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Ostbahnhof

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Sie zwängen sich durch die Sperre: die Frau von dreißig im Schneiderkostüm, recht elegant von weitem, nur der Rock zu kurz, die Schuhe zu derb, die Schultern zu eckig, die Jacke zu lang; der Halbwüchsige, unsicher und frech, Garant der volksdemokratischen Zukunft; die alte Frau mit zwei schweren Handtaschen, klein, eilend. »Omi!« eine hohe Kinderstimme aus dem Knäuel der Wartenden.

Der Personenzug aus Elsterwerda ist düster, glanzlos die wieder eingesetzten Fensterscheiben. Der Rauch der Lok steigt zu einem stumpfen, schwarzen Nachthimmel. Die Eisenkonstruktion über der weiten Bahnhofshalle aus gelbem Backstein ist sauber weggesprengt. Wenige starke Glühlampen über schmutzigen, breiten Schirmen schneiden gelbe Kegel in die Finsternis.

Das Gesicht einer Achtzehnjährigen über dem viel zu großen Koffer; ein formloser Mantel aus grauem Deckenstoff. Ihr Mund, weich und sanft unter kecker Nase und zu ernster, zu niedriger Stirn, schämt sich einer provinziehellen Unbeholfenheit. Die Augen unruhig und hungrig; ein billiger, bunter Schal, kokett über die Schulter geworfen, macht die ganze Erscheinung nur rührender.

Die Omi – aus Sachsen, wie man deutlich hört – hält das kleine Berliner Enkelkind auf dem Arm. Etwas geniert steht der Westberliner Vater im neuen Trenchcoat abseits mit den verschrumpelten Handtaschen der Großmutter. Sie ist ein verhuschtes, dunkles, scheues, kleines Wesen mit zerfaltetem Gesicht, armselig – im Augenblick der Ankunft erleuchtet. Milde, dunkle Augen unter weißem Haar. Der Vater folgt mit leichtem Abstand auf leisen Kreppsohlen seiner Mutter, die von seiner Tochter plappernd zur S-Bahn-Treppe gezogen wird.

Die ist ein schwarzes Loch wie schon vierundvierzig. Der Krieg ist hier noch nicht hinter eine Schutzfassade von neuem Glas, Messing, Kunststein und Holztäfelung zurückgedrängt. Nackt starren die Steine, der Mörtel bröcklig, die Wände verwittert und stellenweise geschwärzt durch Explosionen, Brände. So auch die Mauern der Bahnhofshalle. Durch die großen, rundbögigen Fensteröffnunggen die stumpfe schwarze Nacht, die dort hinten schon die letzten Wagen des Zuges aus der »Zone« verschluckt. Der Halbwüchsige, unsicher und frech, hat plötzlich die dunkle Uniform der Volkspolizei an, steht neben der Lokomotive. Nein, es ist ein anderer; der an der Sperre trug das Haar lang über die Ohren. Einer des gleichen Alters schlendert jetzt als letzter durch die Sperre. Schaftstiefel, Zigarette, Abzeichen auf dem Jackett. So viele von diesen Jungen. Oder fallen sie nur mehr auf als die Frauen und Mädchen und die wenigen Männer?

Die Frau von dreißig im Kostüm der Kriegszeit steht vor dem Verkaufsstand der HO. Sie hat ein Gespräch mit dem Verkäufer angefangen, kauft aber nichts. Erkundigt sich nach Straßenbahnlinien, wartet noch halb. Schwätzt gern. Ja, aus Dresden, Freundin in Berlin besuchen mal sehen …

Die Bahnsteige leer, der Wagen mit den Zeitungen verschwunden, der Zug schiebt sich rückwärts aus der Halle, der HO-Verkaufsstand wird geschlossen. Die Treppen zum großen Ausgang hinunter auch leer. Tiefe Nacht. Kein Zug mehr heute. Keine Türen, keine Fenster in der Bahnhofsvorhalle, kein Dach. Im Kegel einer Lampe, die im Winde schwankt, grünes Unkraut oben in den Gemäuerwinkeln.

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