Читать книгу Der letzte Prozess - Thomas Breuer - Страница 13
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ОглавлениеDen Vorgarten des eingeschossigen Flachdach-Bungalows in der Max-Planck-Straße im Hammer Stadtteil Berge konnte man ohne Übertreibung als die Visitenkarte des eintausend Quadratmeter großen Grundstücks bezeichnen. Allerdings war keine Horde von Gärtnern durch die Anlagen gerobbt und hatte sie akribisch von jedem unerwünschten Pflänzchen befreit, sondern Fabian Hellers Mutter hatte hier einen fast zwanghaften Gartenarbeitstrieb ausgelebt und dem Unkraut den Kampf angesagt. Dabei hatte sie die Haut der Erde immer wieder aufs Neue mit der Harke aufgekratzt und sich arbeitserleichternde Hilfsmittel wie etwa Rindenmulch verbeten. Nun aber, sechs Wochen nach ihrem Tod, deutete das ungehemmt durchbrechende Grün an, wer am Ende in der Natur immer den längeren Atem hatte.
Heller ging langsam und gegen seinen inneren Widerstand kämpfend über die Waschbetonplatten auf die große weiße Haustür aus Holz zu. Zwei Stufen führten hinauf. Als Kind hatte er sie mit einem Sprung genommen, jetzt fiel ihm jeder Schritt schwer, weil er ihn einer Konfrontation mit der Vergangenheit näherbrachte, die er lieber gemieden hätte.
Selbst das Schloss schien nicht einverstanden, als Heller nun mehrfach vergeblich versuchte, den hakenden Schlüssel zu drehen. Er rüttelte leicht daran und stemmte sich schließlich mit der Schulter gegen das Holz des feststehenden Flügels, während er an dem Schlüssel zog. Plötzlich gab das Schloss mit einem Ruck nach und die Tür schwang nach innen auf. Der muffige Geruch unbewohnter Räume schlug Fabian Heller entgegen, als er den kleinen Windfang betrat. Von hier führte eine Tür nach rechts zur Gästetoilette, eine nach links zu seinem alten Jugendzimmer und die geradeaus in den langgezogenen Flur.
Heller ließ die Haustür hinter sich laut krachend zufallen. Das Echo lief dumpf vibrierend durch den Bungalow und machte die Totenstille, die ihn direkt nach dem Betreten umfangen hatte, noch unheimlicher. Dem finsteren Flur vorerst noch ausweichend, betrat er als Erstes sein altes Jugendzimmer mit der breiten Alu-Fensterfront zur Straße hin, der hellbeigen Textiltapete und den weißen Hartfaser-Kassetten unter der Decke.
Hier schien die Zeit eingefroren. Nichts hatte sich verändert, nachdem er vor über zwanzig Jahren während seines Studiums ausgezogen war. Seine Mutter hatte sogar den alten Limba-Schreibtisch mit dem vorsintflutlichen Atari-Computer darauf penibel von Staub freigehalten. Neben dem schmalen Jugendbett stand der beige IKEA-Freischwinger, in dem er als Jugendlicher an verregneten Nachmittagen nach der Schule so oft gesessen und gelesen hatte. Er fühlte den ruhigen Stunden nach, die ihm jetzt fremd und wie aus einem anderen Leben erschienen. Den Kieferntisch mit Glasplatte zierte ein beiger Tischläufer, der ihm unbekannt vorkam. Sicher war er nach seinem Auszug der Vollständigkeit halber hinzugekauft worden und verstärkte nun den musealen Charakter des Raumes. Auf dem Ausziehsofa an der Wand daneben lag eine ebenfalls beige Tagesdecke sorgsam zusammengefaltet.
Sogar die uralte Kompaktanlage von Nordmende mit Plattenspieler, Radio und Doppel-Kassetten-Deck, mit dem er jeden Mittwochabend seine Mitschnitte aus Mal Sondocks Hitparade für seine Freunde kopiert hatte, stand staubfrei auf dem Plattenschrank rechts neben der Tür. Darunter reihten sich in einem Fach die alten Vinyl-Scheiben von Abba, Smokie, Sweet und Queen – mit dreizehn hatte Fabian Heller das Zeug gehört und BRAVO-Starschnitte gesammelt – und im zweiten Fach The Undertones, Sting und Fischer Z neben Konstantin Wecker, BAP, Hannes Wader und Wolf Biermann, die Musik einer umwelt- und friedensbewegten Generation. So nostalgisch er sich daran zurückerinnerte, so verschwendet schien ihm die damals eingesetzte Energie heute angesichts der zahlreichen Kriege, in die selbst Deutschland wieder involviert war. Die Welt schien in Zeiten ungehemmter Rüstungsexporte und eines nicht nur in der Flüchtlingshilfe auseinanderdriftenden Europa unsicherer denn je. All die Friedenscamps mit Solidaritätsbekundungen an die Unterdrückten überall in der Welt waren für die Katz gewesen. Schwerter zu Pflugscharen? Das Gegenteil schien der Fall zu sein.
Fabian Heller atmete tief durch und trat zurück in den Windfang. Mit einem unbestimmten Druck auf der Brust öffnete er die bleiverglaste Tür zum Flur, der ihn düster empfing mit seinem dunkelroten Teppichboden, der breiten Garderobenwand aus dunklem Nussbaum, der dunklen Nussbaum-Deckenvertäfelung und der braun-beigen Textiltapete. Hier war einfach alles nur finster. Wie ein enger Schlauch führte der Flur, einmal im rechten Winkel geknickt, durch das ganze Haus. Bleiverglaste Türen gingen zum Wohnzimmer, zum Esszimmer und zur Küche ab; dazu je eine geschlossene Holztür zum Bad, zum Büro seiner Mutter, zum Elternschlafzimmer und zum alten Jugendzimmer seines Bruders. Einhundertsiebzig Quadratmeter auf einer Ebene, dasselbe noch mal als Keller untendrunter.
So fremd ihm nun alles erschien, so glücklich waren doch Kindheit und Jugend gewesen, die Fabian Heller in diesem Haus verbracht hatte. Wie oft hatten er und sein Bruder den langen Flur genutzt, um mit ihren Pantoffeln als Schläger und einem Tennisball auf den Knien Hockey zu spielen! Und bei jeder sich bietenden Gelegenheit hatten sie sich dabei in die Wolle gekriegt. Die lebhaften Jahre mit den immer überarbeiteten Eltern und den ständigen Streitereien mit seinem Bruder standen in krassem Gegensatz zu der bedrückenden Atmosphäre, die das leere Haus mit seinen dunklen Möbeln jetzt gefangen hielt.
Heller betrat das großflächige Wohnzimmer, das wegen seiner Tiefe immer etwas schummerig wirkte, obwohl die gesamte Gartenseite aus hohen Aluminium-Fenstern bestand. An der gegenüberliegenden Wand schluckte ein fünf Meter langer Schrank aus Nussbaum das letzte Restlicht, das die dunkle Holzdecke, das dunkelbraune Cordsofa – eine sogenannte Rundecke – und der niedrige Nussbaumtisch in der Mitte des Raumes noch übrigließen.
Heller mied die Schranktüren, hinter denen, wie er wusste, Unmengen von Gläsern für jede Gelegenheit aufgereiht waren. Auch das Barfach mit dem ihm vertrauten Vorrat an Kräuterlikör, Apfel-, Kirsch- und Weizenkorn mied er. Er musste den Trauerschub ja nicht herausfordern. Außerdem gab es noch genügend Schranktüren, hinter denen sich all das verbarg, von dem seine Mutter sich nicht hatte trennen können, weil es für sie mit der Zeit verbunden war, als Fabian und sein Bruder noch Kinder gewesen waren und ihr Mann noch gelebt hatte, der viel zu früh – mit achtundvierzig Jahren – an Lungenkrebs verstorben war. Heller erkannte mit einem Mal, was ihn die ganze Zeit über schon so bedrückte: In diesem Haus war ein vergangenes Menschenleben zu einer Momentaufnahme eingefroren. Und dieses Leben hatte dem Menschen gehört, mit dem er naturgemäß am engsten verbunden gewesen war.
In den Schubladen fanden sich das gute Silberbesteck und eine braune, geflochtene Ledermappe mit Papieren, die Heller herausnahm und auf den Tisch legte. Dann flüchtete er aus der emotionalen Enge des Wohnzimmers durch den Flur ins Büro, weil er sich durch das geschäftsmäßige Ambiente wieder etwas mehr Distanz versprach.
Aber auch hier war seine Mutter allgegenwärtig: in den sauber angespitzten und parallel aufgereihten Bleistiften auf dem Schreibtisch ebenso wie in den per Hand beschrifteten Aktenordnern im Regal. Der alte Schrank mit den Glasscheiben – der erste Wohnzimmerschrank seiner Eltern von vor über fünfzig Jahren – enthielt die Heidi-Bücher aus der Kindheit seiner Mutter. Dieser Raum zeichnete mehr als alle anderen im Haus ihr gesamtes Leben nach. Als dann noch Fabians Blick auf Fotos seiner Eltern an der Wand fiel, war es um ihn geschehen. Er ließ sich auf den Bürostuhl fallen und flennte wie ein kleines Kind. Dabei hatte er sich selbst bei der Beerdigung seiner Mutter auf dem Friedhof als herzlos beschimpft, weil er nicht hatte weinen können. Mit einem Schlag wurde ihm nun bewusst, dass mit seiner Mutter die Letzte aus der Generation vor ihm verschwunden war. Ein Gefühl von Verlassensein und Einsamkeit sorgte dafür, dass sich alle Schleusen öffneten.
Schließlich wischte er sich die Tränen ab und wandte sich dem alten Schrank zu. Was nützte es? Irgendwann musste er sich den Tatsachen stellen und je eher er es tat, desto schneller war es überstanden. In einem der Fächer fand er, was er gesucht hatte: die Fotoalben, deren verschossene hellblaue und orangene Leinenbezüge darauf hindeuteten, dass sie sehr alt waren. Ein erstes zaghaftes Durchblättern bestätigte das, denn es handelte sich auf den von transparentem Seidenpapier getrennten Seiten überwiegend um Schwarz-Weiß-Fotos mit gezackten Rändern in vergilbten Fotoecken. Auf einigen Bildern war das kleine Mädchen zu sehen, an das er sich vorhin im Stau auf der Autobahn erinnert hatte. Glücklich und unbeschwert lächelte es in die Kamera und präsentierte stolz ihre Zöpfe, die bis zu den Hüften hinunterreichten.
Schnell schlug Heller das Album wieder zu, weil er in Sachen Emotionen heute für nichts mehr garantieren konnte. Stattdessen wandte er sich den Schubladen zu und entnahm ihnen alles, was nach wichtigen amtlichen Unterlagen aussah. Zuletzt fand er noch neben einem alten Gesangbuch und einem Rosenkranz aus Holz, die er unberührt ließ, ein in Seidenpapier eingeschlagenes langes Päckchen. Er zog es hervor, wunderte sich über die Flexibilität des Inhalts und wickelte es vorsichtig aus. Es enthielt Zöpfe – die Zöpfe seiner Mutter, die er eben noch auf den Fotos gesehen hatte. Warum verwahrte eine Frau ein Leben lang die Zöpfe ihrer Kindheit? Fabian Heller schüttelte verständnislos den Kopf und wickelte die blonde Haarpracht wieder ein. Dann griff er nach einer großen, stabilen Stofftasche, steckte das Seidenpapierpäckchen, die Papiere und die Fotoalben hinein und ging zurück ins Wohnzimmer, um auch die dort auf dem Tisch deponierten Unterlagen dazu zu stopfen.
Er blickte sich noch einmal um, fühlte die Enge in seinem Brustkorb und kämpfte wie schon seit Wochen immer wieder mit der Frage, was er mit dem Haus machen sollte. Einziehen würde er hier sicher nicht. Sein Bruder schon gar nicht, denn der lebte in Berlin. Also verkaufen? Sich endgültig davon trennen? Was war das nur, das ihm die Antworten so schwermachte? Was stieß ihn hier so ab, dass er den Aufenthalt in diesem Haus nicht ertrug? Und was fesselte ihn gleichzeitig so sehr, dass er den sauberen Schnitt nicht schaffte?
Heller beschloss, heute nichts mehr zu beschließen und überhaupt keine Entscheidung zu treffen, solange er sich in emotionaler Schieflage befand. Er würde sich mit etwas Abstand Gedanken darüber machen, wie es mit dem Haus weitergehen sollte.
Derart vorerst einer Entscheidung enthoben, verließ er das Mausoleum seiner Kindheit.