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Fabian Heller war spät dran. Er hatte mit Mühe einen Abstellplatz für sein Auto im Detmolder Industriegebiet gefunden und hastete nun durch die Nebenstraßen, wo – Heller traute seinen Augen nicht – die Reiterstaffel der nordrhein-westfälischen Polizei patrouillierte. Sein Ziel war das Gebäude der Industrie- und Handelskammer. Dorthin war der Prozess gegen den ehemaligen SS-Mann Reinhold Hanning vor der Schwurgerichtskammer des Landgerichts Detmold verlegt worden, da mit großem öffentlichen Interesse zu rechnen war und die Säle des Landgerichts nicht genügend Platz boten. Schließlich handelte es sich nicht nur um einen der seltenen Auschwitz-Prozesse in der deutschen Nachkriegsgeschichte, sondern angesichts des hohen Alters von Opfern und Tätern und der notwendigen Vorlaufzeit möglicherweise sogar um einen der letzten seiner Art – sicher aber um den letzten Prozess in Nordrhein-Westfalen.

Als Chefredakteur Brenner vom Westfälischen Anzeiger in Hamm ihm diesen Auftrag zugeschanzt hatte, hatte Heller sich erst einmal einlesen müssen. Was Nazi-Prozesse anging, hatte er überhaupt keine Ahnung gehabt. Das hatte er Brenner natürlich nicht verraten. Der hätte es fertiggebracht und den Auftrag Rogalski zugeschoben. Und bevor Rogalski einen Auftrag bekam … Jedenfalls hatte Heller eine Woche lang seine Wohnung und das Internet nicht mehr verlassen und war auf faszinierende Informationen gestoßen.

Dieser Prozess war überhaupt erst möglich geworden, weil sich in der deutschen Rechtsprechung ein Paradigmenwechsel ereignet hatte. Nach den großen Auschwitz-Prozessen in Frankfurt in den Jahren 1963 bis 1965 hatten einem ehemaligen SS-Mann konkrete einzelne Mordfälle nachgewiesen werden müssen, was in der Konsequenz bedeutete, dass eine Verurteilung wegen Massenmordes in Auschwitz nahezu unmöglich war und es schon deshalb gar nicht erst zur Anklage kam. Tausende alter Nazis hatten so jahrzehnte­lang unbehelligt überall in Deutschland leben und arbeiten können. Seit Kurzem reichte jedoch der Nachweis, dass ein Täter durch seine Arbeit im Konzentrationslager das System des Massenmordes in Auschwitz ermöglicht und unterstützt hatte. Man musste also nur noch beweisen, dass ein SS-Mann zu einer bestimmten Zeit im Konzentrationslager tätig gewesen war, und konnte ihn so mit den zu dieser Zeit begangenen Morden in Verbindung bringen.

Diese Neuausrichtung der deutschen Justiz war mit dem Fall John Demjanjuk im Mai 2011 eingeleitet worden. Der KZ-Wachmann war wegen Beihilfe zum Mord an 28.060 Menschen im Lager Sobibor zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt worden. Skandalös wenig, wie Heller fand. Aber es war immerhin ein Anfang gewesen, denn im Zuge der Ermittlungen nach diesem Urteil hatte die Schwerpunktstaatsanwaltschaft Dortmund fünf weitere ehemalige SS-Männer aufgespürt und Anklage erhoben. Im Sommer 2015 war dann der SS-Unterscharführer Oskar Gröning, ›der Buchhalter von Auschwitz‹, in Lüneburg wegen Beihilfe zum Mord an 320.000 Juden im Konzentrationslager Auschwitz zu vier Jahren Gefängnis verurteilt worden. Das waren knappe sieben Minuten Strafe pro ermordetem Juden, wie Heller fassungslos nachgerechnet hatte.

Und nun lief in Detmold das Verfahren gegen den SS-Mann Hanning. Entsprechend groß war das Interesse der internationalen Medien. Zum Glück konnte sich Fabian Heller als akkreditierter Journalist in die Presseschlange einreihen, in die bereits Bewegung gekommen war, als er um die letzte Ecke hastete. Die um einiges längere Besucherschlange musste noch warten. In Fünfergruppen wurden die Medienvertreter, die aus ganz Europa kamen, eingelassen. Alle bedeutenden Fernsehsender und Polit-Magazine waren hier vertreten. Heller erblickte Kolleginnen und Kollegen, die er bislang nur aus dem Fernsehen kannte, und einige der regionalen Presseorgane. Der Kollege vom Westfälischen Volksblatt nickte ihm zu. Sie hatten sich vor einiger Zeit beim Landesparteitag der Linkspartei kennengelernt und, wie Heller sich erinnerte, anschließend höchst unterschiedlich darüber berichtet. Der Konkurrent von der Neuen West­fälischen tippte hinter dem Mann vom Volksblatt auf seinem Handy herum. Die beiden standen so weit vorne, dass sie das Gebäude mit dem nächsten Schub betreten durften.

Heller rückte fünf Schritte vor und blickte sich um. Eine Gruppe uniformierter Polizisten stand etwas abseits und beobachtete das Geschehen. Sie wirkten geradezu unbeteiligt, als fühlten sie sich überflüssig. Allerdings schien man hier auf alles vorbereitet zu sein: Feuerwehr war vor Ort, Notarzt- und Rettungswagen standen am Straßenrand. Und die stolze Kavallerie aus Düsseldorf präsentierte hochherrschaftlich die Entschlossenheit des Rechtsstaates. Wozu so eine Reiterstaffel doch gut sein konnte!

Während die Journalisten sich nur verhalten austauschten und allenfalls etwas zu erfahren versuchten, ohne selbst ein Quäntchen preiszugeben, wurde in der Besucherschlange rege diskutiert. Ein älterer Mann und eine junge Frau stritten über den Sinn des Prozesses »so viele Jahre nach dem Krieg«, wie der Mann meinte. Die Frau argumentierte, Mord verjähre nun einmal grundsätzlich nicht und außerdem verstehe sie überhaupt nicht, was die Judenverfolgung mit dem Krieg zu tun haben sollte. Der Mann verwahrte sich gegen die Wortklauberei, was wiederum den Protest der jungen Frau hervorrief: Den industriellen Massenmord mit dem Zweiten Weltkrieg in einen Topf zu werfen, reduziere Auschwitz auf ein Kriegsgeschehen, für das man möglicherweise noch Verständnis aufbringen sollte. Derartige Verharmlosungen seien völlig unangemessen und würden den Opfern nicht gerecht.

»Im Krieg hat es auch Opfer gegeben«, murrte der Alte, »auch auf deutscher Seite. Und von den Millionen Vertriebenen will ich gar nicht erst reden.«

»Der ist doch unbelehrbar«, presste die junge Frau zwischen wütend zusammengebissenen Zähnen hervor und wandte sich kopfschüttelnd ihrer Begleiterin zu.

Heller rückte fünf Schritte vor. Hinter ihm hatten sich inzwischen weitere Journalisten angestellt.

Am Ende der Besucherschlange wurde es laut. Eine alte Frau versuchte, ihren Platz in der Reihe zu behaupten, während zwei junge Männer sie unnachgiebig hinausdrängten. Auch die junge Diskutantin bemerkte das Geschehen, gab ihren Platz in der Schlange auf und lief dorthin, um die Männer zu unterstützen.

»Das ist doch unerhört!«, wütete die alte Dame. »Wo ist denn die Polizei?«

Zwei Beamte eilten hinzu und erkundigten sich, was los sei. In dem Moment skandierten einige der Wartenden »Nazis­ raus!«, so dass Heller nicht verstehen konnte, was dort gesprochen wurde. Nur dass die Aufregung in der Besucherschlange zunahm und die alte Frau schließlich schimpfend davonging, bekam er mit. Mit einem Siegerlächeln kehrte die streitbare junge Frau wieder zurück an ihren Platz in der Schlange. Ihre Begleiterin klopfte ihr auf die Schulter und auch die anderen Umstehenden fanden, dass »dieses Nazipack« im Gerichtssaal nichts verloren habe. Nur der alte Mann fragte grimmig, wie ein derartiges Verhalten sich mit der Meinungsfreiheit vertrage.

Heller rückte inzwischen weiter vor und durfte schließlich in einer Fünfergruppe das Gebäude betreten. Uniformierte Beamte forderten ihn auf, seine Taschen in eine Kunststoffbox zu leeren, seinen Presseausweis abzugeben und durch die Sicherheitsschleuse zu gehen. Auf der anderen Seite wurde er gründlich auf versteckte Waffen abgetastet. Dann bekam er seine Sachen zurück und durfte zusammen mit den anderen vier Journalisten den Sitzungssaal betreten.

Für die Pressevertreter waren Plätze reserviert worden. Dorthin wandte sich Fabian Heller und setzte sich neben eine junge Kollegin, die eifrig etwas in ihr Tablet tippte und von ihm keinerlei Notiz nahm. Heller fand, dass die Bezeichnung Kollege im Journalismus ein reiner Euphemismus sei. Immer ging es nur um die schnellste Nachricht und die beste Schlagzeile – darum also, dass man der Konkurrenz den entscheidenden Schritt voraus war. Seufzend zog er sein Tablet mit angedockter Tastatur aus der Tasche und öffnete das Notizbuch in OneNote, das er zu Hause schon eingerichtet hatte. Unter dem Reiter 11.02.2016 hatte er die Seite rund um den Prozess angelegt und nun notierte er in Stichworten die Beobachtungen, die er in der Warteschlange gemacht hatte.

Als die Pressebänke gefüllt waren, strömten auch die anderen Besucher gruppenweise in den Saal. Niemals würden die sechzig Zuschauerplätze für alle Menschen reichen, die draußen standen. Auf der gegenüberliegenden Seite setzten sich die beiden streitbaren jungen Frauen in die vorletzte Reihe. Heller nahm sich vor, nach der Sitzung zu ihnen zu gehen und sich die Vorkommnisse von draußen erklären zu lassen.

Dann betraten der Staatsanwalt, die Vertreter der vierzig Nebenkläger und die beiden Verteidiger den Saal, postierten sich vor ihren Tischen und schaufelten Unterlagen aus ihren Aktentaschen. Heller grinste über das Ritual, das etwas von psychologischer Kriegführung hatte: Man präsentierte sich zunächst einmal gegenseitig das Waffenarsenal, ohne dass ersichtlich wurde, wie viele Blindgänger und Rohrkrepierer darunter waren, was nur als Kulisse diente und wie viel Schlagkräftiges sich wirklich dazwischen verbarg. Bedrohlich wirkten die Aktenstapel allemal. So zeigten sich Juristen vor Gericht, wer den Längsten hatte.

Ein Raunen ging durch den Saal, als der Angeklagte hereingeführt wurde – ein vierundneunzigjähriger Greis mit gebeugtem Kopf und schleppendem Gang. Harmlos wirkte er, ein bisschen gebrechlich; der nette Opa von nebenan mit grauem Haar, grauem Anzug, gelbem Pullunder über einem weißen Hemd und modischer Brille. So also sieht eine Bestie aus, dachte Heller, einer, der an den Morden in Auschwitz beteiligt gewesen ist. Kein Wunder, dass die fast alle nach 1945 so leicht hatten untertauchen und unbehelligt weiterleben können.

Die Vorsitzende Richterin betrat den Saal. Alle erhoben sich. Sie eröffnete die Verhandlung und forderte den Oberstaatsanwalt auf, die Anklageschrift zu verlesen. Sie wollte keine Zeit verlieren, das war eindeutig, denn angesichts des Gesundheitszustandes des Angeklagten waren die Prozesstage auf maximal zwei Stunden Dauer festgesetzt worden.

Oberstaatsanwalt Brendel von der Schwerpunktstaatsanwaltschaft für NS-Verbrechen in Dortmund referierte, was dem Angeklagten zur Last gelegt wurde: Beihilfe zum Mord in mindestens 170.000 Fällen in der Zeit von Januar 1943 bis Juni 1944 in Auschwitz/Polen. Er berichtete von den Vergasungen im Lager Birkenau, von den Erschießungen an der ›schwarzen Wand‹, von Leichengruben, Hunger und Kältetod und von den Selektionen an der Rampe, die in den meisten Fällen direkt in die Gaskammern geführt hatten.

Im Januar 1942 sei der Angeklagte in das Konzentrationslager Auschwitz versetzt worden, wo er der 5. und später der 3. Kompanie des SS-Totenkopfsturmbanns angehört habe und unter anderem für die Bewachung des Stammlagers Auschwitz I zuständig gewesen sei. Außerdem habe er als Wachmann an der Ausladung und Selektion der Gefangenentransporte für das Lager Auschwitz II Birkenau teilgenommen.

Unglaublich, dachte Heller und betrachtete den harmlosen Greis auf der Anklagebank.

Der Staatsanwalt führte aus, dass dieser Prozess einen begrenzten Rahmen setze, einen, in dem die Taten des Angeklagten eindeutig nachweisbar seien. Es handele sich um die sogenannte Ungarn-Aktion in der Zeit von Mai bis Juni 1944, in deren Rahmen 92 Transporte Juden nach Auschwitz gebracht hätten. Innerhalb von fünf Stunden seien diese abgefertigt worden – von der Rampe über die Gaskammern und Krematorien bis ins Massengrab.

Heller erinnerte sich, dass für genau diese Aktion bereits Oskar Gröning verurteilt worden war. Das ließ auf einen erfolgreichen Ausgang auch dieses Prozesses in Detmold hoffen.

Der Staatsanwalt betonte, dass der Angeklagte Beihilfe zu den Massenerschießungen in Block 11 des Lagers Auschwitz I und zur Selektion Kranker und Schwacher innerhalb des Lagers geleistet habe. Zudem sei Hanning daran beteiligt gewesen, die schlechten Lebensverhältnisse zu schaffen, unter denen die Häftlinge möglichst schnell sterben sollten. Insgesamt kamen also vier Tatbereiche zur Anklage.

Immer wieder ging ein Raunen durch die Reihen der Besucher, während das leise Klappern der Laptoptastaturen im Raum hing. Fabian Heller hatte Mühe, auf seinem Tablet mitzukommen. Außerdem versuchte er zwischendurch immer wieder, irgendeine Regung im Gesicht des Angeklagten zu erkennen. Reinhold Hanning aber zeigte keine Regung. Mit gebeugtem Kopf blickte er auf den Tisch, die Hände im Schoß gefaltet. Das alles hier schien nichts mit ihm zu tun zu haben. Dabei hatte er doch, wie Heller gelesen hatte, bei seiner Vernehmung im vergangenen Jahr zugegeben, dass er als Wachmann in Auschwitz gearbeitet hatte.

Der Oberstaatsanwalt kam nun zu der Karriere Reinhold Hannings innerhalb des NS-Apparates. Nach der Volksschule habe er zunächst in einer Fahrradfabrik gearbeitet und sich im Juni 1940 zur Waffen-SS gemeldet. Als Angehöriger der SS-Division Das Reich habe er auf dem Balkan und später in Russland gekämpft, bis er Anfang 1942 als Sturmmann nach Auschwitz gekommen sei. Dort habe seine Karriere Fahrt aufgenommen: im Februar 1942 Beförderung zum SS-Rottenführer, im September zum SS-Unterscharführer. Dass ihm nur die Verbrechen ab 1943 zum Vorwurf gemacht wurden, begründete der Staatsanwalt damit, dass Hanning kurz vorher einundzwanzig Jahre alt geworden sei und damit volljährig. Zu der Zeit müsse er zudem gewusst haben, woran er sich da beteiligte.

»Reinhold Hanning waren sämtliche Tötungsarten und -methoden bekannt«, schloss der Oberstaatsanwalt. »Ihm war bewusst, dass sämtliche Tötungsmethoden ständig bei einer hohen Zahl von Menschen angewandt wurden und dass auf diese Art und Weise und mit der geschehenen Regel­mäßigkeit nur getötet werden konnte, wenn die Opfer­ durch Gehilfen wie ihn bewacht wurden. Er wollte mit seiner Wachdiensttätigkeit die vieltausendfach geschehenen Tötungen der Lagerinsassen durch die Haupttäter fördern oder zumindest erleichtern.« Mit diesen Worten zog sich der Oberstaatsanwalt hinter seinen Aktenstapel zurück.

Nun hatte die Verteidigung das Wort. Hannings Rechtsanwalt verschränkte seine Arme vor der Robe und verkündete: »Unser Mandant wird sich derzeit nicht zur Sache äußern.« Stattdessen stellte er zunächst den Antrag auf Widerspruch der Verwertbarkeit der Aussagen seines Mandanten bei dem Verhör im Jahre 2014. Reinhold Hanning sei von den Ermittlern überrascht worden. Der alte Mann sei dieser überfallartigen Situation nicht gewachsen gewesen und sei Opfer einer »kognitiven Schwäche« geworden. Entsprechend sei sein Geständnis, in Auschwitz tätig gewesen zu sein, nicht gerichtsverwertbar. Eine Beteiligung an den Morden bestreite er ohnehin grundsätzlich. Weitere Aussagen werde er zum jetzigen Zeitpunkt aber nicht machen.

Stattdessen referierte der Verteidiger nun seinerseits den Lebenslauf des Angeklagten. Danach war Hanning seit 1940 beim Militär gewesen und 1944 in englische Kriegsgefangenschaft geraten. Am 20. Mai 1948 sei er daraus wieder entlassen worden, habe ein Jahr lang als Koch bei der Standortverwaltung gearbeitet, anschließend als Verkäufer und Ausfahrer in einer Molkerei, die er 1969 übernommen und bis 1984 geführt habe. In diesem Vortrag fiel nicht ein einziges Mal das Wort Auschwitz und auch von der SS-Mitgliedschaft seines Mandanten sprach der Rechtsanwalt nicht.

Fabian Heller konnte das Unwohlsein, das sich angesichts dieser technischen Abarbeitung eines Bereichs des wohl umfassendsten Massenmordes aller Zeiten im Gerichtssaal ausgebreitet hatte, geradezu mit Händen greifen. Wie musste den Opfern wohl zumute sein, deren individuelles Leid derart technokratisch auf ein juristisches Taktieren zu Gunsten des Täters reduziert wurde?

Das schien auch die Richterin zu spüren und so verkündete sie eine Anmerkung, bevor die Beweisaufnahme eröffnet würde. Sie stellte fest, dass dieser Prozess ein ganz besonderer sei, weil er eine politische Dimension habe. Und sie machte klar, dass es vor allem um die individuelle Schuld des Angeklagten gehe. »Der geschichtliche Kontext, das Grauen von Auschwitz, ist hinreichend geklärt«, stellte sie klar und ließ ihren Blick durch den Saal gleiten, bis er sich an dem Verteidiger Hannings verfing. »Darum wird es hier in Detmold nicht mehr gehen!«

Heller verstand das als Warnung an die Adresse der Verteidigung, nicht zu versuchen, unnötige Nebenkriegsschauplätze aufzumachen und Nebelkerzen zu werfen.

Hier werde es nun vielmehr um das Anliegen der Opfer gehen, die Geschichte ihres Leidens vor einem deutschen Gericht vorzutragen. »Und dem wollen wir nachkommen«, sagte die Richterin in einem Tonfall, der keinerlei Zweifel zuließ.

Nachdem das geklärt war, eröffnete sie die Beweisaufnahme, rief den Zeugen Leon Schwarzbaum in den Zeugenstand und forderte ihn auf, zunächst seine biografischen Daten zu Protokoll zu geben. Der vierundneunzig Jahre alte Mann wirkte gefasst, aber seinem Gesicht glaubte Heller das Leid ansehen zu können, das er seit über siebzig Jahren mit sich herumtrug. In seinem schwarzen Anzug und mit dem schütteren Haar wirkte er älter und gebrechlicher als Reinhold Hanning.

Schwarzbaum entfaltete einen Zettel, blickte kurz darauf und berichtete dann, dass er in Hamburg geboren worden und im Alter von drei Jahren mit seiner Familie in die Heimat seiner Mutter, nach Bedzin in Polen, vierzig Kilometer von Auschwitz entfernt, übergesiedelt sei. Dort habe er ein gutes Leben gehabt, mit Musik und Sport.

»Dann brach das Grauen über uns herein«, sagte er tonlos. 1943 sei das gewesen, als seine Eltern abgeholt und nach Auschwitz-Birkenau verschleppt worden seien, am 22. Juni. In den folgenden drei Tagen seien viele Bedziner Juden, unter ihnen seine Eltern, vergast worden. Vier Wochen später hätten die Nazis dann ihn abgeholt. »Fünfund­dreißig Mitglieder meiner Familie wurden ermordet«, las Leon Schwarzbaum von seinem Zettel ab und Heller bewunderte den alten Mann für die Haltung, die er hier im Gerichtssaal angesichts dieser fürchterlichen Erlebnisse bewahrte. »Man ahnte, was in Auschwitz geschah. Die Maurer, die dort Gaskammern bauten, erzählten davon. Eltern warfen daraufhin ihre Kinder aus den Zügen in der Hoffnung, dass wenigstens diese überlebten.« Bei der Beschreibung der Geschehnisse auf der Rampe versagte Leon Schwarzbaums Stimme kurz, aber er zwang sich, weiterzuerzählen: »Ich stand daneben, als ein siebzehnjähriges Mädchen erschossen wurde. Sie hatte rote Haare. Ich sah, wie der SS-Sturmführer Schwarzhuber auf dem Motorrad vor einem Lastwagen herfuhr, auf dem nackte Menschen zusammengepfercht waren. Sie weinten, sie schrien, sie reckten die Hände zum Himmel. Dantes Inferno. Ich träume noch heute davon. Jeden Tag verfolgen mich die Bilder aus Auschwitz. Die SS war grausam und sadistisch.«

Im Gerichtssaal war es nun totenstill. Mit der Aussage Leon Schwarzbaums hatte sich die Atmosphäre vollständig geändert. Nichts mehr war zu spüren von der kalten juristischen Technokratie. Nur Reinhold Hanning schien von der Leidensgeschichte vollkommen unberührt.

Der Zeuge blickte von seinem Zettel auf und fragte in nachdenklichem Tonfall ohne bestimmtes Ziel: »Warum haben sie das getan? Warum haben sie alle diese Menschen umgebracht? Was war die Motivation? Das möchte ich gerne wissen.« Und direkt an den Angeklagten gewandt, fuhr er fort: »Herr Hanning, wir sind fast gleich alt und bald stehen wir vor dem höchsten Richter. Ich möchte Sie auffordern: Sprechen Sie darüber, was Sie und Ihre Kameraden getan und erlebt haben.«

Der Angeklagte blickte vor sich auf die Tischplatte und schwieg. Keine Regung war seinem Gesicht anzusehen, kein Zucken um die Mundwinkel, nichts, das auch nur ansatzweise so etwas wie Gefühl verraten hätte.

Stattdessen meldete sich sein Verteidiger zu Wort: »Die Verhandlungszeit für meinen Mandanten ist abgelaufen. Laut medizinischem Gutachten sind ihm nur zwei Stunden zuzumuten. Davon müssen die Fahrt zum Gericht und fünfzehn Minuten vor Verhandlungsbeginn abgezogen werden. Folglich sind wir schon fünf Minuten drüber.«

Heller hätte den Mann erwürgen können.

Vor dem Gebäude hielt er nach der jungen Frau Ausschau, die vor der Verhandlung an der Aktion gegen die alte Dame beteiligt gewesen war. Sie befand sich in einer erregten Diskussion mit anderen Prozessbeobachtern und ereiferte sich gerade über die Schlussbemerkung des Verteidigers.

»Das ist doch unerträglich«, wütete sie. »Der arme Massenmörder kann nicht mehr als zwei Stunden am Tag behelligt werden, aber den Opfern mutet man zu, aus Israel und Kanada anzureisen, um hier ihre Aussagen zu machen. Der Rechtsstaat macht sich lächerlich und wir lassen das zu!«

»Immerhin findet der Prozess nun statt«, wandte ein Mann ein, den Heller auf etwa fünfzig Jahre schätzte. »Der Staat duldet keine Beteiligung am Massenmord. Das ist doch ein wichtiges Signal.«

»Ja, siebzig Jahre nach der Tat! Aber lassen wir das.« Die junge Frau winkte ab und wandte sich zum Gehen.

Heller trat ihr in den Weg und machte, als sie ihn grimmig anfunkelte, eine beschwichtigende Geste. »Fabian Heller, freier Journalist«, stellte er sich vor. »Ich würde Sie gerne einen Moment sprechen.«

»Worum geht’s?«

»Um die Situation vorhin hier vor dem Gebäude. Wer war die alte Frau, mit der Sie in Streit geraten sind?«

»Ich bin nicht mit ihr in Streit geraten, ich habe dafür gesorgt, dass sie verschwindet.«

»Das habe ich gesehen. Aber warum?«

»Weil das eine vorbestrafte Holocaust-Leugnerin ist. Ursula Haverbeck hat schon bei dem Gröning-Prozess in Lüneburg behauptet, dass Auschwitz gar kein Vernichtungslager gewesen sei, sondern lediglich ein Arbeitslager. Die Alte ist deshalb zu einer Gefängnisstrafe verurteilt worden, aber das hält sie nicht davon ab, ihre rechte Hetze weiterhin zu verbreiten. Wenn wir sie nicht daran gehindert hätten, dann hätte diese Nazi-Tante eben im Gerichtssaal gesessen. Das wäre eine Verhöhnung der Opfer gewesen und die Polizei hätte nichts dagegen unternommen. Die wussten ja nicht mal, wer das war.«

Heller machte sich Notizen auf einem kleinen Spiralblock und sagte dann: »Frau …«

»Hesse.«

»Frau Hesse, Sie sind offenbar eine sehr engagierte Bürgerin. Ich habe Ihre Wut eben mitbekommen. Können Sie mir sagen, warum Sie so wütend auf die Justiz sind?«

»Weil sie sich vorführen lässt. Gucken Sie sich den Prozess gegen Beate Zschäpe in München an. Seit über drei Jahren führt die Nazisse die Justiz an der Nase herum. Die hat drei Verteidiger und wenn es eng wird, stellt sie einen Antrag auf Mandats-Entbindung. Diese Verbrecher bekommen jede Unterstützung und wie ist man mit den Opfern umgegangen? Kriminalisiert hat man die. Die Nachfahren und Überlebenden müssen mit ansehen, wie die Ehre ihrer Väter mit Füßen getreten wird, während die Ehre der Mörderin – mutmaßlichen Tatbeteiligten, da muss man ja sehr gut aufpassen – stets gewahrt werden muss. Und hier läuft wieder genau dieselbe Scheiße. Zwei Stunden sind dem Herrn Massenmörder zumutbar. Zwei Stunden! Das hat seit siebzig Jahren Methode in Deutschland. Wissen Sie, wie ich das finde? Zum Kotzen finde ich das!«

Sie drehte sich abrupt um und rauschte ohne Gruß in Richtung Parkplatz davon. Heller sah ihr nach und fragte sich, warum er selbst so ruhig bleiben konnte, obwohl er doch all dem zustimmte, was die junge Frau gesagt hatte. Und auch sonst regte sich niemand in seinem Umfeld dermaßen auf. Woher kam dieser Mangel an Empathie, diese Gleichgültigkeit?

Er steckte seinen Spiralblock in die Tasche und machte sich sehr nachdenklich auf den Rückweg zu seinem Wagen.

Der letzte Prozess

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