dorthin schickte, ihn Spielzeug und Obstschnitzer holen ließ, immer mit der Begründung, sie würde ja eines Tages Königin werden und er wie sein Vater nur Maurer. Da hatte ihre Mutter sich vor Josef hingekniet und ihm mit allem Ernst der Welt erklärt: »Glaub nicht jeden Mist, den Ada dir erzählt. Sie ist keine Prinzessin. Nur ein ganz normales Mädchen.« Ada hatte sich schrecklich geschämt und lange Zeit nicht mehr mit ihm spielen wollen. Aber irgendwann hatte er gesagt, es sei ihm egal, ob sie eine echte Prinzessin sei oder nicht und von ihm aus könne sie gerne auch Maurerin werden. Von da an hatten sie wieder gemeinsam gespielt. Sie hatten als Waisenkinder in den Bäumen gelebt, als Piraten Dämme in den Nebenarmen der Peining gebaut und im Gebüsch ihr Räuberlager aufgeschlagen.
»Ada. Ada, was ist nur mit dir?« Ihr Vater holte sie aus ihren Gedanken. »Es ist mir ein Rätsel, wie du in der Arbeit zurechtkommst, wenn du immer so verträumt bist. Hast du mir überhaupt zugehört?«
»Ja, klar. Du hast schon wieder über die Nachbarn geschimpft.«
»Ich schimpfe gar nicht. Ich will dir einfach nur einen Überblick über die Situation verschaffen.«
»Okay. Das hast du die ganze Fahrt über gemacht. Du hast doch vorhin gesagt, dass du etwas Wichtiges mit mir zu besprechen hast. Also, was ist denn so wichtig? Bist du krank?«
»Nein.« Er drehte sich um, doch die Leute an den anderen Tischen schienen ihn nicht zu beachten.
Ada wusste, dass ihn das nervös machte, denn er war es gewohnt, immer die ganze Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Berufskrankheit der Lehrer, dachte Ada. Er selbst hatte wenige Tage vor seiner Pensionierung zu ihr gesagt: »Weißt du, wovor ich mich fürchte? Davor, dass ich keine Macht mehr habe.« Sie hatte gelacht, doch schon bald war ihr bewusst geworden, wie ernst er es gemeint hatte. Natürlich hatte er Macht gehabt: erst über das Leben der Schüler, jedes Jahr wieder von Neuem. Und dann, seit er im Rektorat gewesen war, die Macht über die anderen Lehrer. Ada hatte sich bis dahin kaum mehr Gedanken über seinen Arbeitsalltag gemacht. Sie war vorangekommen: Schule, Uni, Beruf. Und er war in der vierjährigen Endlosschleife der Grundschule gefangen gewesen. Irgendwie deprimierend. Aber das hatte sie ihm nicht gesagt.
Solange sie klein gewesen war, hatte sie es genossen, vier Jahre lang mit ihm zusammen zur Schule fahren zu können. Sie hatte sich wie ein Star gefühlt, war das Kind des Königs gewesen. Sie wusste, dass kein Lehrer es wagen würde, sie ungerecht zu behandeln – zu ihren Ungunsten. Und dass kein Schüler ihr etwas zuleide tun würde, solange der König über seine Noten urteilte. So hatte sie die Grundschule in einer Blase aus Sicherheit und Leichtigkeit hinter sich gebracht, die bereits am zweiten Tag auf dem Gymnasium zerplatzt war. Ein Kind hatte sie angerempelt, ein anderes war auf ihre Brotzeitdose getreten. Und keiner hatte ihr geholfen. Keiner hatte gesagt: Lasst sie in Ruhe, sie ist doch die Tochter vom König! Nein, niemanden hatte es interessiert. Da hatte sie erkannt, wie klein sein Königreich gewesen war. Er aber wusste es bis heute nicht. Für ihn war er immer noch das Zentrum der Welt.
Das Bier kam und sie stießen an. Ada trank durstig das halbe Glas leer, ihr Vater nippte nur vorsichtig und wischte sich danach den Schaum aus seinem weißen Bart. Er hatte ihn erst heute Morgen frisch geschnitten.
»Gut, du bist nicht krank. Ein Glück!«, sagte Ada und fühlte sich gleich ein bisschen wohler. Ihr Vater wurde alt und es war nur eine Frage der Zeit, bis er gebrechlich und krank werden würde. Doch dieser Tag war nicht heute. Nicht heute. Mit einem Lächeln legte sie ihre Hand auf seine. »Was ist es dann?«
»Ich komme schon noch dazu. Lass mich dir doch erst mal in Ruhe ein paar Dinge erklären. Also, das Grundstück rechts neben uns …«
Es ging wieder los. Ada stellte ihren Blick in die Unendlichkeit und beobachtete, wie das Gesicht ihres Vaters immer weiter im Raum verschwand, obwohl es unbeweglich an der gleichen Stelle verharrte. Er redete unablässig von den Nachbarn, vom Grundstück rechts neben seinem, von dem Bauantrag, von den zu erwartenden Bauarbeiten. Vom Lärm, von den Baufahrzeugen, die die Straße versperren würden. Davon, dass sie sicherlich wegen der Bäume Ärger machen würden, obwohl doch jeder wusste, dass er seine Bäume nur fällte, wenn er es für richtig hielt. Und den Meister würde er unter keinen Umständen fällen. Dass die Nachbarn die schöne Natur gar nicht zu würdigen wüssten und die Ruhe zerstören würden. Wie dumm die Bauherren sein müssten, weil sie sicher einen nassen Keller bekommen würden, wenn sie unten am Hang neben dem Lauf der Peining bauen würden, und dass das Ganze sowieso nur genehmigt worden sei, weil die Dorfgrenze verschoben worden war. Und überhaupt: Es sei eine Schande, wie die Bauvorschriften und die geltungssüchtigen Lokalpolitiker sich in die Privatsphäre der Bürger einmischten. Politiker seien das Letzte, unfähig und korrupt, allesamt.
Noch ehe die Suppe kam, hatte der König bereits die gesamte politische Elite Deutschlands, Frankreichs und der USA als unfähig entlarvt, das System der Demokratie für gescheitert erklärt und ihm den baldigen Untergang prophezeit.
Ada hörte all dies und hörte es doch nicht. Es waren die immer gleichen Themen, die immer gleiche leichte Überheblichkeit gepaart mit wachsender Bitterkeit, die ihr Unbehagen bereitete. Früher hatte sie sich gerne mit ihm unterhalten, das heißt, sie hatte gerne seinen Vorträgen gelauscht, die sich über scheinbar jedes beliebige Thema erstrecken konnten. Im Studium hatte die Fassade erste Risse bekommen. Ada hatte ihren Vater immer wieder dabei ertappt, dass er Fehler machte. Er behauptete Dinge, von denen er offensichtlich keine Ahnung hatte, und drehte die Gewichtung der Fakten so, dass sie in seine Argumentation passte, oder er stellte die Datenbasis als Ganzes infrage. Wenn sie ihn auf die Fehler hinwies, wurde er entweder wütend oder herablassend. Niemals ließ er sich von seiner Meinung abbringen. Zu dieser Zeit hatte Ada viele Kämpfe mit ihm ausgefochten und keinen von ihnen gewonnen. Meist war sie irgendwann wutentbrannt nach Hause gefahren, hatte allein im Auto die Diskussion mit ihrem imaginären Gesprächspartner weitergeführt und ihm all die Argumente, Flüche und Beschimpfungen entgegengebrüllt, die ihr in der echten Auseinandersetzung nicht eingefallen oder nicht angemessen erschienen waren. Und meist hatte sie dann, kaum zu Hause, bei ihm angerufen und Frieden geschlossen, was sich wie eine weitere Niederlage angefühlt hatte.
Irgendwann hatte sie eingesehen, dass es keinen Sinn hatte. Sie konnte ihm bei jedem Satz widersprechen, oder es einfach sein lassen. Nichts würde sich für ihn ändern, sich selbst ersparte sie aber eine Menge Ärger. Der Preis war ihr Respekt für ihn. Sie konnte seinen ewigen Redeschwall nur ertragen, wenn sie ihn nicht mehr ernst nahm. Sie wusste nicht, ob er sich dessen bewusst war. Zumindest schien es ihn nicht zu stören. Also hielt sie sich raus. Nur manchmal versagte die Strategie und sie ließ sich doch wieder in eine dieser sinnlosen Diskussionen verwickeln.
Als sie ihr Schnitzel, die Pommes und den kleinen Beilagensalat bis zum letzten Tropfen Soße verspeist hatte, hatte er gerade mal das zweite Stück Fleisch auf der Gabel, die jedoch verwaist auf dem Teller lag, weil er beide Hände zum Argumentieren benötigte.
»Und dann verkaufen die im Rewe die Milch für unter einem Euro, stell dir das vor!«
»Dann kauf doch woanders«, erwiderte Ada schwach. Sie freute sich schon darauf, auf dem Sofa im Wohnzimmer ein Nickerchen zu machen.
»Nein, nein, ich bin ja nur der Kunde. Selbstverständlich kaufe ich da, wo es am billigsten ist. Das machen alle anderen ja auch so. Warum sollte ich für das gleiche Produkt mehr Geld zahlen?«
»Dann kauf bio. Dann hast du ein anderes Produkt.«
»Ach, Ada. Lass dich doch nicht für dumm verkaufen. Bio ist doch alles Betrug. Der Rewe soll die Milch zu anständigen Preisen von den Bauern kaufen. Sonst verlieren die ihre Existenzgrundlage. Und dann können sie den Preis ja teurer machen. Und dann kaufen es die Leute auch, weil sie keine Alternative haben.«
»Wenn du das Problem erkannt hast, dann handle doch entsprechend und mach da nicht mit. Es gibt auch Läden, in denen die Milch teurer ist.«
»Ja, aber das stecken ja die Verkäufer ein, diese Verbrecher. Nein, ich als Verbraucher habe von allen am wenigsten Geld, ich kaufe da, wo es am billigsten ist.«
Ada presste die Lippen aufeinander. Alles, was sie jetzt sagen wollte, würde nur zu Streit führen. Um sich abzulenken, ging sie in Gedanken die Einkaufsliste für ihre Wohnung durch. Sie brauchte noch Brot, Glasreiniger, Marmelade und … Milch!
»Warum sagst du eigentlich nie was?«
Die darauffolgende Stille riss sie aus ihren Gedanken.
»Was?«
»Du bist immer so stumm, hast du denn gar keine Meinung zu dem Ganzen?«
»Doch, aber du willst sie ja nicht hören.«
»Stimmt nicht. Ich rede ja nur, weil du nichts sagst. So ist das mit allen. Alle schweigen immer. Niemand hat was zu sagen, niemand hat eine Meinung. Und am Ende bin immer ich der, der alle unterhalten muss.«
»Papa, du musst niemanden unterhalten. Es ist auch überhaupt nicht schlimm, wenn eine Minute mal keiner von uns was sagt.«
»Aber dafür sind wir doch hier, um zu reden.«
»Ja, wenn wir uns was zu sagen haben, nicht, um soziale Geräusche zu machen.« Innerlich fluchte Ada. Sie hatte es schon wieder getan. Sie hatte die Gleichgültigkeit aufgegeben und ihm widersprochen. Jetzt würde alles noch länger dauern.
»Warum bist du auf einmal so giftig? Wir gehen zusammen essen, haben eine gute Zeit und dann kommt aus dem Nichts so eine saublöde Bemerkung. Das machen Frauen immer. Aus irgendeinem Grund müsst ihr dauernd sticheln. Immer das Haar in der Suppe finden.«
»Papa, ich stichel gar nicht. Im Gegenteil. Ich hatte echt eine mega anstrengende Woche und hätte jetzt am liebsten einfach nur meine Ruhe. Du warst derjenige, der unbedingt irgendwas Wichtiges mit mir besprechen wollte, und hier bin ich. Aber anstatt zum Punkt zu kommen, redest du nur wieder von den Nachbarn, von den Politikern und dem blöden Rewe. Das nervt.«
»Gut. Dann fahren wir jetzt nach Hause. Ich will das nicht in der Öffentlichkeit thematisieren.«
»Aber ich dachte, deswegen wären wir hier.«
»Nein, wir sind hier, um schön essen zu gehen, aber mit dir kann ich das mittlerweile ja wohl vergessen. Zahlen, bitte!«
Er konnte schlimmer schmollen als ein vierjähriges Kind. Und er war nachtragend. Wer es sich einmal so richtig mit ihm verscherzt hatte, konnte in diesem Leben nicht auf Rehabilitierung hoffen. Es gab in Peining einen Bauern, einen Friseur und die Mesnerin Kreutner, die ein solches Schicksal ereilt hatte. Mit ihnen hatte der König gebrochen und sie konnten von Glück sagen, dass er nicht die Macht besaß, sie hinrichten zu lassen. Beim Düngen seiner Wiese hatte der Bauer einmal versehentlich den Apfelbaum des Königs mit Odel bespritzt. Das war nicht das Problem gewesen, sondern seine Weigerung, für die Entschuldigung vom Traktor abzusteigen. Das hatte Adas Vater so rasend gemacht, dass er aus dem Männergesangsverein ausgetreten war, dessen Chorleiter der Bauer gewesen war. Der Friseur hatte den König stets zu unsanft gekämmt, was seine sensiblen Haarwurzeln nur schlecht vertragen hatten. Einmal im Monat war Adas Vater zum Haar- und Bartschneiden zu ihm gegangen und jedes Mal hatte ihn im Anschluss ein Haarwurzelkatarrh geplagt. Als er den Friseur endlich auf dessen Unzulänglichkeit hingewiesen hatte, hatte dieser das Ganze mit einem Schulterzucken abgetan und dem König eine unmännliche Überempfindlichkeit attestiert. Adas Vater war mit frisch eingeschäumtem Haar aufgestanden und hatte den Friseurladen seither nie wieder betreten. Er ließ sich die Haare nun bei einem Spezialisten in München schneiden, der zwar ein Vermögen verlangte, dafür aber die Haare mit einer Vorsicht kämmte, als hinge sein Leben davon ab. Was die Dame von der Kirche verbrochen hatte, war aus Adas Vater nicht herauszukriegen. Doch wenn er sie im Dorf sah, wechselte er sofort die Straßenseite.