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Die Sprache sagt alles

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»In der DDR haben wir VEB’s und LPG’s mit ihren MTS’; beide entstanden auf Betreiben des ZK der SED. FDGB und FDB helfen bei der Werbung für KVP und FDJ.« Solche Sätze sind für den Uneingeweihten nicht verständlich. Sie stellen eine Art »Neusprache« dar, ein System der Abkürzungen, das ein bezeichnender Ausdruck ist unseres Zeitalters einer allgemeinen, gleichen und öffentlichen Kollektivierung. Abkürzungen verändern, entleeren die Sprache aber nicht nur in dem Teil der Welt, wo Staat-sund Lebensform auf den Kollektivismus schwören. Auch im Westen gebraucht man Begriffe wie EVG, NATO, SEATO, wie BEA, SBZ, EKD – Begriffsschemen, die nichts Greifbares, kein Fleisch und Blut mehr haben.

Die Sprache verrät alles. Wer auf sie hört, hört den Zeitgeist am Werke. Kollektivierung, Konformismus, Abstraktion, Rationalisierung – das alles bestimmt heute den Lauf der Welt, nicht nur den »Neuen Kurs« einer ihrer Hälften. Der Unterschied ist: Im Osten bejaht man als der Weisheit letzten Schluß, was man im Westen als notwendiges Übel hinnimmt oder auch verneinen darf. Ein sehr wesentlicher Unterschied freilich.

In der Sowjetzone spreche man bereits heute eine andere Sprache als in der Bundesrepublik, heißt es. Ein Beispiel, wie man einander schon in der Umgangssprache nicht mehr versteht, geben die verschiedenen Abkürzungen, die man hüben und drüben ganz selbstverständlich gebraucht. Man spricht hier deutsch und dort, aber es ergeben sich von Jahr zu Jahr mehr Rückfragen, wenn der Mann aus Dresden seinem Bruder in Köln von dem volkseigenen Betrieb, in dem er arbeitet, erzählt und natürlich VEB dazu sagt.

Zeichnet sich da nicht eine neue, künstliche, machtpolitisch bedingte Grenze ab, die die natürliche, volkstümliche Sprachgrenze hinter sich läßt? So weit die gleichen Abkürzungen verstanden werden, so weit reicht ein neues gemeinsames Bewußtsein, eine Art neue »ideologische Nation«. Insofern liegt schon heute Helmstedt näher bei Washington und Marienborn näher bei Moskau – als Helmstedt, Bundesrepublik, bei dem wenige Kilometer entfernten Marienborn, DDR. Eine schlimme Vorstellung!

Abkürzungen bezeichnen Wortkollektive, sie sind starr aufragende Signale, die einen Verkehr regeln, dessen gesichtsloses, wesenloses Objekt das Individuum ist, insofern es statistischen Stellenwert hat. Der Wortleib schwindet, es bleibt das Skelett einer unpersönlichen Abstraktion, eine Hülse, in die sich beliebig das Schwarzpulver der Zwecklüge füllen läßt.

Das intakte Wort ist von sich selbst vollkommen erfüllt und mit nichts anderem erfüllbar. Aus der lebendigen Verbindung von Wort und Wort zu Sprache ergibt sich Wahrheit, der Sinn und der Zweck des Sprechens. Wahrheit lebt von der Nuance, die in dieser Verbindung Spiel hat. Abkürzungen aber behaupten sich im Gegenteil durch das Ausstreichen der Nuance; sie machen »totale Sprache«.

Es wäre aber töricht, gegen die Abkürzungen loszugehen. Sie sind eine Wirkung. Die Ursache liegt in dem allgemeinen Verlust an individueller Substanz, die dieses Zeitalter der Kollektivierungen kennzeichnet. Wieviel da noch auszurichten ist? Unsere Sprache, wenn wir ihr zuhören, wird es immer getreulich anzeigen.

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