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Edgar zog ein blaues Schulheft aus dem Kuvert. Es sah abgegriffen aus. Er setzte die Lesebrille auf. Die erste Seite war vollgeschrieben. Perfekte Buchstaben in dunkelblauer Tinte. War das eine Schrift, die sichergehen wollte, dass jedes Wort lesbar war? An manchen Stellen war sie leicht verwischt. Und waren das hier Tropfen, Tränen vielleicht?

Wieder das Rumpeln in Edgars Brust, gefolgt von einem Stich. Das war ein schlechtes Zeichen. – „Sollten Sie sich unwohl fühlen, kontaktieren Sie sofort einen Arzt, Herr Brehm“, hatte man ihm eingebläut.

Er schluckte. Nein, er konnte Chanel auf keinen Fall wegschicken. Dafür brauchte er den Inhalt des Kuverts zu dringend.

„Lesen Sie und sagen Sie mir bitte, was Sie davon halten.“

4. April 2015

Ich weiß nicht, wie ich anfangen soll. Liebes Tagebuch, ich schreibe das hier … warum? Weil ich es einfach schreiben muss? Weil ich irgendwo loswerden muss, was passiert ist? Damit ich vielleicht endlich wieder schlafen kann? Nicht durchdrehe? Eine Lösung finde? Einen Job?

Das letzte Mal, als ich Tagebuch geschrieben habe, war ich zwölf. Zwölf! Und so unsagbar in den Johannes aus der Parallelklasse verliebt, weil ich – als Einzige meiner Freundinnen – fand, er sah aus wie Keanu Reeves. Er wollte nichts von mir wissen, also habe ich das Tagebuch seitenweise mit meinen Träumereien gefüllt, ihm Liebesbriefe geschrieben. Bis ich mitbekommen habe, wie er sich über einen dicken Jungen aus der ersten Klasse lustig macht. Da war meine Liebe nicht nur dahin, ich bin wütend zu ihm gegangen und hab ihm gesagt, dass er ein Idiot ist und sein Aussehen ihm nicht das Recht gibt, über irgendwen Witze zu machen. Ich glaube, er hat kein Wort verstanden, was ich damals gesagt habe. Aber ich habe mich gefühlt wie Jeanne d’Arc, und meine Mutter war stolz auf mich, als ich es ihr erzählt habe. Ich wünschte, ich könnte das jetzt wieder tun – eine Jeanne d’Arc sein. Aber das kann ich nicht. Dass ich diese Zeilen gerade schreibe, ist der Beweis dafür.

Edgar sah über den Brillenrand hoch. Was rauschte denn da?

„Schon fertig?“, fragte Chanel.

„Noch nicht.“

Kam das aus den Rohren? Dieses Geräusch hatte er noch nie gehört. Es wurde lauter.

„Woher kommt das?“

Es war mehr eine Frage an sich selbst als an sie.

„Was?“

„Dieses Rauschen.“

„Welches Rauschen? Ich höre nichts.“

Die Erkenntnis, dass es nicht aus seinem Büro, sondern aus seinem Körper kam, sickerte so langsam in seinen Kopf, als wäre sie aus Schlamm. Nicht schon wieder. Nicht jetzt.

Er klopfte sich aufs Ohr. Unverändert.

„Tinnitus?“, fragte sie.

„Wahrscheinlich. Und Sie wissen nicht, wer das geschrieben hat? Gar keine Ahnung?“, fragte Edgar rasch.

„Nicht die geringste. Glauben Sie mir, sonst wäre ich nicht hier.“ Ihr Lachen klang gequält. „Alles, was ich weiß, ist, dass es laut dem Datum vor vier Jahren verfasst wurde und vor zwei Wochen in unserem Briefkasten steckte.“

Edgar musste sich konzentrieren. Wenn er das hier gelesen hatte, konnte er mit ihr unter irgendeinem Vorwand einen neuen Termin vereinbaren.

Wenn ich die Augen schließe, bin ich wieder dort. In dem Raum mit den heruntergezogenen Jalousien. Und ich höre das rhythmische Trommeln des Regens auf dem Metalldach. Es klang hübsch, fast wie eine Melodie. Und ich sehe dich. Wie du an dem Metalltisch in der Mitte des Raums lehnst, der mich im ersten Moment an einen Operationssaal erinnert hat. Sonst gab es nur unsere vier Stühle. Die drei anderen und ich saßen im Halbkreis, als wäre das eine Therapiegruppe.

Du warst gar nicht mein Typ. Ende vierzig, wirre Locken, Dreitagebart, weißes, gestärktes Hemd, das um den Bauch leicht spannte. Die offenen Knöpfe zeigten ein wenig dunkles Brusthaar. Am Handgelenk blitzte deine goldene Uhr, eine Rolex? Deine schwarze Anzughose hatte diesen leichten Schimmer teurer Stoffe. Dein Sakko lag auf dem Tisch, als wäre es ein Patient, der auf den Anästhesisten wartet. Herr Doktor, ich hätte auch gerne einen Zug vom Lachgas. Waren es der Alkohol, die High-Society-Drogen oder schlichtweg das Leben, das mehr Falten in deinem Gesicht hinterlassen hatte, als zu deinem Alter passten? Aber spielt das bei Männern wie dir überhaupt eine Rolle? Ich weiß noch, wie ich dachte, du kommst mir so bekannt vor. Nicht von den Bildern aus der Presse. Nein, ich musste dich schon mal irgendwo getroffen haben. Du hast uns nacheinander angesehen. Von oben bis unten wanderten deine Augen, als würdest du etwas an uns suchen. Warst du vielleicht einmal Gast im Hotel? Nein, das wäre mir im Gedächtnis geblieben, weil jemand wie du sich nur in diese schäbige Absteige verirrt haben konnte. Solche Männer passten in die Lobby des Hilton oder des Hotel Sacher. Das dachte ich, und dann, ich weiß nicht mehr weswegen, bemerkte ich deine Schuhe.

Diese wunderbar ausgelatschten, schmutzigen, bereits in die Jahre gekommenen graublauen Nike-Sneaker. Keine Ahnung, wieso so banale Schuhe plötzlich etwas ändern können. Aber es machte dich von „Nicht-mein-Typ“ zu „Doch-mein-Typ“. Es gefiel mir, dass du zwischen all diesem Glamour und Protz solche Schuhe trugst. Als wäre das etwas Vertrautes, ein versteckter, dezenter Hinweis auf deinen Charakter. Ein geliebtes Überbleibsel aus der Zeit, bevor du dir alles leisten konntest, wovon du früher nur geträumt hast.

„Bitte, erzählen Sie etwas über sich“, hast du die hübsche Dunkelhaarige neben mir aufgefordert. Sie sah aus wie Schneewittchen, Haare so schwarz wie Ebenholz, Haut so weiß wie Schnee, Lippen so rot wie Blut. Nach ihr war die Rothaarige dran, mit der wallenden Mähne und einem so glänzenden Teint, als wäre sie eine Porzellanpuppe. Aus der Sonderedition mit blitzblauen Augen und Sommersprossen. Sie wirkte völlig entspannt. Mit einem leichten Lächeln auf den Lippen. Als würde das hier zu ihrer täglichen Routine gehören. Danach sprach die dritte, du hast sie gar nicht aufgefordert. Schmales Gesicht, blonder Pagenkopf. Selbstbewusst, fokussiert, mit der kühlen und doch weiblichen Ausstrahlung eines Stars aus den Fünfzigerjahren.

Alle drei waren richtig schön und so elegant in ihren Business-Kostümen und den passenden Pumps. Haare wie frisch vom Frisör. Dezentes Make-up. Und ich dachte noch: Vielleicht war es ein Missverständnis, dass ich hier war? Und dass mir deshalb niemand gesagt hatte, dass es einen Dresscode gab und ich nun in zerrissenen Jeans, weißen Sneakers und schwarzer Seidenbluse dasaß, die Haare zu einem unordentlichen Dutt gebunden. War das der Grund, warum deine Wahl auf mich fiel? Und nicht auf eine der drei anderen?

Oder war es etwas, das ich gesagt habe?

Das Rauschen legte an Tempo zu, die Luft wurde stickiger. Edgar musste aufstehen, herumgehen. Die Buchstaben verschwammen mit jedem Schritt mehr. Kleine Lichtblitze tauchten vor seinen Augen auf. Er spürte Chanels Blick, mit dem sie ihn fixierte. Das war sicher nur der Stress, nichts weiter. Er kratzte sich am Kinn, tat so, als würde er nachdenken.

„Kennt Ihr Mann dieses Schreiben?“

„Nein. Und ich weiß auch: Wir sind nicht in Hollywood, aber …“ Ihre Augen wurden glasig, ihr Blick starr. Sie räusperte sich, straffte die Schultern. „… aber es reicht schon, wenn man über die Grenze nach Deutschland sieht. Sie können sich sicher vorstellen, was dieses Schreiben, seit #MeToo so modern geworden ist, für Folgen hätte. Das sind ja gigantische Hetzjagden, die da durch die Medien ziehen“, sagte sie bemüht sachlich.

Handelte es sich hier um sexuelle Nötigung? Wollte sie Gewissheit darüber haben? Oder hatte sie nur Angst um den Ruf ihres Mannes? Sie verschwieg eindeutig etwas. Unter anderen Umständen würde Edgar jetzt fragen, ob sie annahm, dass ihr Mann in Bezug auf dieses Thema etwas zu befürchten hatte. Aber er konnte das hier nicht in die Länge ziehen. Er nahm ein paar tiefe Atemzüge, dann wurde es ein wenig besser.

Ich wollte dir gefallen. Natürlich wollte ich das. Eine Rolle in deinem Film würde alles ändern. Keine Gelegenheitsjobs mehr, keine unnützen Vorsprechen mehr für miserable Produktionen, um wenigstens irgendwo spielen zu können. Keine Nudeln mit Käse, Toast mit Käse, Kartoffeln mit Käse, weil schon am Monatsanfang klar war, dass das Geld nicht bis zum Ende reichen würde.

Wie erleichtert ich war, als du mich bei meinem Namen genannt hast. Also kein Missverständnis.

Ich glaube, du hast es gemerkt. Es sah aus, als würdest du ein Grinsen unterdrücken, es wegräuspern. Ich habe dir erzählt, wer ich bin, was ich gemacht habe. Du warst so nett und freundlich zu mir. Ich mochte dich. Habe mich geschmeichelt gefühlt vom Interesse eines so erfolgreichen Regisseurs.

Das ist der Moment der Geschichte, wo ich mir wünschte, ich könnte alles verändern, was danach passiert ist. Als wir alleine waren.

„Ich möchte Sie gerne wiedersehen.“

Fünf Worte, die mich zugleich in den Himmel gehoben und in die Hölle gestoßen haben. Klinge ich zu dramatisch?

„Können Sie die Angst in sich loslassen?“

Ich hasse dich für diese Frage. Ich hasse es, dass du sie mir gestellt hast. Denn du hast es nur getan, weil du nicht die Schauspielerin gesehen hast, sondern die Frau, die so dringend einen Job sucht.

Deine Worte sind wie ein Echo in meinem Kopf. Ich wünschte, ich hätte nicht genickt. Aber es sollte doch eine Ehre sein. Schließlich bist du das Genie. Und hast mich auserwählt.

Du hast mir gesagt, ich wäre wunderbar. Schön. Talentiert. Dass du in mir etwas erkennst, das du bei anderen Schauspielerinnen vergeblich suchst. Meine Verletzlichkeit. Und dann hast du dir ganz langsam und zart genommen, was du wolltest. Eingepackt in all die wunderbaren Worte und deine Pläne für meine Zukunft. Ich war verwirrt. Alleine in meiner Wohnung habe ich dich gehasst, für das, was du getan hast, und mich noch viel mehr, dass ich es zugelassen habe. Ich habe mich unter der Dusche geschrubbt, bis meine Haut wund war. Zu dem nächsten Treffen bin ich nur gegangen, weil ich dir sagen wollte, dass es falsch ist, was du tust. Voller guter Vorsätze kam ich zu dir. Doch dann habe ich dir zugehört, und es hat nicht lange gedauert, bis ich meinen Widerwillen für hysterisch und verrückt erklärt habe. Das war doch alles ganz normal. Nichts dabei. Du warst so klug, so reflektiert, so eloquent. Nein, ein Mann wie du würde seine Position doch niemals ausnutzen, wenn er mir sagt, was ich tun sollte, wie er mich haben will. Und so ging es weiter.

Ich weiß nicht, was dann passiert ist. Irgendetwas in mir hat sich selbstständig gemacht, an diesem Abend im Juni. Du hast mich berührt, und mein Körper hat so sehr zu zittern begonnen. Ich konnte kaum atmen. Hab nur noch geheult. Wenn ich jetzt daran denke, hat es dich gar nicht erstaunt, oder?

Du hast mich angezogen und nach Hause gebracht. Die halbe Nacht hast du mich im Arm gehalten und gesagt, es täte dir so leid. Du wolltest mir niemals dieses Gefühl geben. Zum ersten Mal habe ich mich bei dir geborgen gefühlt. Beim Abschied hast du mich auf die Stirn geküsst und gesagt: „Alles wird gut.“

Ich wusste nicht, dass es das letzte Mal sein sollte, dass du mit mir sprichst. Du hast meine Anrufe ignoriert. Bist an mir vorbeigegangen, als wäre ich eine Fremde. Als hätte es das alles nie gegeben. Erst da habe ich es verstanden: Ich war nicht deine Auserwählte. Ich war dein Spielzeug.

Doch das wird sich jetzt ändern.

Edgar ließ das Heft mit einem schweren Seufzen sinken. Ihm war ein wenig übel geworden. Der Tagebucheintrag hatte es in sich. Dazu kam noch sein eigener gesundheitlicher Zustand.

Irgendwas irritierte ihn besonders an der letzten Zeile, aber er bekam es nicht zu fassen.

„Kein Zweifel, dass Ihr Mann gemeint ist?“

Er konnte das Rauschen ignorieren, musste einfach nur lauter sprechen, über das Geräusch hinweg.

„Es stimmt alles: die Beschreibung, die Uhr, die Schuhe.“ Sie sprach weiter, aber ihre Worte wurden immer unverständlicher. Als stünde sie hinter einer Wasserwand.

Brehm wollte ihr sagen, dass er sich um alles kümmern würde. Kurt würde sich darum kümmern. Er war genau der Richtige für solche Fälle. Da – wieder ein Stich in der Brust. Hatte er heute Morgen die verordneten Medikamente genommen? Oder war das gestern Abend? Edgar wusste es nicht mehr. Er musste Kurt fragen. Kurt wusste solche Sachen immer. Gerade, als er nach dem Handy greifen wollte, fiel es ihm ein. Er konnte Kurt nicht anrufen. Wieder ein Stich in der Brust. Ihm wurde noch heißer. Seine Knie gaben nach.

„Ist alles in Ordnung mit Ihnen?“, fragte Chanel.

Da wurde es schwarz um ihn.

Lockvogel

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