Читать книгу Lockvogel - Theresa Prammer - Страница 13
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ОглавлениеObwohl es bereits acht Uhr in der Früh war und der Wecker schon vor einer halben Stunde geklingelt hatte, lag Edgar noch immer in dem Doppelbett und starrte auf die Zimmerdecke. Sein Versuch, die Sicherheitsfirma für die vermasselten Observationen an den Schadensersatzzahlungen haftbar zu machen, war also geplatzt. Mehr noch: Fast hätte ihn die Sicherheitsfirma dafür auch noch verklagt. Deshalb hatte er seine Forderungen zurückgezogen, denn der einzige Ausweg wäre wiederum eine Gegenklage von ihm gewesen, die er sich nicht leisten konnte. Das wusste auch dieser kleine schmierige Anwalt. Er sah sein Grinsen noch vor sich, voller Genugtuung war es gewesen.
Sonnenlicht fiel durch den dünnen beigefarbenen Seidenvorhang. Mühsam wälzte Edgar sich zur Seite und nahm sein Handy vom Nachttisch. Chanel hatte sich noch nicht gemeldet.
„Frau Steiner, hier ist Edgar Brehm“, hatte er gestern, gleich nachdem Toni gegangen war, ins Handy gesäuselt. „Verzeihen Sie bitte meine Unpässlichkeit vorhin. Das hatte nur mit dieser Diät zu tun, die ich hiermit beendet habe.“ Er senkte seine Stimme. „Fünfhundert Kalorien sind einfach zu wenig. Aber man weiß es erst, wenn man es probiert, nicht wahr?“ Er untermalte es mit einem gekünstelten Kichern, während er hoffte, keinen Schwachsinn zu erzählen.
„Verstehe, aha“, hatte Sybille Steiner beiläufig geantwortet. Im Hintergrund waren Stimmen zu hören. Ein Mann. Ein Mädchen. Sie schienen über irgendwas zu debattieren.
„Natürlich übernehme ich gerne Ihren Fall. Unter den besprochenen Konditionen.“
„Das ziehe ich nicht an“, hörte er das Mädchen. Es klang, als würde sie weinen. „Dann kommst du auch nicht mit, Zoe!“, sagte der Mann.
„Sind Sie sicher, dass Sie mich für eine Behandlung einschieben können?“, fragte Sybille Steiner.
„Meinen Sie mich?“ Edgar war verwirrt und begriff erst zu spät, dass sie natürlich vorgeben musste, mit jemand anderem als ihm zu sprechen. „Ach so, ja, selbstverständlich“, schob er rasch nach.
„Ich denke darüber nach und rufe Sie morgen an, ob ich den Termin wahrnehme.“
Dann hatte sie aufgelegt. Was sollte er machen, wenn sie es nicht tat? Im Moment war das der einzige lukrative Auftrag, der ihn aus den roten Zahlen – und was da noch so lauerte – rausholen konnte.
Edgar hatte nicht nur keine Einkünfte mehr. Die Kunde von seinen missglückten Aufträgen hatte sich rasend schnell verbreitet. Auf Google türmten sich die schlechten Bewertungen der letzten paar Monate. Und wenn Sybille Steiner in der Zwischenzeit recherchiert und alles gelesen hatte? Vielleicht hatte sie sich bereits anderweitig Hilfe geholt? Aber von diesem Fall hing die Zukunft seiner Detektei ab!
Natürlich war Edgars Einfall mit der jungen Frau eine verrückte Idee. Aber sie brauchte ihn. Das war mit Sicherheit mehr Motivation als die paar Euro Stundenlohn, die er normalerweise anzubieten hatte. Dank Steiners großzügigem Honorar könnte er zwar jemanden engagieren, der diese Aufgabe erledigte, doch das müsste ein zuverlässiger und ausgebildeter Kollege sein. Die Kosten für so jemanden waren enorm. Und er benötigte jeden Cent, wenn er die Detektei vor dem Ruin bewahren wollte.
Wie schwierig konnte es dieser Toni Lorenz schon fallen, Alexander Steiner zu beobachten und Fotos zu machen? Vielleicht könnte man sie sogar mit einer falschen Identität in Steiners Umfeld einschleusen. Schließlich war sie Schauspielstudentin. Wahrscheinlich war es ein Klischee, wie Edgar sich jemanden vorstellte, der diesen Berufswunsch hatte. Aber diese Toni entsprach seiner Vorstellung nicht annähernd – sie wirkte weder laut noch extrovertiert. Andererseits kannte Edgar sich in dem Metier ehrlicherweise nicht aus. Solche Fälle hatte immer Kurt übernommen.
Aber wieso sollte Toni Lorenz das denn nicht schaffen?
All diese Gedanken klangen wie Rechtfertigungen. So wie früher, wenn Kurt und er nicht einer Meinung waren. Edgar war klar, was Kurt dazu sagen würde. Nämlich, ob er noch bei Trost wäre. Dass dieses Vorgehen jeglichen Prinzipien ihres Berufs zuwiderlaufe. Und dass er Lorenz sofort absagen sollte. Edgar seufzte tief und schwer aus seiner schmerzenden Brust. Er konnte Kurt förmlich vor sich sehen, wie er auf ihn einredete, mit diesem Hauch von Vorwurf in seiner Stimme. Wie oft ihn das früher genervt hatte – und wie sehr es ihm nun fehlte.
Kurt hätte recht damit. Natürlich war das eine schwachsinnige Idee. Dass Edgar so etwas überhaupt in den Sinn gekommen war. Manchmal beschlich ihn das Gefühl, er wäre nicht mehr er selbst.
Dass er keinen Geschäftspartner mehr hatte, war noch immer völlig ungewohnt, obwohl Edgar ein Jahr lang Zeit gehabt hatte, damit vertraut zu werden. Sie hätten darüber geredet, dass Sybille Steiner ihren Mann natürlich zu Recht der Untreue verdächtigte. In ihrer ganzen gemeinsamen Laufbahn war es nur in zwei Fällen vorgekommen, dass sich ein solch drängender Verdacht als unbegründet herausgestellt hatte. Ob der Tagebucheintrag tatsächlich echt war, das war eine andere Sache. Irgendwas daran ließ ihn nicht los. Aber er kam nicht darauf. Als läge die Erkenntnis hinter einer dichten Nebelwand, die sich kurz gelichtet hatte, durch die er aber jetzt nicht mehr hindurchsehen konnte.
Edgar drehte sich wieder um. Eigentlich müsste er jetzt aufstehen, aber er war so unglaublich müde. Nur noch einen kurzen Moment die Augen schließen … – Ein Klopfen an der Wohnungstür riss ihn aus dem Schlaf. Ein Paketbote? Wahrscheinlich wollte der wieder mal etwas für einen Nachbarn hinterlegen. Edgar blieb liegen, doch es klopfte erneut. Und dann läutete sein Handy. Ohne Brille konnte er nicht erkennen, wer anrief. Beim Versuch, den Anruf anzunehmen, fiel ihm das Handy aus der Hand und landete auf dem Parkettboden. Mühsam schälte er sich aus dem Bett und hob es auf. Jeder Muskel tat ihm weh, als wäre er gestern einen Marathon gelaufen.
„Hallo?“, sagte er noch ins Handy, doch er hatte versehentlich aufgelegt.
Wer war das überhaupt gewesen? Und wo war verdammt noch mal seine Brille? Wieder ein Klopfen. Edgar steckte das Handy in die Bademanteltasche und hörte im nächsten Moment eine Frauenstimme: „Hier ist die Polizei. Ich weiß, dass Sie da sind. Öffnen Sie.“
Schwungvoll riss er die Tür auf.
„Guten Morgen. Uns wurde lautes Schnarchen aus dieser Wohnung gemeldet.“
Fernanda grinste ihn an und tippte an ihre Polizeikappe. Er war so überrascht, dass er im ersten Moment gar nicht reagierte.
„Hab ich dich geweckt, Edgar?“ Aus dem Funkgerät an ihrem Gürtel rauschte eine Durchsage, sie stellte es leiser.
Fernanda hatte vor mehr als zwanzig Jahren bei der Polizei angefangen. Sie waren damals schon befreundet gewesen. Seit ihr Mann sie vor fünf Jahren verlassen hatte, nach Kanada ausgewandert war und die beiden Kinder auch lieber dort leben wollten, war ihre Beziehung enger geworden. Doch dann war diese Sache passiert, über die Edgar nicht sprechen wollte. Genauso wenig darüber, dass seine Detektei ins Strudeln geraten war. Er war so mit der Arbeit beschäftigt, es hatte gerade noch für ein paar Telefonate hie und da gereicht. Das letzte Mal hatten die beiden sich vor Monaten gesehen.
Edgar brauchte einen Moment, bis ihm wieder einfiel, dass er Fernanda gestern angerufen und gebeten hatte, den Namen Felix Meier unter einem Vorwand durch das System zu jagen.
„Komm rein. Willst du einen Kaffee?“
„Gern. Na servus, du hast auch schon mal besser ausgesehen.“
Ohne darauf zu reagieren, ging Edgar in die Küche, um Kaffee zu machen. Dort fand er auch endlich seine Brille.
„Was ist denn los? Wilde Nacht gehabt?“, fragte Fernanda.
Sie sah sich um, als wäre sie auf der Suche nach Indizien. Sie war die Einzige bei der Polizei, mit der Edgar noch Kontakt hatte. Keine Ahnung, ob die anderen davon wussten, aber er konnte es sich nicht vorstellen. Nicht nach dem, was damals geschehen war. Er hatte Fernanda nie gefragt, ob sie darüber sprach oder wie sie es schaffte, ihm ab und zu Informationen zu besorgen. Für einen Detektiv war ein solcher Kontakt Gold wert. Und er mochte sie.
„Wahnsinnig wild.“
Edgar suchte nach einer sauberen Tasse.
„Die Horde junger Männer hat fünf Minuten vor dir die Wohnung verlassen.“
Sie rümpfte die Nase.
„Das nächste Mal sag ihnen, sie sollen auch gleich die Küche aufräumen. Setz dich hin, ich mach das.“
Normalerweise hätte Edgar protestiert, aber jetzt nahm er wirklich am Küchentisch Platz und sah dabei zu, wie Fernanda zwei Tassen auswusch, frisches Wasser in den Behälter füllte und den Kaffee herunterließ. Sie stellte ihm die Tasse auf den Tisch und lehnte sich an die Küchenzeile.
„Bist du krank?“
Edgar kratzte sich am Kinn, schüttelte den Kopf. Sie sagte eine Weile nichts, wahrscheinlich glaubte sie ihm nicht.
„Nur schlecht geschlafen“, schob er nach, damit sie nicht weiterfragte.
Aus ihrem Funkgerät waren Stimmen zu hören, zu leise, um sie zu verstehen.
„Ich hab was über deinen Felix Meier rausgefunden.“
„Bist du deshalb gekommen?“
„Du hast gestern nicht besonders gut geklungen am Telefon. Ich hab mir gedacht, ich seh mal nach dir. Ist wirklich alles in Ordnung?“
Als wäre das ein Stichwort, begann Edgars Herz zu rumpeln. Sein Nicken war wahrscheinlich etwas zu eifrig, doch zum Glück wurde Fernanda in dem Moment angefunkt. Sie wimmelte ihre Kollegen ab.
„Okay, also dieser Felix Meier. Das Geburtsdatum, das du mir genannt hast, ist falsch. Ich hab ihn mithilfe des Fotos gefunden. Vor etwas mehr als einem halben Jahr war er in eine Schlägerei verwickelt. Am Vormittag vor einer der Geisterbahnen im Prater. Angeblich ist ein privater Streit eskaliert.“ Sie reichte ihm einen Notizzettel. „Zwei Handynummern, eine von Felix Meier, das ist aber abgemeldet. Die andere von einem Milos Kubra. Meier ist in der Wohnung einer Antonia Lorenz im achten Bezirk gemeldet.“
„Danke.“
Er nahm einen Schluck Kaffee und war überrascht, wie sie dieses köstliche Getränk aus der alten Maschine gezaubert hatte.
„Eine Prise Zimt“, verriet sie, ohne dass er gefragt hatte.
„Ich habe Zimt?“
Sie griff in die Brusttasche ihrer Uniform und nahm eine kleine Glasviole heraus.
„Du nicht, aber ich. Hab ich immer mit. Ist gut für den Blutzuckerspiegel.“
Sie lächelte ihn an, und erst jetzt merkte er, wie sehr es ihm fehlte, mit jemandem über so ganz normale Dinge zu sprechen. Kurt war nicht nur sein Geschäftspartner gewesen, sondern auch sein bester Freund.
„Wie geht es den Kindern?“, fragte Edgar und nahm einen weiteren Schluck.
Fernanda hob die Schultern, wandte den Blick Richtung Fenster.
„Es gibt jetzt eine Stiefmutter. Ganz reizend, eine Sportlehrerin, noch keine dreißig.“ Sie verzog das Gesicht, als hätte sie einen unangenehmen Geschmack im Mund. „Natürlich freue ich mich für die Kinder. Sie mögen sie, das ist gut.“
„Kommen Sie dich wieder besuchen?“
„Ja, aber erst in den Sommerferien. Wir skypen jedes Wochenende.“
Am liebsten wäre Edgar aufgestanden, um Fernanda zu umarmen. Aber es kam ihm zu dramatisch vor, und außerdem war er viel zu müde.
„Triffst du dich mit jemandem?“, fragte er.
Sie lächelte gezwungen.
„Ich hab Onlinedating versucht. Da gibt es entweder die Psychos, die sagen so Sachen wie, ich soll zum ersten Treffen meine Waffe mitnehmen und ob ich sie mal verhafte, nur aus Spaß.“ Sie rollte mit den Augen. „Der Rest bricht den Kontakt sofort ab, wenn sie erfahren, was ich mache. Ich glaube, eine arbeitslose Mutter mit fünf Kindern hat mehr Chancen als eine Polizistin. Aber verschweigen, das ist nicht meins. Und du? Siehst du jemanden?“
Erneut kamen Stimmen aus dem Funkgerät. Edgar war sich nicht sicher, aber hatte er da gerade den Namen „Steiner“ gehört?
„Heute ist ja ganz schön was los“, wich er aus.
„Das kannst du laut sagen. Und wenn erst die Presse davon Wind bekommt – halleluja!“
Edgar stand auf, nahm die Packung Mannerschnitten aus dem Regal und legte ihr ein paar davon auf einen Teller.
„Was ist denn passiert?“
Fernanda lachte auf.
„Sehr subtiles Ablenkungsmanöver, Edgar. Du warst auch schon mal raffinierter.“
Sie nahm trotzdem eine Mannerschnitte, spuckte sie aber gleich wieder aus.
„Wie alt sind die?“
Er schaute auf das Ablaufdatum. Die Schnitten waren tatsächlich bereits seit Jahren abgelaufen.
„Entschuldige, ich war länger nicht einkaufen.“
„Wie lang? Fünf Jahre?“
„Kommt so ungefähr hin.“
Sie grinsten einander an, und Edgar deutete fragend auf ihr Funkgerät.
„Also gut, das muss aber unter uns bleiben“, sagte sie und legte eine Hand darauf. „Bei dieser Schickimicki-Party in der Villa im Achtzehnten, der Kellner, der angeblich ertrunken ist?“
„Angeblich?“
„Irgendeines von den Genies aus der Forensik hat sich vor ein paar Minuten gemeldet, die waren die ganze Nacht dran … Typisch Promifall.“ Sie rollte mit den Augen. „Aber bitte schön, jetzt wissen wir es wenigstens. Es war kein Unfall.“
Sofort war Edgar hellwach. „Sondern?“
„Dieses Ding, das ihm auf den Schädel geknallt ist – da wurde nachgeholfen.“
„Was?“
Fernanda nickte nur bedeutungsvoll, formte mit den Lippen stumm Worte, die Edgar nicht verstand. Er schüttelte ratlos den Kopf.
„Sie gehen von einer Tötungsabsicht aus“, sagte sie sehr leise und hielt eine Hand über ihr Funkgerät.
„Wieso, was ist passiert?“
Statt einer Antwort verschloss sie ihren Mund mit einem imaginären Schlüssel.
„Weiß man schon, wer der Tote ist?“
Fernanda nickte, sah auf die Uhr.
„Ich muss los. Pass auf dich auf. Und lass deine zehn Jungs von mir grüßen. Vielleicht schaut ja einer mal bei mir vorbei.“
Sie küsste ihn auf die Wange und murmelte: „Du stichst.“
Edgar dachte schon, sie würde gehen, da drehte sie sich noch einmal um: „Hast du ihn wieder mal angerufen?“
Es war eindeutig, dass sie Kurt meinte, trotzdem traf ihn die Frage völlig unvorbereitet. Sie schien es ihm anzusehen, denn sie schenkte ihm ein Lächeln und verließ die Küche, ohne auf eine Antwort zu warten.
Edgar horchte, bis die Tür ins Schloss fiel, erst dann fischte er sein Handy aus der Tasche des Bademantels. Es war Sybille Steiner gewesen, die ihn mit ihrem Anruf vorhin im Halbschlaf überrumpelt hatte. Er rief sie zurück.
„Ja?“, antwortete sie verärgert.
Doch das änderte sich sofort, als Edgar sie fragte, ob sie schon von den neuesten Ermittlungserkenntnissen wusste. Sie stieß ein leises Keuchen aus, als er ihr davon erzählte.
„Nein. Oh Gott. Wieso hat sich niemand von der Polizei gemeldet?“
„Die Information ist eben erst raus. Das muss jetzt den offiziellen Weg gehen.“ Er sah auf die Uhr. Ein Glück, dass es noch so früh war. „Ich schätze, Sie werden in den nächsten ein, zwei Stunden verständigt. Spätestens.“
„Weiß die Presse schon davon?“
Ihre Stimme war um zwei Oktaven höher gerutscht.
„Keine Ahnung. Wir sollten uns sofort treffen.“
„Natürlich. Ich komme in Ihr Büro.“
„Gut. Und bringen Sie das Tagebuch mit.“
Ohne sich zu verabschieden, legte er auf. Spezielle Situationen erforderten spezielle Maßnahmen. Mit ein paar tiefen Atemzügen versuchte er, sein rumpelndes Herz zur Ruhe zu bringen. Es gelang nicht. Nun musste er dringend Toni Lorenz erreichen.