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Es gibt Dörfer, in denen die Zeit stillgestanden zu sein scheint. Wewelsburg war ein solches Dorf, das sich nur vordergründig durch Richtungsschilder wie Fernverkehr oder eine Volksbankfiliale aus viel Glas als modernes Städtchen zu tarnen versuchte. Das Umfeld der Burg sprach eine ganz andere Sprache und entlarvte den Verkehr und die modernen Fassaden entlang der beiden Hauptstraßen als Kulisse eines großangelegten Fakes. Angesichts der historischen Gebäude fühlte sich Fabian Heller augenblicklich in die dreißiger Jahre des letzten Jahrhunderts, wenn nicht gar ins Mittelalter zurückversetzt.

Die Burgfassade bestand aus Bruchstein, wie er früher in dieser Region üblich gewesen war, ebenso das ehemalige Kommandantur-Gebäude der SS, in dem sich heute das Kreismuseum befand. Eine gemauerte Brücke mit hüft­hoher Balustrade führte vom Vorplatz über den Burggraben, aller­dings ohne Wasser. Machte das alte Gemäuer angesichts seiner geringen Größe auf Heller einen eher gemütlichen Eindruck, so wirkte der Innenhof geradezu beengend auf ihn. Der eingekesselte Platz war ohnehin schon sehr schmal und lief dann auch noch vor einem in Relation zur Burggröße mächtigen Rundturm spitz zu, so dass er insgesamt eine dreieckige Form hatte. Über eine kleine Freitreppe gelangte man zur Eingangstür im linken Seitenflügel, neben der das Schild der Jugendherberge an der Mauer hing, die seit Jahrzehnten hier untergebracht war. Zu allem Überfluss befand sich an der stumpfen Seite des Hofes auch noch ein Eingang zum Heimatmuseum.

Unschlüssig blickte Heller sich um. Bei so viel Geschichte wusste man ja gar nicht, wo man anfangen sollte. Außerdem war das definitiv nichts für einen nüchternen Magen. Heller hatte noch nicht gefrühstückt und beschloss, erst einmal auf die Suche nach einer Tasse Kaffee und ein oder zwei belegten Brötchen zu gehen, bevor er sich die Burg ansehen würde. Zudem musste er sich um eine Unterkunft kümmern, bevor hier alles vom Dornröschenschlaf nahtlos ins lethargische Wochenende übergehen würde.

Also ließ er sein Auto auf dem Parkplatz zurück und erkundete zu Fuß die nähere Umgebung. Zwei Straßen weiter stieß er auf einen kleinen Gemischtwarenladen mit Steh­tischen, eine Fusion aus Bistro und Tante-Emma-Laden. Bei der jungen Verkäuferin bestellte er zwei Körnerbrötchen mit Käse und einen Cappuccino und bekam auch noch ein freundliches Lächeln gratis dazu.

»Sind Sie wegen der Ausstellung hier?«, fragte die Frau neugierig. »Oder machen Sie Urlaub in Wewelsburg?« Sie lachte leichthin, als sei Letzteres so undenkbar wie witzig.

»Wie man’s nimmt«, antwortete Heller. »Ich bin Journalist und wegen des Mordes hier.« Er reichte ihr über die Theke hinweg die Hand. »Fabian Heller.«

»Freut mich. Julia Grote.« Dann drehte sie sich zu dem Vollautomaten um und schob eine Cappuccino-Tasse unter die Düsen. »Schlimme Sache«, kommentierte sie über ihre Schulter hinweg, während sie den Kaffeeautomaten bediente, der zischend vor sich hin sprotzte, und nickte die volllaufende Tasse an. »Der Mann soll ja ganz furchtbar ausgesehen haben. Überall Blut und Gehirnmasse und so.« Mit den letzten Worten schob sie die Tasse über die Theke. Dann machte sie sich daran, die Körnerbrötchen aufzuschneiden, mit Margarine zu bestreichen und zu belegen. »Der Mörder soll den Mann ja sogar ausgepeitscht haben.«

»Kannten Sie das Opfer?« Heller nippte vorsichtig an dem heißen Cappuccino.

»Nein, der war nicht von hier.«

»Er soll früher im Konzentrationslager gearbeitet haben, als Wachmann«, kramte Heller die spärlichen Informationen hervor, die er von Brenner bekommen hatte. Der Chef­redakteur war wie immer sehr gut informiert. Heller hatte sich schon oft darüber gewundert, dass er offenbar überall seine Quellen und Informanten hatte und nicht selten mehr wusste als die ermittelnde Polizei. Aber das machte einen guten Journalisten wohl aus und irgendwie musste Brenner ja an seinen Posten gekommen sein.

»Davon, dass er hier Wachmann gewesen sein soll, weiß ich nichts.«

Kam es Heller nur so vor, oder klang das schon wieder etwas verschlossener? »Wo war das Lager denn eigentlich genau?«

»Hinter dem Dorf.« Julia Grote wedelte mit der Hand ungenau aus dem Laden hinaus. »Davon ist aber heute nichts mehr übrig. Nur den Appellplatz mit dem Mahnmal gibt es noch. Wenn das nicht wäre, würden Sie nichts mehr von dem Lager sehen.«

Heller überlegte, was sie wohl mehr bedauerte: dass von dem Lager fast nichts mehr übrig war, oder dass man die Reste nicht auch spurlos beseitigt hatte. »Kommt es öfter vor, dass ehemalige SS-Männer das Dorf besuchen?«

Julia Grote zuckte mit den Schultern. »Nicht dass ich wüsste. Früher hat es oft Ärger mit Neonazis gegeben. Aber seit die im Museum aufpassen und die Glatzen immer gleich rausschmeißen, ist es ruhig im Dorf. Bei Gedenkveranstaltungen sind manchmal ehemalige Häftlinge dabei, aber Nazis …« Sie schob den Teller mit den Brötchen über die Theke und deutete auf Hellers Tasse, die inzwischen leer war. »Noch einen?«

»Ja, gerne. Der Cappuccino ist prima.«

»Bleiben Sie länger hier?« Sie stand wieder mit dem Rücken zu ihrem Kunden und bediente den Vollautomaten.

»Wenn ich eine Unterkunft finde, ja. Gibt es hier eine Zimmervermittlung oder so was?«

»Hm, das nicht. Aber meine Tante Gerda vermietet Zimmer. Wenn Sie wollen, rufe ich sie mal an und frage. Zu dieser Jahreszeit hat die garantiert noch was frei.«

»Das wäre super.« Heller nahm die Tasse entgegen und stellte sich mit seinem Frühstück an einen der Stehtische.

Die junge Frau verschwand in einem angrenzenden Raum. Heller hörte, wie sie leise telefonierte. Dann kam sie zurück. »Geht klar. Nur frühstücken müssten Sie dann bei mir hier im Laden. Das schafft meine Tante in ihrem Alter nicht mehr. Sie hätten es auch gar nicht weit. Das Haus liegt an der Straße direkt unterhalb der Burg, in der Waldsiedlung.«

»Ist doch super. Dann bekomme ich jeden Morgen so einen hervorragenden Cappuccino.« Heller blinzelte Julia Grote zu und freute sich über den leichten Anflug von Rosa auf ihren Wangen.

Als er eine Viertelstunde später bezahlt hatte, machte er sich auf den Weg zurück zum Parkplatz und steuerte seinen Wagen über den Burghof und dann am Museum vorbei den Berg hinunter. Julia Grote hatte nicht zu viel versprochen. Am Hang unterhalb der Burg reihten sich schmucke Häuschen im Dreißiger-Jahre-Stil mit kleinen Gärten aneinander, in denen zu einer anderen Jahreszeit sicher die buntesten Staudengewächse blühten. Gleich gegenüber weitete sich der Blick über das Almetal. Heller stellte seinen Wagen ab und ließ seine Augen noch einen Moment über das Flüsschen, eine Brücke mit Bruchsteinbalustrade, eine alte Wassermühle und die ausladenden Wiesen bis hinüber zum Wald auf der anderen Seite des Tales streifen. Das hier war nun wieder Idylle pur. Vielleicht war Wewelsburg ja doch der ideale Ort für ihn, um ein oder zwei Wochen die Seele baumeln zu lassen.

*

Wewelsburg, den 17. Dezember 1939

Mein liebes, treues Hausmütterchen!

Nun bin ich also auf dem neuen Posten und will Dir berichten, wie ich mich hier eingerichtet habe.

Wewelsburg ist ein kleines Dorf mit etwa 1000 Einwohnern, so richtig ostwestfälisch und fast wie aus dem Märchenbuch. Und dann die Burg! Was hat unser Reichsführer doch für einen guten Geschmack! Das gewaltige Bauwerk erhebt sich in 50 Metern Höhe über dem ganzen Land und wird nun von einer privaten Firma vollständig überholt.

Unsere Baracken liegen etwa 500 Meter von der Burg entfernt. Zum Essen gehen wir immer in die Burg, aber das ist nicht einfach nur ein Essen, das man uns hier serviert, das ist ein Diner. Ich sage Dir, mein Muttchen, wenn Du Dich in Zukunft nicht anstrengst mit dem Kochen, bleibe ich für immer hier. Noch dazu wird uns das Essen in diesen gewaltigen Räumlichkeiten von niedlichen BDM-Mädchen serviert, da schmeckt es gleich doppelt so gut. So lässt sich der Krieg aushalten!

Neben dem SS-Wachdienst kommt nun auch noch die Verwaltungsarbeit dazu. Da werde ich in Zukunft wohl nicht mehr so viel Zeit zum Briefeschreiben haben wie in Sachsen­hausen. Es gibt eben doch immer wieder auch negative Seiten, wenn man seinen Dienst ernst nimmt.

Gestern Abend hatten wir unsere Julfeier. Wir haben uns aus dem Wald einen herrlichen, vier Meter großen Baum besorgt und auch Lichter und Schmuck waren schnell zur Stelle. Nach einem ergreifenden offiziellen Teil kam die Fidelitas. Zum Essen gab es Kartoffelsalat und Eier. Die Baufirma, die die Burg überholt, hat Rauchwaren und Moselwein gestiftet. Die Stimmung war hervorragend. Wir haben gesungen und völkische Vorträge gehört.

Heute haben wir einen Rundgang durch die Umgebung der Burg und des Lagers gemacht. Danach hatte ich eine Menge Bürokram. Am Abend bin ich wieder auf der Burg eingeladen. Zum Glück habe ich meine neue Uniform, denn ich verkehre nun in den besten Kreisen.

Ach, Du mein Hausmütterchen, wie freue ich mich auf die paar Tage über Weihnachten, wenn ich bei Euch sein kann und Du mich so recht verwöhnen darfst!

Behalt mich lieb bis dahin.

Dein treuer Vati

Der letzte Prozess

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