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Lenz hatte seine Leute im Besprechungsraum versammelt und berichtete von den vorläufigen Ergebnissen der gerichtsmedizinischen Sektion. Je grausamer die Details wurden, desto mehr drückte die Stille unter den Kollegen auf den Raum.

»Das Opfer ist also über einen Zeitraum von etwa drei Tagen gefoltert worden«, fasste Lenz zusammen. »Die Folterwerkzeuge sind ungewöhnlich: eine mehrsträngige Lederpeitsche, ein Stock und ein Instrument, von dem wir nur wissen, dass es mit zehn Zentimeter breiten Fesselungsmanschetten versehen ist. Das lässt darauf schließen, dass der Mann an einem abgeschiedenen Ort gefangen gehalten wurde, an dem niemand die Schreie hören konnte. Wir können weiterhin davon ausgehen, dass das Mordopfer etwa neunzig Jahre alt war und in guten Verhältnissen gelebt hat. Darauf müssen wir die Suche eingrenzen.«

»Könnte sein, dass ich da schon etwas habe«, meldete sich Gisbert Henke zu Wort. Der Kriminalkommissar blätterte in einigen Papieren, die er vor sich liegen hatte, und tippte schließlich auf einen der Zettel. »Ich bin die aktuellen Vermisstenmeldungen durchgegangen und da gibt es tatsächlich eine, die zu unseren Kriterien passt. In der Seniorenresidenz Friedenstal in Büren ist seit drei Tagen ein vierundneunzigjähriger Mann namens Anton Kottmann abgängig.«

»Sehr gut, Kollege«, lobte Lenz. »Wissen wir Näheres über die Umstände des Verschwindens?«

»Nur dass der alte Herr nach dem Freigang …« Henke stutzte kurz und blickte seinen Nebenmann an. »Nennt man das im Altersheim auch Freigang? Na, egal … Jedenfalls hat der alte Mann zwei Stunden am Nachmittag draußen im Park verbracht und war danach verschwunden.«

»Dann sollte umgehend jemand dorthin fahren und der Sache nachgehen«, sagte Lenz.

»Die Kollegin Gladow und ich werden gleich im Anschluss nach Büren fahren«, brummte Schröder, der bislang schweigend in der Runde gesessen hatte und regelrecht zu schmollen schien.

»Leider ist ja nun von dem Gesicht des Toten nichts mehr zu erkennen«, wandte Gina Gladow ein. »Wir müssen sehen, dass wir in der Residenz DNA-Material von Anton Kottmann bekommen, um einen Abgleich mit dem Opfer machen zu können. Aber das dürfte ja kein Problem sein.«

»Richtig«, bestätigte Lenz und wandte sich wieder Kriminalkommissar Henke zu. »Sonst gibt es keine Meldung, die auf unseren Toten zutreffen könnte?«

»Nein.« Henke blätterte noch einmal vor und zurück, als müsse er sich selbst davon überzeugen, und schüttelte dann den Kopf. »Nichts.«

»Gibt es schon erste Erkenntnisse bezüglich vergleichbarer Fälle in den letzten Jahren?« Lenz blickte die anderen Beamten direkt an.

»Dafür müssen ja nun erst mal die Akten hier sein«, meckerte Oberkommissar Steinkämper zurück.

»Entschuldigung!« Lenz hob beide Handflächen in Richtung des Kollegen. »In Zeiten der Digitalisierung hätte es ja sein können.«

»Wir sind hier in der Provinz«, wandte Oberkommissar Jakobsmeier ein, dem die harsche Reaktion seines Kollegen sichtlich unangenehm war.

»Nun gut, wir sollten trotzdem keine Zeit verlieren.« Lenz erhob sich von seinem Stuhl. »Solange wir keinen weiteren Treffer haben, werden Sie, Kollege Henke, alles über diesen Kottmann in Erfahrung bringen, was Sie finden können. Außerdem brauche ich zur ersten Orientierung möglichst schnell eine kurze Zusammenfassung über die Umgebung des Tatortes. Sprechen Sie sich bitte untereinander ab, wer welche Aufgabe übernehmen will. Also, Kollegen, an die Arbeit.«

Während die drei Männer den Raum verließen, hielt Lenz die junge Kommissarin und Hauptkommissar Schröder zurück. »Wir beide, Frau Gladow, werden nach Büren in die Senioren-Residenz fahren. Sie, Herr Schröder, bleiben hier und koordinieren die Arbeit.«

Ohne sich weiter um den immer noch schmollenden Hauptkommissar zu kümmern, nickte er seiner jungen Kollegin zu, die auch gleich aufsprang und den Raum verließ. Lenz folgte ihr am Aufzug vorbei zur Treppe, deren Stufen sie in einem Tempo nahm, dass er Mühe hatte, ihr zu folgen.

»Moment, Kollegin!«, rief Lenz, als sie im Erdgeschoss an der Tür zum Verkehrskommissariat vorbeikamen. Er gab ihr ein Zeichen, betrat die Abteilung für die Verkehrsanzeigenbearbeitung und suchte die Tür des Leiters, neben der auf einem Wandschild KHK Steinbrecher stand.

Das kurze Klopfen an die Tür und das Eintreten waren eine Bewegung. Gina Gladow folgte ihm dicht auf den Fersen. Hinter einem Schreibtisch saß ein Mann mittleren Alters mit Stoppelschnitt und harten Gesichtszügen. Steinbrecher passt, dachte Lenz und ging direkt auf ihn zu. »Kollege Steinbrecher, nehme ich an.« Er hielt ihm die Hand entgegen. »Ich bin Stefan Lenz, der neue Leiter des KK1.«

»Angenehm«, entgegnete Steinbrecher förmlich und ergriff die Hand, ohne sich zu erheben. »Was kann ich für Sie tun? Oder machen Sie nur die Runde, um sich vorzustellen?«

»Nee nee!« Lenz winkte lachend ab. »Ich bin im Grunde noch gar nicht hier. Erst ab Montag. Aber ich habe ein konkretes Anliegen – unter Kollegen sozusagen.« Er zwinkerte Steinbrecher verschwörerisch zu und senkte die Lautstärke. »Heute Morgen bin ich auf der B1 in Höhe der Autobahnauffahrten geblitzt worden. Ist ja reichlich unübersichtlich, die Stelle; und dann war da noch so ein aufdringlicher Porsche an meinem Hintern. Kurz und gut: Ich wollte nur Bescheid sagen, wen es da erwischt hat. Damit ihr das Ticket nicht irrtümlich noch rausschickt.« Er lachte einmal kurz auf.

Steinbrecher lehnte sich in seinem Stuhl zurück und fragte mit zusammengezogenen Brauen verständnislos: »Wo, bitte schön, wäre da der Irrtum, wenn wir es an Sie versenden würden? Oder möchten Sie, dass wir es persönlich zu Ihnen hochbringen, um der Behörde das Porto zu sparen?«

»Na, ich bitte dich, Kollege. Ich bin einer von euch und war außerdem auf dem Weg hierher.«

»Ich verstehe immer noch nicht. Mussten Sie da zu schnell fahren? Waren Sie im Einsatz? War Gefahr in Verzug oder so etwas?«

»Abgesehen davon, dass Kriminaldirektor Heitkamp mich erwartete und ich spät dran war, nicht – wenn du verstehst, was ich meine.« Lenz kniff Steinbrecher erneut ein Auge zu und lächelte verschmitzt, bewirkte dadurch aber keinerlei Veränderung der gefühlskalten Beamtenmimik seines Gegenübers. »Soll dein Schaden auch nicht sein«, fügte er deshalb vorsichtshalber hinzu. »Was trinkst du? Red Label?«

»Ich bin mir zwar nicht so sicher, ob ich das jetzt verstehen muss, aber eines ist für mich klar: Der Gebührenbescheid geht raus. Ich sehe überhaupt keinen Grund dafür, dass ich in Ihrem Fall eine Ausnahme machen sollte, zumal ich das auch gar nicht darf.«

»Sagen Sie mal«, wechselte Lenz jetzt ebenfalls in die distanzierte Anredeweise, »wie seid ihr hier eigentlich drauf? Oben verarscht ein Vorgesetzter seine Mitarbeiter und hält sich offenbar für tabu, was Kritik angeht, und ihr hier unten bei der Verkehrswacht haut Kollegen in die Pfanne? In Hamm würde keiner von euch im Dienst auch nur zwei Tage alt. Und in Dortmund würde man euch geteert und gefedert aus der Stadt jagen.«

Steinbrecher lächelte breit. »Sie meinen das tatsächlich ernst, was? Sie erwarten wirklich, dass ich Ihre Geschwindigkeitsübertretung nur deshalb unter den Tisch fallen lasse, weil Sie Polizeibeamter sind? Das ist Vorteilsnahme im Amt, Herr Kollege. Dafür sind in Paderborn schon ganz andere einem staatsanwaltlichen Ermittlungsverfahren unterworfen und mit einer Dienstaufsichtsbeschwerde belegt worden. Und jetzt muss ich Sie bitten, mich weiterarbeiten zu lassen. Sie haben ja sicher auch Besseres zu tun, als Ihre Freizeit auf der Dienststelle zu verbringen.«

Lenz konnte es nicht fassen. ›Einem staatsanwaltlichen Ermittlungsverfahren unterworfen‹, dachte er, ›mit einer Dienstaufsichtsbeschwerde belegt‹. Was ist das denn für ein Kollegenschwein? Kopfschüttelnd drehte er sich zur Tür und verzichtete diesmal selbst auf den Handschlag.

»Und bestellen Sie dem Oberkreisdirektor einen schönen Gruß von mir«, hörte er Steinbrecher noch rufen. »So leicht lasse ich mich nicht aufs Glatteis führen.«

Einen Moment lang war Lenz versucht, ins Dienstzimmer zurückzukehren und sich die letzte Bemerkung erklären zu lassen, aber dann entschloss er sich anders. Hier schien unter der Oberfläche irgendetwas zu gären, das er noch nicht verstehen konnte. Die trauten sich hier gegenseitig nicht über den Weg. Und er konnte sich nicht vorstellen, dass ausgerechnet Kriminalhauptkommissar Steinbrecher ihm die Sachlage näher erläutern würde.

Seufzend folgte er der grinsenden Gina Gladow über den Flur. »Was ist das denn für ein Sesselfurzer?«, fragte er sie auf dem Weg nach draußen.

Sie zuckte mit den Schultern. »Wenn Sie mich so direkt fragen, gibt es da ja wohl zwei Möglichkeiten. Entweder steht er nicht auf Johnny Walker, oder er kann Ihre Schimanski-Tour nicht ab. Ich tippe ja eher auf Letzteres.«

Darüber musste Lenz einen Augenblick nachdenken. Unsinn, beschloss er, die haben hier einfach nur alle den Arsch offen!

Auf dem Parkplatz steuerte Gina Gladow einen silberfarbenen VW Passat an, drückte auf die Fernbedienung und ging wie selbstverständlich zur Fahrerseite. Lenz überlegte einen Moment, ob er sie auf den Beifahrersitz verbannen sollte, aber dann ließ er es. Erstens wollte er kein weiteres Ticket riskieren, zweitens verstieß er womöglich schon wieder gegen irgendein ungeschriebenes Paderborner Gesetz, wenn er sich nicht von seiner Untergebenen chauffieren ließ, und drittens kannte er sich im Kreis Paderborn ja auch gar nicht aus.

Die junge Beamtin fuhr zügig und sicher, während Lenz die wenig einladende Vorstadt mit den Bahngleisen zu seiner Linken an sich vorbeiziehen ließ. Dabei musste er sich zwingen, nicht in den Ausschnitt seiner Kollegin zu starren, der in seiner Blickrichtung prangte und eine magnetische Anziehungskraft auf ihn hatte. Stattdessen konzentrierte er sich auf das Profil seiner Kollegin. Ihr geringes Alter stand für ihn im Widerspruch zu ihrem selbstbewussten Auftreten. Das hätte eher zu einer fünfundzwanzigjährigen Diensterfahrung gepasst. Offenbar hatte Lenz es hier mit einer geborenen Kriminalbeamtin zu tun, die sich ihres Handelns instinktiv sicher war. Und obendrein wurde man in der Polizeiführungsakademie in Münster auch ganz hervorragend ausgebildet.

Die junge Kommissarin räusperte sich vernehmlich und sagte, ohne ihn dabei anzusehen: »Wenn Sie mir weiter so auf die Titten starren, trete ich Ihnen bei nächster Gelegenheit in die Eier.«

Lenz war gleichermaßen irritiert wie belustigt. Gina Gladow­ liebte das Direkte offenbar genauso wie er. Darauf ließ sich doch aufbauen. Grinsend wandte er sich nach vorne und sah durch die Windschutzscheibe auf die Straße. »Entschuldigung, Frau Kollegin. Betrachten Sie das bitte als Kompliment.«

»Was?«, fuhr sie unbeeindruckt fort. »Dass ein alter Knacker wie Sie seine Augen nicht im Griff hat?«

»Alt? Also bitte! Ich bin Mitte vierzig.«

»Sag ich doch. Sollten Sie allerdings einen Sohn haben, dürfen Sie ihn mir gerne vorstellen.«

»Wenn ich einen Sohn hätte, würde ich ihn von Frauen wie Ihnen fernhalten.«

»Dann gehen Sie mal mit gutem Beispiel voran, Papi«, konterte Gina Gladow unbeeindruckt.

Lenz merkte, wie sich seine Stimmung von Minute zu Minute verschlechterte. Kriminaldirektor Heitkamp spielte den unantastbaren Despoten; Steinkämper fühlte sich auf den Schlips getreten, wenn er nach Ermittlungsergebnissen gefragt wurde. Schröder hatte offenbar beschlossen, für den Rest seiner Dienstzeit zu schmollen, weil Lenz ihm vor die Nase gesetzt worden war; der Verkehrsfuzzi Steinbrecher hatte sich gleich bei ihrer ersten Begegnung als Kollegenschwein entpuppt. Und Gina Gladow nahm jedes Kompliment direkt als Belästigung am Arbeitsplatz auf. Mit diesem Menschenschlag sollte er bis zur Pensionierung in zwanzig Jahren zusammenarbeiten? War der Wechsel hierher in Wirklichkeit eine Strafversetzung und Lenz hatte das bislang nur noch nicht begriffen?

Er wünschte sich schon jetzt ins Ruhrgebiet zurück. Da war alles so einfach: Kollegen waren noch wirkliche Kollegen, auf die man sich jederzeit verlassen konnte und die einem nicht ans Bein pinkelten. Die unübersichtliche Verkehrs­situation auf der B1 am Ortseingang war offenbar geradezu sinnbildlich für die ganze Stadt. Scheiß Paderborn!

Grummelnd wandte sich Lenz dem rechten Seitenfenster zu, während sie nun auf der gut ausgebauten Ausfallstraße zügig in Richtung Büren fuhren. Nach etwa zwanzig Kilometern, auf denen sie den Flughafen Paderborn/Lippstadt linkerhand passiert hatten und auch die Auffahrten auf die A44 in die Richtungen Dortmund und Kassel, erreichten sie einen Kreisverkehr. Rechts ging es nach Steinhausen und Geseke, geradeaus nach Rüthen und links nach Büren. Überall um sie herum drehten sich Windräder in einer Art von Niemandsland aus Feldern, die zu dieser Jahreszeit trist und öde in einer diesigen Endlosigkeit versanken. Ein Funkmast stach vor der Silhouette eines Gewerbegebietes in den grauen Himmel. Kein Zweifel, das hier war der Arsch der Welt.

»Das langgestreckte Gebäude da hinten im Industriegebiet ist übrigens der Puff«, meldete sich Gina Gladow, ließ aber offen, was sie mit diesem Hinweis bezweckte. Lenz hatte das unbestimmte Gefühl, dass er besser nicht nachfragen sollte. Von den Spitzen seiner Kollegin hatte er vorerst die Nase voll und er konnte auch nicht dafür garantieren, dass er selbst noch lange an sich halten konnte.

Die Kommissarin lenkte den Wagen bergab an einer kleinen Kapelle vorbei. Nun weitete sich der Blick über ein Tal, in dessen Mitte sich das Städtchen Büren ausbreitete. Die Häuser lagen dicht gedrängt wie ins Loch geschüttet zwischen sanften Hügeln und wurden von zwei schlanken Flüsschen in die Zange genommen. Recht malerisch machte sich in der Mitte eine Art Schloss aus, das zusammen mit zwei Kirchen quasi das Zentrum des Talkessels bildete.

»Büren im Loch, wir finden dich doch«, verkündete Gina Gladow unvermittelt. »Als ich noch Streife gefahren bin, hatte ich einen Kollegen aus Steinhausen. Der hat das jedes Mal gesagt, wenn wir den Kapellenberg runtergefahren sind.«

»Na prima«, knurrte Lenz. »Erst lande ich am Arsch der Welt und dann fahre ich auch noch direkt ins Loch.« Und das alles an der Seite einer Kampf-Emanze, fügte er in Gedanken hinzu.

Gina Gladow lachte hämisch, als wollte sie sagen: Jeder so, wie er es verdient.

Nach einer 90-Grad-Kurve erreichten sie schließlich das Ortseingangsschild. Was Lenz nun zu sehen bekam, zerstörte schlagartig den positiven Eindruck, den er von oben aus eben noch gehabt hatte. Schön geht anders, dachte er und betrachtete die gammeligen Häuser, die den Anfang der Bahnhofstraße säumten. Als er dann nach der Feuerwehr auch noch vier bunte und dicht an dicht gebaute Einfamilienhäuser mit kitschigen Säulen und zusammenstoßenden Veranden erblickte, wusste er, dass es sogar noch hässlicher ging als am Ortseingang. Es folgten ein Getränkemarkt, der obligatorische Lidl, links eine zugegebenermaßen wunderschöne, nostalgisch anmutende Bruchsteinkirche mit knallrotem Ziegeldach und dann, an einen Park mit Teichen anschließend, das Schloss, das er schon vom Hügel aus gesehen hatte.

Gina Gladow folgte der Hauptstraße, die sich geradeaus durch den Ort zog und nun wieder leicht anstieg. Oben machte sie mehrere Windungen, bis rechts ein langgestrecktes Gebäude aus roten Ziegeln auftauchte. »Da sind wir. Das ist die Senioren-Residenz Friedenstal«, verkündete die Kriminalkommissarin und parkte den Wagen am Straßenrand.

In der Empfangshalle plätscherte ein kleiner Wasserfall über Schieferplatten in ein Bassin mit Goldfischen, die nach Lenz’ Ansicht für ein Altersheim unangemessen lebendig herumschwammen und glubschäugig blöde aus dem Wasser glotzten. Große Fenster und helle Farben sorgten für ein einladend freundliches Ambiente. Am Empfangstresen saß ein etwa zwanzigjähriges Bob-Marley-Double mit verfilzten Haarsträhnen und einem viel zu weiten bunten Hemd und starrte unter rhythmischen Kopfbewegungen auf seinen Computermonitor. Als er Gina Gladow und Stefan Lenz bemerkte, zog er sich einen Stöpsel aus dem linken Ohr und lächelte die Kommissarin entzückt an.

Die schien für derartige Avancen zugänglich zu sein. Vielleicht galt das Knistern, das sie nun zwischen sich und dem Filz-Man zuließ, aber auch einzig als Signal an Lenz. Der konnte darüber nur müde lächeln, denn er war Realist genug, um zu wissen, dass ihm eine Beziehung zu einer derart jungen Frau ohnehin zu anstrengend wäre.

»Was kann ich für Sie tun?« Bob Marley richtete sich an Gina Gladow und ignorierte Lenz völlig.

Mit mir nicht, Bürschchen, dachte der. »Kripo Paderborn«, reagierte er in unangemessen autoritärem Tonfall und hielt dem Schnösel seinen Dienstausweis entgegen. »Kriminalhauptkommissar Lenz und Kriminalkommissarin Gladow. Wir möchten mit der Leitung des Hauses sprechen.«

»Da steht aber nicht Paderborn«, wandte der Knabe altklug ein, »da steht Hamm. Sind Sie hier überhaupt zuständig?«

»Sieh mal an«, sagte Lenz erstaunt zu seiner Kollegin. »Der Wackeldackel kann lesen.«

Die Kommissarin zwinkerte dem jungen Mann schelmisch zu.

»Dann werde ich Sie mal anmelden.« Wieder kein Blick zu Lenz, nur dieses balzende Lächeln in Gina Gladows Richtung. Aber immerhin griff der Jüngling zum Telefon. »Frau Finke, hier sind zwei Leute von der Polizei für Sie. Eine äußerst attraktive junge Dame und ein …« er taxierte Lenz abschätzend von Kopf bis Tresenoberkante, »… eher unscheinbarer älterer Herr. – Ja, ist gut.« Er legte auf und kündigte an: »Frau Finke kommt sofort.« Lächeln, balzen, Filzsträhnen präsentieren.

Gina Gladow lachte und schüttelte leicht den Kopf.

Arschloch, dachte Lenz. Er atmete erst auf, als eine Frau von etwa Anfang bis Mitte vierzig die Treppe herunterkam und ihn aus dem nervigen Geknister erlöste. Sie trug helle Freizeitkleidung, was Lenz, der automatisch in solchen Einrichtungen immer mit Krankenschwesternkitteln rechnete, erfreut zur Kenntnis nahm. Auch die sportliche Art, mit der sie ihnen entgegenfederte, gefiel ihm.

»Kerstin Finke«, stellte sich die Frau mit Handschlag vor. »Ich bin die Leiterin dieses Hauses. Kommen Sie wegen Herrn Kottmann?«

»Richtig, Frau Finke. Mein Name ist Stefan Lenz, das ist meine Kollegin Gina Gladow.« Lenz drehte dem Bob Marley für Arme betont den Rücken zu. »Können wir uns in Ihrem Büro weiter unterhalten?«

»Natürlich. Kommen Sie.« Sie federte ihnen voraus die Treppe hinauf und bog nach links in einen Flur ab, an dessen Glastür in schwarzen Klebebuchstaben Verwaltung stand.

Auch das Büro der Residenz-Leiterin hatte so gar nichts von dem üblichen Krankenhaus- oder Altersheim-Ambiente, wie Lenz es aus dem Ruhrgebiet kannte. Es war hell und farbenfroh und atmete eher die Atmosphäre eines CEO-Büros in einem aufstrebenden Internet-Startup. Vor dem Fenster breitete sich ein Schreibtisch mit einer Glasplatte aus, auf der ein stylischer Apple-PC coole Eleganz repräsentierte. Großformatige, hochglänzende Architektur-Fotos hinter Glasrahmen hingen an den Wänden. Die linke Seite des Raumes wurde von einer schwarzen Ledergarnitur mit Glastisch eingenommen. Dorthin wies Frau Finkes einladende Hand. Offenbar handelte es sich bei der Seniorenresidenz Friedenstal um eine exklusive und sicher sehr teure Einrichtung.

»Kann ich Ihnen etwas anbieten? Cappuccino, Wasser?«

»Ein Cappuccino wäre nett«, antwortete Lenz erfreut und nahm auf dem Sofa Platz.

»Für mich bitte ein Glas Wasser.« Gina Gladow setzte sich in einen der beiden Sessel und schlug sofort die Beine übereinander.

Lenz, der sich mit körpersprachlichen Signalen auskannte, nahm erfreut zur Kenntnis, dass sich seine Kollegin zwischen Frau Finke und ihm nicht wohlfühlte und hinter einer Mauer verschanzte. Sogar die Arme verschränkte sie nun vor ihrer Brust. Prima, den Moment würde er auskosten. Wer konnte schon wissen, wie oft er noch Gelegenheit dazu bekommen würde?

Kerstin Finke bediente einen Kapselautomaten und während rauschend und zischend nacheinander zwei Cappuccino-Tassen vollliefen, öffnete sie eine Flasche Mineralwasser und stellte sie mit einem Glas vor Gina Gladow auf den Tisch. Nachdem auch Lenz versorgt war, setzte sie sich mit ihrer Tasse in beiden Händen in den anderen Sessel und blickte ihn fragend an.

»Tja, Frau Finke«, begann er vorsichtig. »Wir haben heute Morgen einen alten Mann in Wewelsburg aufgefunden. Ob es sich dabei um Ihren Bewohner Anton Kottmann handelt, wissen wir leider nicht.«

Die Residenzleiterin blickte ihn verständnislos an. »Konnten Sie ihn nicht fragen? Ist etwas mit ihm passiert? – Was heißt überhaupt ›aufgefunden‹?«

»Nun, der Mann ist tot.«

Frau Finkes Cappuccino schwappte in der Tasse, als sie sie hart auf der Glasplatte absetzte. Mit heiserer Stimme fragte sie: »Was ist passiert?«

»Das wissen wir noch nicht. Fest steht bislang nur, dass es kein natürlicher Tod war.«

»Das heißt …«

»Jemand hat den Mann ermordet.«

»Ermordet?« Kerstin Finke schüttelte leicht den Kopf, während sie versuchte, das Gehörte langsam zu verarbeiten. »Und wie? Ich meine …«

»Er wurde mit einem Stein erschlagen«, kam es hart von Gina Gladow, während Lenz noch nach einer rücksichtsvollen Formulierung suchte.

»Erschlagen? Mit einem Stein?« Ungläubig wanderte Kerstin Finkes Blick zwischen Lenz und seiner Kollegin hin und her.

»Nachdem er zuvor ausgepeitscht und gefoltert worden ist«, ergänzte die Kommissarin kalt. »Und der Stein war auch eher ein Felsbrocken. War kein schöner Anblick. Das Gesicht ist nicht mehr zu erkennen.«

Lenz blitzte sie an. Es war nun wirklich nicht nötig, derart ruppig mit der armen Frau umzugehen. Schlimm genug, dass es sich mit einiger Wahrscheinlichkeit um einen ihrer Schützlinge handelte. Diese Details hätte man der Frau doch wohl ersparen können.

Konnte man nicht, fand seine junge Kollegin offenbar und zeigte Kerstin Finke zwei Tatortfotos auf ihrem Handy. Entsprechend schockiert zuckte die Residenz-Leiterin in ihrem Sessel zurück.

Gina Gladow zog mit zwei Fingern ein Foto auf. »Erkenne Sie vielleicht, ob es sich bei der Kleidung um die von Herrn Kottmann handelt?«

»Nein«, antwortete die Residenzleiterin wie paralysiert. Schließlich stand sie auf und ging ein paarmal schnell im Raum auf und ab. Zweimal blieb sie vor Lenz stehen, öffnete den Mund, um etwas zu sagen, konnte das dann aber nicht und nahm ihren Weg wieder auf. Während Lenz der Tigerei besorgt folgte, drückte Gina Gladows Gesicht so etwas wie Belustigung aus, aber sie enthielt sich zu Lenz’ Erleichterung eines Kommentars.

Als Kerstin Finke endlich wieder saß und mit zittrigen Fingern abwesend an ihrem Cappuccino nippte, signalisierte der Hauptkommissar seiner Kollegin mit drohend erhobenen Augenbrauen, dass sie sich nun zurückhalten sollte, und erntete dafür ein Stirnrunzeln. »Hat Herr Kottmann irgendwelche besonderen Merkmale, die uns Sicherheit bringen könnten?«, fragte er.

»Besondere Merkmale? Nein.«

»Hat er vielleicht eine Narbe an der Innenseite des linken Oberarmes?«

Die Residenzleiterin sah ihn verständnislos an und hob und senkte die Schultern. »Da müsste ich unser Personal fragen. Allerdings bezweifle ich, dass Ihnen jemand diese Frage beantworten kann. Herr Kottmann benötigt nämlich keine Unterstützung bei der täglichen Pflege.«

»Tja, dann kann uns nur noch eine DNA-Probe weiterhelfen«, stellte Lenz fest, »vielleicht ein Kamm oder seine Zahnbürste. Um keine Zeit zu verlieren, möchten wir uns außerdem schildern lassen, wie Herr Kottmann aus Ihrer Residenz verschwunden ist. Die genauen Umstände und zeitlichen Abläufe könnten für uns gegebenenfalls bei der Suche nach dem Täter von Bedeutung sein.«

»Ja, natürlich.« Kerstin Finke atmete tief ein und aus und sammelte sich. »Also, das war am Dienstag. Unser Bufdi Mario hat die Bewohner, die noch fit genug sind, nach der Mittagsruhe hinunter in den Park gebracht. Das Wetter war ja für diese Jahreszeit ungewöhnlich schön, nicht zu kalt, kein Wind, die Sonne schien, eigentlich ideal. Das war so gegen fünfzehn Uhr. Als unser Pfleger Wolfgang sie dann gegen siebzehn Uhr wieder reinholen wollte, war Herr Kottmann nicht mehr da.«

»Wie: nicht mehr da?«, hakte Gina Gladow verständnislos nach. »Einfach weg? Können die hier ein- und ausgehen, wie sie wollen? Guckt denn zwischendurch niemand nach den alten Leuten?«

Lenz hätte sie erwürgen können, als er registrierte, wie Kerstin Finke bleich wurde und betroffen den Blick senkte.

»Doch, natürlich. Wann Herr Kottmann verschwunden ist, wissen wir nicht genau. Mario hat den Rest des Nachmittags am Empfang gesessen. Dort ist er nicht vorbeigekommen.«

»Gibt es noch einen anderen Zugang zum Park?«, beeilte sich Lenz mit der Nachfrage, weil Gina Gladow schon wieder den Mund öffnete.

»Ja, zur Seite des Gebäudes ist noch eine Zufahrt. Aber das Tor dort ist immer abgeschlossen und das war es auch am Dienstag. Ich habe das sofort kontrolliert.«

»Der alte Mann kann ja nicht verdunstet sein«, stellte Gina Gladow lapidar fest.

Lenz räusperte sich vernehmlich. Er würde nachher ein erns­tes Wort mit seiner Kollegin wechseln. Offenbar musste die doch noch viel lernen. Vor allem, Anweisungen von Vorgesetzten zu folgen; selbst dann, wenn die nur mimisch ausgedrückt wurden. »Dann möchten wir mit Mario und Wolfgang sprechen«, stellte er an Kerstin Finke gewandt fest.

»Ja, natürlich.« Die Residenz-Leiterin sprang auf, ging zum Schreibtisch und griff nach dem Telefonhörer. »Gitta? Schickst du mal bitte jemanden runter zum Empfang, damit er Mario ablöst? Und dann sollen Mario und Wolfgang in mein Büro kommen. – Nein, nicht gleich, jetzt sofort! Danke.«

Lenz gefiel die professionelle Art, in der sie in kürzester Zeit die Fassung wiedergewonnen hatte. Dass er sie bewundernd anstarrte, merkte er erst, als er ihren fragenden Blick auf sich ruhen fühlte. Verlegen lächelte er sie an und konzentrierte dann seine ganze Aufmerksamkeit auf seinen Cappuccino.

Mario war also der Filz-Heini. Bufdi, das war eine passende Bezeichnung, rein phonetisch und völlig unabhängig von der eigentlichen Bedeutung. Das Bild des hämisch grinsenden Jünglings geisterte vor ihm herum und ließ sich zu seinem Ärger nicht wieder vertreiben. Er blickte zur Seite und stellte fest, dass Gina Gladow die Leiterin mit Genugtuung fixierte, die schweigend und mit gesenktem Kopf an ihrem Schreibtisch lehnte.

Nach wenigen Minuten klopfte es kurz an die Bürotür und zwei junge Männer traten ein: Filz-Mario in seinem Schlabberlook und ein etwa fünfundzwanzigjähriger muskelbepackter Hüne mit Bürstenschnitt, T-Shirt, Jeans und weißen Crocs. Der Gegensatz hätte kaum deutlicher ausfallen können. Sie blieben nebeneinander mit etwa zwei Metern Abstand vor ihrer Chefin stehen und warteten schweigend.

»Die Herrschaften von der Polizei haben Fragen zu dem Verschwinden von Herrn Kottmann«, erklärte sie mit belegter Stimme.

»Setzen Sie sich bitte«, forderte Lenz die jungen Männer auf und deutete auf das Sofa, während er selbst hinüber in den freien Sessel wechselte.

Als sie der Aufforderung gefolgt waren, wandte er sich zunächst an Mario. »Frau Finke hat angegeben, Sie hätten Herrn Kottmann gegen fünfzehn Uhr hinunter in den Park gebracht. Ist Ihnen dabei etwas aufgefallen? War da jemand im Park, der kein Bewohner ist? Ein Besucher vielleicht oder ein Angehöriger?«

»Nein, alles war wie immer. Der Kottmann hat sich auf eine Bank in der Sonne gesetzt.«

»Herr Kottmann«, korrigierte Kerstin Finke.

»Und ich bin dann gleich wieder rein, um die anderen zu holen«, fuhr Mario ungerührt fort.

Lenz fixierte den Filz-Bufdi kalt. »Später hatten Sie Dienst am Empfang?«

Mario nickte.

»Hat während Ihres Dienstes jemand das Haus betreten, der hier nicht wohnt oder arbeitet?«

»Keine Ahnung. Nachmittags kommen häufig Angehörige oder die Sozialtanten von der Caritas. Da achten wir nicht so drauf. Angesprochen hat mich jedenfalls keiner.«

»Welche ›Sozialtanten von der Caritas‹?«, hakte Lenz bei Kerstin Finke nach und machte dabei schon durch seine Betonung deutlich, dass er den verfilzten Mario für einen Kotzbrocken hielt.

»Er meint die Damen, die sich um unsere alten Leute kümmern, sich mit ihnen unterhalten, ihnen etwas vorlesen und so.« Sie wandte sich dem Bufdi zu und blitzte ihn grimmig an. »Ich habe dir schon mehrfach gesagt, Mario, dass deine Ausdrucksweise unangemessen ist. Wenn du nicht ab sofort respektvoller mit anderen Leuten umgehst, werde ich deinen Bundesfreiwilligendienst hier bei uns beenden!«

»Jaja«, machte Mario. »Ich werd’s mir merken.«

Lenz zwinkerte der Leiterin anerkennend zu. »Und Sie?«, fragte er dann den Pfleger. »Wann haben Sie sich um Herrn Kottmann gekümmert?«

»Ich bin um vier Uhr in den Park gegangen und habe nachgesehen, ob alles in Ordnung ist. Sobald die Sonne weg ist, ist es ja noch ziemlich kalt draußen. Da hat Herr Kottmann mit Herrn Merschhaus und Frau Körting an einem der Gartentische gesessen und sich unterhalten. Um fünf habe ich angefangen, die Herrschaften wieder in ihre Zimmer zu begleiten. Da wurde es dunkel und ab halb sechs gibt es Abendessen.«

Lenz stellte fest, dass die respektvollere Ausdrucksweise Wolfgang keinerlei Schwierigkeiten bereitete und auch nicht aufgesetzt klang. Der junge Mann hat ein anderes Format als Gammel-Bufdi Mario, dachte er. »Als Sie in den Park kamen, um Herrn Kottmann zu holen, war er nicht mehr da?«, fuhr er fort.

»Nein. Ich habe zunächst angenommen, dass er alleine raufgegangen ist. Herr Kottmann gehört zu unseren agilsten Bewohnern, obwohl er schon vierundneunzig ist. Aber als er weder in seinem Zimmer noch im Aufenthaltsraum war, habe ich Frau Finke Bescheid gesagt.«

Sie nickte. »Wir haben das ganze Haus abgesucht und ihn nicht gefunden. Ich habe sofort Mario und Wolfgang in die Stadt geschickt. Es kommt schon mal vor, dass der eine oder andere unserer dementen Bewohner unbemerkt am Empfang vorbeikommt und durch die Stadt läuft. Herr Kottmann ist zwar nicht dement, aber es hätte ja sein können, dass er bei Rossmann oder Combi etwas einkaufen wollte. Aber auch da hat ihn niemand gesehen. Also habe ich die Polizei informiert.«

»Ist Ihnen irgendetwas komisch vorgekommen, als Sie im Park waren?«, fragte Lenz den Pfleger. »Leute, die da nicht hingehörten, zum Beispiel?«

»Nein, alles war wie immer. – Entschuldigen Sie, ist irgendetwas passiert? Ich meine, Sie sind doch nicht hier, weil Sie uns all das noch einmal fragen wollen, was Ihre Kollegen auf der Wache schon gefragt haben.«

Kluger Junge, dachte Lenz. Super-Mario ist offenbar schlichter gestrickt und hat nicht so weit gedacht. Oder sollte der Aushilfs-Marley schon wissen, was passiert war? Aufmerksam behielt Lenz den Unsympathen im Auge, als er die jungen Männer über den Leichenfund und die Möglichkeit informierte, dass es sich bei dem Toten um Anton Kottmann handeln konnte. Wenn er auf verräterische Zeichen gewartet hatte, wurde er nun enttäuscht. Beide Männer waren gleichermaßen überrascht und bestürzt.

Für einen Moment verschlug es Mario sogar den Atem. Er keuchte schwer und flüsterte: »Mein Gott.«

Entweder ist er ein guter Schauspieler, dachte Lenz, oder seine coole Fassade ist nur aufgesetzt.

Gina Gladow schob Mario ihr Wasserglas hinüber, das noch halb gefüllt war. Dankbar versuchte er ein Lächeln, das aber misslang, und trank in kleinen Schlucken.

»Gut«, schloss Lenz, »wenn niemand von Ihnen mehr etwas zu sagen hat, das vielleicht sachdienlich sein könnte, wird meine Kollegin nun draußen Ihre Personalien aufnehmen.«

Gina Gladow zog missbilligend die Augenbrauen zusammen, während Mario und Wolfgang aufsprangen und mit gesenkten Köpfen das Büro verließen.

Lenz blickte die Kommissarin direkt an und ließ keinen Zweifel daran, dass es sich um eine Anweisung gehandelt hatte. »Lassen Sie sich bitte von Wolfgang zu Herrn Merschhaus und Frau Körting bringen«, fügte er hinzu. »Vielleicht haben die etwas bemerkt. Ich komme dann nach, wenn ich hier fertig bin.«

Er verfolgte nun seinerseits belustigt, wie seine Kollegin trotzig den Kopf in den Nacken warf, den beiden jungen Männern folgte und die Tür hinter sich ins Schloss fallen ließ – gerade laut genug, um ein Zeichen zu setzen, ohne eindeutig subordinär zu wirken.

»So, Frau Finke.« Lenz deutete auffordernd mit der Hand auf den freien Sessel. »Jetzt erzählen Sie mir mal etwas über Ihre beiden jungen Mitarbeiter.«

»Was wollen Sie wissen?« Kerstin Finke nahm Platz.

»Alles. Was sind das für Typen? Wie sind Sie mit ihrer Arbeit zufrieden? Wo liegen ihre Stärken, wo ihre Schwächen?«

»Da weiß ich, ehrlich gesagt, gar nicht, wo ich anfangen soll.«

»Wo Sie wollen. Ich habe Zeit.« Lenz legte sein charmantestes Lächeln auf und stellte erfreut fest, dass es wirkte.

Kerstin Finke entspannte sich etwas, holte tief Luft und lehnte sich zurück. »Also, der Mario ist seit etwa einem halben Jahr bei uns. Er ist nicht gerade das, was ich unter einem gewissenhaften Bundesfreiwilligendienstler verstehe, aber er macht seinen Job. Sie haben ja selbst erlebt, dass er etwas … sagen wir: unkonventionell auftritt.«

»Respektlos«, korrigierte Lenz. »Unverschämt und distanz­los.«

»Na ja.« Kerstin Finke ließ ihren Kopf hin- und herpendeln. »Er wirkt so, das stimmt. Aber unter der coolen Fassade ist er, glaube ich, kein übler Kerl. Wir müssen leider heutzutage nehmen, was wir kriegen können. Wenn wir zu wählerisch wären, wäre der Pflegenotstand noch größer. Und was da in den letzten Jahren vor allem von den Gymnasien kommt … also Leistungsbereitschaft, Selbstdisziplin und Benehmen haben die jungen Leute kaum noch. Zum Glück sind wir ja bei unserer Arbeit nicht darauf angewiesen, dass sie rechnen, schreiben und lesen können. Damit ist es ja selbst bei Abiturienten nicht mehr so weit her.« Sie lachte.

»Wolfgang ist ein anderer Typ«, formulierte Lenz seine Frage wie eine Feststellung.

»Oh, ja. Wolfgang ist, verglichen mit seinen Altersgenossen, extrem gut erzogen, diszipliniert und sehr beliebt bei den Bewohnern. Die alten Leute halten viel von Respekt und Höflichkeit. Vor allem die, denen ich Wolfgang zugeteilt habe.«

»Und sonst gibt es keine Pflegekräfte auf der Station?«

»Doch, Pflegerin Michaela. Aber die hat momentan Urlaub und war nicht im Haus, als Herr Kottmann verschwunden ist. Deshalb muss Mario ja auch aushelfen, wenn Wolfgang Unterstützung braucht. Ab 20 Uhr beschäftigen wir reines Nachtpersonal. Für den Trakt B ist Rotraut Schumacher zuständig. Aber auch die war ja zum Zeitpunkt des Verschwindens von Herrn Kottmann nicht im Haus.«

Lenz notierte sich die Namen. »Hat Ihrer Ansicht nach einer von den beiden jungen Männern irgendeinen Fehler gemacht, so dass Herr Kottmann Ihnen verlorengehen konnte?«

»Nein. So etwas lässt sich einfach nicht verhindern. Das ist ja kein Gefängnis hier und keine geschlossene Anstalt. Unsere Bewohner bewegen sich absolut frei und ohne jede Bevormundung, sofern sie noch rüstig genug sind. Nur auf die Demenzkranken haben wir ein besonderes Auge. Natürlich auch nur in dem Rahmen, in dem wir das personell bewerkstelligen können. Ich gehe davon aus, dass Herr Kottmann aus eigenem Antrieb unser Gelände verlassen hat. Erst danach muss irgendetwas passiert sein.«

»Also hat auch keiner der anderen Bewohner etwas bemerkt oder gesehen?«

»Nein, wir haben alle befragt. Niemandem ist etwas aufgefallen. Auch nicht, dass Herr Kottmann das Haus verlassen hat.«

»Gut, Frau Finke, ich möchte dann gerne noch Herrn Kottmanns Zimmer sehen.«

»Wolfgang wird Sie hinführen«, entgegnete die Residenz-Leiterin. »Ich muss leider wieder an die Arbeit.« Sie griff zum Telefon, ließ sich den Pfleger geben, erteilte ihm die nötigen Anweisungen und wandte sich Lenz wieder zu. Ihr geschäftsmäßiges Lächeln machte deutlich, dass das Gespräch für sie damit beendet war.

»Wenn Ihnen doch noch etwas einfallen sollte, rufen Sie mich an.« Lenz reichte ihr seine Visitenkarte. »Die Festnetznummer stimmt nicht mehr. Ich bin erst seit heute bei der Kripo in Paderborn. Aber über die Handynummer erreichen Sie mich immer.« Er stand auf und gab Kerstin Finke die Hand.

»An ihrem ersten Tag haben Sie schon so einen unangenehmen Fall?« Sie hielt seine Hand einen Augenblick länger fest als notwendig.

»Unangenehm sind meine Fälle eigentlich immer«, blieb Lenz ungenau und freute sich über ihr Mitgefühl. »Schließlich arbeite ich im Dezernat für Kapitalverbrechen.« Er nickte ihr noch einmal lächelnd zu und verließ das Büro.

Kerstin Finke schloss die Tür hinter ihm. Schade, dachte Lenz. Wenn sie mich zu Kottmanns Zimmer begleitet hätte …

Wolfgang erwartete ihn bereits auf dem Flur und führte ihn an einer Sitzgruppe vorbei, auf der einige alte Leute saßen und gerade von Gina Gladow befragt wurden. Dann bog der Pfleger nach links ab. Auch auf diesem Flur wirkte alles chic und viel freundlicher, als Lenz es von den Altersheimen gewohnt war, die er bisher gesehen hatte. Der Bodenbelag bestand aus hellem Vinyl in Holzoptik und an den weißen Wänden hingen farbenfrohe Drucke verschiedener Künstler. Lenz erkannte darunter auch ein signiertes Bild von Otmar Alt, dem Star der Hammer Kunstszene. Geldmangel schien in diesem Haus wohl eher unbekannt.

Schließlich hielt Wolfgang vor einer Zimmertür. »Hier wohnt Herr Kottmann.«

Lenz öffnete die Tür und deutete in den Raum. »Sehen Sie sich bitte genau um. Ist irgendetwas anders als sonst? Jetzt, da Sie wissen, dass Herr Kottmann möglicherweise ermordet wurde, fällt Ihnen vielleicht etwas auf, dem Sie vorher keine Beachtung geschenkt haben.«

Der Pfleger betrat das Zimmer, blieb in der Mitte stehen und drehte sich langsam um seine eigene Achse, während Lenz die Aussicht durch das Fenster auf die tief unter ihm liegenden Flussauen bewunderte.

»Nein, alles wie immer«, sagte Wolfgang schließlich.

»Gut, dann warten Sie bitte draußen«, ordnete Lenz an.

In diesem Moment tauchte seine Kollegin hinter ihm auf. »Und?«, erkundigte er sich. »Haben dieser Merschhaus und die Frau – wie hieß die doch gleich?«

»Körting.«

»Frau Körting, richtig. Haben die beiden etwas über das Verschwinden von Anton Kottmann aussagen können?«

»Nein. Kottmann ist gegen halb fünf reingegangen, weil es ihm zu frisch wurde. Danach haben sie ihn nicht mehr gesehen.«

»Hmh«, machte Lenz nachdenklich. »Nicht schön, das. Gar nicht schön.«

Gina Gladow musterte ihn belustigt.

Lenz ignorierte den Blick. »Sehen Sie im Bad nach, ob Sie einen Kamm oder eine Zahnbürste für den DNA-Abgleich finden.«

Er selbst wandte sich dem Kleiderschrank zu und öffnete ihn. Hosen und Hemden hingen über Kleiderbügeln und entsprachen den Marken, die der Tote getragen hatte. Die Unterhemden in einem der kleineren Fächer waren penibel ausgerichtet und selbst die Stofftaschentücher lagen glattgebügelt und auf Kante gestapelt da. So etwas hatte Lenz zuletzt während seiner Ausbildung in der Polizeikaserne gesehen, allerdings auch nur als Beispiel für die korrekte Ordnung und nicht in seinem eigenen Spind.

Gina Gladow kam mit einem Plastikbeutel aus dem Badezimmer und zeigte Lenz die Zahnbürste, bevor sie sich an die Durchsuchung des Nachtschränkchens neben dem Bett machte.

»Oh, was haben wir denn hier?« Sie hielt ein zusammengefaltetes hellrotes Stück Pappe hoch, auf dem die Hälfte eines Hakenkreuzes zu sehen war. Seine Kollegin faltete es auseinander und schnalzte laut. »SS-Sturmmann Anton Kottmann«, las sie vor. »Konzentrationslager Niederhagen. – Sieh mal einer an, ein alter Nazi. Wenn das unsere Leiche ist, minimiert es mein Mitgefühl allerdings deutlich.«

Lenz trat nahm ihr den Fund aus der Hand. Tatsächlich, es handelte sich um den Dienstausweis eines SS-Mannes. Das Passbild zeigte einen jungen, schneidigen Soldaten in schwarzer Uniform, der ohne jede Gefühlsregung in die Kamera blickte.

»Womit dann auch die Narbe am linken Oberarm geklärt wäre«, stellte Lenz fest und erklärte auf den fragenden Blick seiner jungen Kollegin: »Die Mitglieder der Waffen-SS hatten ihre Blutgruppe auf der Innenseite des linken Oberarms eintätowiert. Nach 1945 haben sich viele diese Tätowierung wegoperieren lassen, weil sie ein offensichtlicher Beweis für ihre SS-Mitgliedschaft war.«

Sie nickte und wandte sich der nächsten Schublade zu. Diesmal zog sie ein braunes Lederbuch hervor, das sich als Fotoalbum entpuppte. Vor Lenz’ Augen blätterte sie es schnell durch. Die Schwarz-Weiß-Fotos entstammten allesamt der Dienstzeit Anton Kottmanns und zeigten Häftlinge mit gestreifter Kleidung in einem Steinbruch. Sie schoben Karren mit Felsbrocken, manche schleppten sie einfach mit den Händen. Am Rand standen rauchende SS-Männer in schwarzen Uniformen mit Gewehren über den Schultern.

»Diese Dreckschweine!«, schimpfte Gina Gladow leise.

Andere Bilder zeigten Häftlinge auf einem Gerüst beim Aufbau eines Burgturmes. Auf einem Foto war das etwas verblasste Portrait eines jungen Mannes mit SS-Mütze zu sehen. Er lächelte in die Kamera und machte einen freundlichen, geradezu sympathischen Eindruck. Typ Schwiegermutters Liebling, dachte Lenz. Wenn man auf Faschos steht.

»Anton Kottmann.« Gina Gladow tippte mit dem Zeigefinger darauf. »Stimmt mit dem Foto im Dienstausweis überein.« Sie schlug das Album zu und blickte Lenz fragend an.

»Das ist ja ein Ding«, brachte der nur heraus und fuhr nach kurzer Pause fort: »Wenn unser Toter Anton Kottmann ist, handelt es sich also um einen ehemaligen SS-Mann, der in einem Konzentrationslager gearbeitet hat.«

»Nicht in irgendeinem Konzentrationslager«, widersprach Gina Gladow. »Das KZ Niederhagen befand sich in Wewelsburg, also in der Nähe des Auffindeortes der Leiche. Und der Turm auf dem Bild eben ist der Nordturm der Wewelsburg, die von Häftlingen des KZ wiederaufgebaut worden ist.«

»Mein lieber Scholli«, sagte Lenz. »Bis eben hatten wir noch einen zu Tode gefolterten alten Mann ohne Namen, jetzt handelt es sich wahrscheinlich um einen hingerichteten ehemaligen KZ-Wärter.« Während er das sagte, wurde ihm die ganze Tragweite bewusst: Aus einem gewöhnlichen Mord, wenn auch mit ungewöhnlichen Mitteln, wurde von einer Sekunde auf die andere ein hochbrisanter politischer Fall. In diesem Moment hoffte er inständig, dass der Tote nicht Anton Kottmann war.

»Da wird uns Ihre Frau Finke aber einiges zu erklären haben«, ätzte Gina Gladow.

Lenz ging nicht auf die Formulierung ein. »Sehen Sie nach, was Sie sonst noch finden«, ordnete er an.

Während die Kommissarin sich die letzte Schublade des Nachtschränkchens vornahm, trat er wieder vor den Kleiderschrank, durchwühlte rücksichtslos alle Fächer und tastete auch die Hosen, Hemden und Jacketts ab, ohne jedoch irgendetwas zu finden.

»Nichts weiter«, meldete Gina Gladow. »Nur der Personalausweis und der Führerschein.«

»Gut. Wir versiegeln das Zimmer. Die Spusi soll sich hier einmal gründlich umsehen.«

Während Lenz auf dem Flur die Zimmertür zuzog, schlug ihnen von der Sitzecke aufgeregter Lärm entgegen. Wolfgang stand vor einer Gruppe alter Männer und Frauen und versuchte, sie mit pumpenden Handbewegungen zu beruhigen. Während Lenz umständlich ein Siegel aus einer Tasche hervorkramte, lief Gina Gladow schon einmal vor. Schließlich näherte sich auch Lenz dem Tumult, der immer lauter und ungehaltener wurde.

»Sagen Sie mal«, schmetterte ihm ein alter Mann mit Glatze entgegen, der sich schwer auf einen Krückstock stützte, »klärt uns jetzt vielleicht einmal jemand auf, was das alles hier soll? Was ist mit dem Kameraden Kottmann? Wolfgang und die Politesse hier wollen uns nichts sagen!«

Lenz seufzte und informierte die alten Leute mit knappen Worten sachlich über den Leichenfund in Wewelsburg. »Ob es sich dabei um Ihren Mitbewohner handelt, müssen wir aber erst noch abschließend klären.«

»Wie lange wollen Sie sich das eigentlich noch mit ansehen?«, giftete der alte Mann. »Sie glauben wohl, nur weil wir alt sind …« Er ließ in der Schwebe, was die Polizeibeamten seiner Ansicht nach genau glaubten.

»Das ist doch Unsinn«, entgegnete die junge Kommissarin wenig taktvoll und rief entsprechende Entrüstung in den faltigen Gesichtern hervor. »Wir sind sogar verpflichtet, jedem Hinweis nachzugehen. Vor allem, wenn es sich um den Verdacht eines Kapitalverbrechens handelt.«

»Kapitalverbrechen?«, krächzte eine alte Frau. »Hier geht es nicht um Geld, Kindchen, hier geht es um Mord.«

»Das ist doch dasselbe!«, belehrte sie der Glatzkopf ungeduldig von oben herab.

»Was? Geld und Mord?« Die alte Dame war entsetzt.

»Nein. Kapitalverbrechen und Mord.«

»Was sollen wir uns nicht länger ansehen?«, bemühte sich Lenz in sachlichem Ton um eine Beruhigung der Lage.

»Die Politesse hier nimmt uns nicht ernst«, schimpfte ein Mann mit stattlicher Statur, griechisch anmutender Kopfform und weißem Lockenschopf. »Nur weil wir alt sind und alte Leute Geld kosten, ist unser Leben in diesem Staat nichts mehr wert. Wir können ruhig sozialverträglich umgebracht werden. Dafür bekommt der Mörder dann am Ende noch das Bundesverdienstkreuz.«

Inzwischen hatte der Lärm auch Kerstin Finke aus ihrem Büro gelockt. »Was ist denn nun schon wieder los, Herr Merschhaus?«

»Ja, Sie wollen von alldem natürlich nichts wissen«, giftete der. »Das schadet nur dem Ruf des Hauses, nicht wahr? Aber Mord ist Mord, da ändern auch Sie nichts dran.«

»So«, ging Lenz nun mit autoritär erhobener Stimme dazwischen. »Jetzt beruhigen wir uns alle mal wieder und setzen uns hin.« Als Merschhaus widersprechen wollte, brachte er ihn mit einer schneidenden Handbewegung zur Ruhe. »Wir sind hier, um Sie nach Ihren Beobachtungen und Befürchtungen zu fragen. Und ich erwarte, dass Sie uns nach Kräften unterstützen.«

Das beruhigte nicht nur Merschhaus. Lenz beobachtete gleichermaßen erstaunt wie erfreut, dass ihm sein Befehlston augenblicklich Respekt eingebracht hatte. Auch die anderen alten Leute murmelten zustimmend und nach und nach ließen sich alle in der Sitzecke nieder.

»Was ist denn nun passiert?«, fragte Lenz jovial und vollführte eine einladende Geste. »Herr Merschhaus, bitte.«

»Wir haben dieser jungen Dame hier …«, er wies mit abfälliger Mimik auf Gina Gladow, »gesagt, dass das nicht der erste Mord in diesem Haus ist.«

»Herr Kottmann wurde nicht hier ermordet!«, ging Kerstin Finke dazwischen. »Niemand ist hier jemals ermordet worden!«

Lenz gab ihr gestisch zu verstehen, dass sie ihn einfach mal in Ruhe machen lassen sollte, und hakte nach: »Was wollen Sie damit andeuten, Herr Merschhaus?«

»Andeuten will ich gar nichts«, stellte der alte Mann herrisch klar. »Ich klage an. Vor drei Monaten ist eine weitere Mitbewohnerin in diesem Haus vergiftet worden. Für mich deutet das ohne jeden Zweifel auf einen Serientäter hin.«

»Langsam, Herr Merschhaus. Was ist genau passiert?«

»Elfriede Gerken«, rapportierte Merschhaus zackig. »Lag morgens tot in ihrem Bett. Angeblich Herzversagen.« Er lachte laut auf. »Ha! Elfi und Herzversagen! Von wegen. Am Abend vorher haben wir noch getanzt und am Morgen war sie plötzlich tot. Vergiftet worden ist die Elfi! Darauf verwette ich mein Ritterkreuz!«

Kerstin Finke war inzwischen vor Wut rot angelaufen und tigerte mit vor der Brust verschränkten Armen und gesenktem Blick vor der Sitzecke auf und ab. Die platzt gleich, dachte Lenz. Noch fünf Minuten und sie bekommt einen Herzinfarkt.

»Frau Finke«, sprang er ihr zur Hilfe, »was sagen Sie denn zu der Sache?«

Die Residenz-Leiterin hatte sichtbar Mühe, zumindest nach außen hin Ruhe zu bewahren. Sie atmete mehrmals tief durch, bevor sie mit gepresster Stimme antwortete: »Frau Gerken war 93 Jahre alt. Als wir sie morgens in ihrem Bett gefunden haben, haben wir gleich unsere Hausärztin gerufen. Die hat sie gründlich untersucht …«

»Ha!«, rief Merschhaus dazwischen. »Gründlich untersucht! Elf Minuten war sie in Elfis Zimmer. Elf Minuten! Ich habe auf die Uhr gesehen. Von wegen: gründlich untersucht! Die wusste doch schon vorher, was sie diagnostizieren sollte.«

»Herr Merschhaus, bitte!«, wies Lenz ihn zurecht und blickte dann Kerstin Finke aufmunternd an.

»Frau Dr. Reuther ist eine ausgewiesene Notfallärztin«, erklärte die Residenzleiterin bestimmt. »Sie hat eindeutig Herzversagen festgestellt. Ohne jeden Zweifel. Und genau so steht es auch im Totenschein.«

»Ihr steckt doch hier alle unter einer Decke.« Merschhaus sprang auf. »Einen nach dem anderen bringt ihr von uns um die Ecke. Und ich weiß auch warum: Weil wir euch lästig sind. Ihr habt Angst, dass wir euren guten Ruf gefährden. Deshalb müssen wir weg. Aber damit ist jetzt Schluss. Ab sofort lassen wir uns nur noch von Wolfgang helfen.« Die anderen Alten nickten und murmelten zustimmend. »Alle anderen Pflegekräfte haben absolutes Verbot, unsere Zimmer zu betreten.«

»So geht das nicht, Herr Merschhaus!« Kerstin Finke richtete sich auf und wurde mit einem Mal geschäftlich. »Ich leite dieses Haus und ich lasse mir von niemandem vorschreiben, wie ich das mache. Auch von Ihnen nicht, Herr Merschhaus. Glauben Sie mir, gerade bei den Bewohnern aus Trakt B täte es mir leid, wenn ich sie verlieren würde. Aber wenn es nicht anders geht, werde ich Ihnen allen kündigen!«

Nun richtete sich das aufgeregte Gemurmel der Alten gegen Merschhaus. Der japste entrüstet nach Luft und drehte sich schließlich zu den anderen um. »Krisensitzung!«, ordnete er an. »In fünf Minuten im Aufenthaltsraum. Wir lassen uns doch nicht drohen, Kameraden!« Gefolgt von den anderen marschierte er voraus und stieß eine Glastür so heftig auf, dass sie laut vor die Wand schlug. Der Pfleger Wolfgang wechselte einen unsicheren Blick mit seiner Chefin und folgte den alten Leuten dann mit besorgter Miene. Augenblicklich war die Sitzecke bis auf die Polizeibeamten und Kerstin Finke verwaist.

»Was war das denn jetzt?«, fragte Gina Gladow fassungslos. »Und was hat es mit dem Trakt B auf sich?«

Kerstin Finke ließ sich in einen der Sessel fallen und schnappte ebenfalls nach Luft. »Da wohnen unsere besonders zahlungskräftigen Bewohner. Deshalb fordern die auch immer eine besondere Zuwendung. Und die bekommen sie auch, aber in diesem Fall kann ich unmöglich nachgeben.«

»Und was hat Herr Merschhaus damit gemeint, dass die Bewohner des Traktes B dem Ruf des Hauses schaden?«, erkundigte sich Lenz. »Zahlungskraft ist doch nicht rufschädigend – eher im Gegenteil.«

Kerstin Finke rang mit sich und setzte mehrfach zu einer Antwort an. Schließlich sagte sie: »Also gut, Sie werden es ja sowieso herauskriegen. Alle Bewohner im Trakt B haben eine Vergangenheit, die nicht jedem gefällt.«

»Waren das Nutten und Zuhälter, oder was?«, zeigte sich Gina Gladow verständnislos.

»Unsinn!« Die Residenz-Leiterin sah Lenz direkt in die Augen. »Dann hätten wir sie nicht aufgenommen. Sie waren im Dritten Reich bei der SS und haben in Wewelsburg gearbeitet.« Als wäre sie geradezu erleichtert, nachdem sie das ausgesprochen hatte, lehnte sie sich nun in ihrem Sessel zurück.

»Wie bitte?« Gina Gladow blickte zwischen Lenz und Kerstin Finke hin und her. »Der Kottmann war nicht der einzige Nazi hier?«

Auch Lenz hatte Mühe, das Gehörte richtig einzuordnen. »Und warum haben die sich ausgerechnet hier bei Ihnen versammelt?«

»Die Zeit in Wewelsburg war für alle die schönste Zeit ihres Lebens. Nach dem Krieg …«

»Sie meinen, nach dem Dritten Reich«, fiel ihr Gina Gladow ins Wort. »Das sollte man nicht in einen Topf werfen.«

»Nach dem Dritten Reich«, fuhr die Residenz-Leiterin fort, »waren sie in ganz Deutschland verstreut, hatten dort ihre Familien und ihre Berufe. Aber jetzt, im Alter, sind sie alle allein. Und da zieht es sie eben wieder in die Nähe des Ortes zurück, an dem sie sich so wohlgefühlt haben. Hier bei uns haben sie sich wiedergetroffen. In dieser Gemeinschaft fühlen sie sich zu Hause.«

»Und das lassen Sie sich auch besonders bezahlen.« Gina Gladows Tonfall ließ offen, ob das eine Feststellung oder ein Vorwurf war.

»Die alten Leute können es sich leisten. Und diejenigen, die selbst nicht so viel Geld haben, werden aus einem Fonds unterstützt.«

»Ein Fonds für Altnazis? Das wird ja immer schöner!« Gina Gladow schüttelte angewidert den Kopf. »Und da regen Sie sich über Nutten und Zuhälter auf.«

»Warum vertrauen die alten Leute nur Wolfgang?« Lenz bemühte sich im Gegensatz zu seiner jungen Kollegin um Ruhe und Beschwichtigung.

»Weil er ihre Vergangenheit nicht verurteilt, sondern …«

»Sondern?«, kam es lauernd von Gina Gladow.

»Na ja, er bewundert die alten Leute und begegnet ihnen mit Respekt.«

»Ein Neonazi?«, spuckte die junge Kriminalbeamtin förmlich aus.

»So würde ich ihn nicht bezeichnen. Er hat … na ja … eher konservative Ansichten.«

»In was für einem Sumpf sind wir hier eigentlich gelandet? Altnazis, ein Fonds für Alte Kameraden und ein Neonazi als Pfleger.« Gina Gladow schüttelte heftig den Kopf. »Ich könnte kotzen!«

Lenz konnte ihre Reaktion nachvollziehen. Gleichzeitig tat ihm Kerstin Finke leid, die wie ein begossener Pudel in ihrem Sessel hockte. »Wir möchten dann bitte noch das Zimmer von Frau Gerken sehen«, sagte er.

»Das geht nicht«, entgegnete sie. »Das Zimmer ist schon wieder belegt. Da ist nichts mehr so wie bei Frau Gerken. Unsere Bewohner bringen ihre eigenen Möbel mit, verstehen Sie?«

Wolfgang kam wieder aus dem Beratungsraum der alten Leute und stellte sich neben Gina Gladow, die augenblicklich einen großen Schritt von ihm weg machte.

»Sind die Zimmer alle gleich aufgebaut?«, setzte Lenz seine Befragung fort.

»In Trakt B ja«, antwortete die Residenz-Leiterin.

»Haben Sie selbst Frau Gerken aufgefunden?«

»Nein, Wolfgang hatte Dienst und war dafür zuständig, die Bewohner in diesem Trakt bei ihrer Morgentoilette zu unterstützen.«

Lenz wandte sich dem Pfleger zu. »Beschreiben Sie uns bitte, wie Sie Frau Gerken aufgefunden haben.«

»Na ja, sie lag ganz normal im Bett, als ich hereinkam. Ich dachte zuerst, sie würde noch schlafen, auch wenn das ungewöhnlich war. In diesem Trakt sind fast alle Bewohner Frühaufsteher. Ich habe versucht, sie zu wecken, und dabei festgestellt, dass sie nicht mehr lebte.«

»Was heißt ›ganz normal‹? Lag sie auf dem Rücken oder auf der Seite?«

»Auf dem Rücken.«

»Und die Hände?«

»Die hatte sie auf der Bettdecke … wie sagt man? … verschränkt.« Wolfgang legte seine Hände wie zum Gebet zusammen und zeigte sie Lenz.

»Hm. Haben Sie noch selbst etwas unternommen oder gleich Frau Finke informiert?«

»Ich habe den Notknopf betätigt und der Stationsleiterin gesagt, sie soll sofort die Notärztin alarmieren. Die kam dann auch kurz darauf und hat den Tod festgestellt.«

»Können Sie sich sonst an irgendetwas Ungewöhnliches erinnern?«

»Nein, wie gesagt: Alles war wie immer.«

»Lag vielleicht etwas auf dem Nachttischchen? Oder auf dem Boden?«

Wolfgang dachte einen Moment nach. »Da waren nur Frau Gerkens Herztabletten auf dem Nachttischchen und ein halb ausgetrunkenes Glas Wasser, sonst nichts.«

»Frau Gerken hatte doch Herzprobleme?«

»Na ja, das haben doch die meisten in dem Alter. Wahrscheinlich war einfach die Tanzveranstaltung am Abend vorher zu viel für sie. Aber dazu kann Ihnen Frau Dr. Reuther Näheres sagen.«

»Wie kommt Herr Merschhaus auf die Idee, dass es sich um einen nicht natürlichen Tod gehandelt hat?«

»Keine Ahnung. Es ist eben einfach schwer, zu sehen, wie in diesem Alter ein Weggefährte nach dem anderen stirbt. Wenn da irgendetwas faul gewesen wäre, hätte Frau Dr. Reuther das gemerkt.«

»Danke«, schloss Lenz die Befragung. »Sie können jetzt gehen.«

Gina Gladow hatte die ganze Zeit über wie unbeteiligt danebengestanden. Nun blickte sie Lenz herausfordernd an.

»Ich denke, wir kommen hier jetzt nicht weiter«, sagte der und wandte sich Kerstin Finke zu. »Die Kollegen von der Spurensicherung werden sich heute noch Herrn Kottmanns Zimmer ansehen. Sorgen Sie bitte dafür, dass niemand es bis dahin betritt. Sobald der DNA-Abgleich gemacht wurde und wir Klarheit haben, melde ich mich bei Ihnen.« Er reichte ihr noch einmal die Hand und nickte ihr freundlich zu. Dann folgte er seiner Kollegin, die schon die Treppe hinablief, ohne sich von der Leiterin zu verabschieden.

Unten in der Halle winkte Gina Gladow Mario lächelnd zu.

»Bis bald?«, rief der Marley-Darsteller hinter ihnen her.

»Vielleicht!« Die Kommissarin lachte.

Als Lenz auf dem Beifahrersitz Platz nahm und sie sich hinter das Steuer schwang, sagte der Hauptkommissar grimmig: »So etwas will ich nicht noch einmal erleben!«

»Was genau meinen Sie?«, hakte die Kommissarin unbeeindruckt nach, startete den Motor und wendete den Wagen routiniert in einem einzigen Anlauf.

»Dass Sie so mit Zeugen umgehen, wie Sie das mit Frau Finke gemacht haben.«

»Die hat Ihnen gefallen, was?«

»Jetzt werden Sie nicht auch noch unverschämt! Frau Finke ist für die Bewohner der Senioren-Residenz verantwortlich. Da ist es ja wohl ganz normal, dass sie Schuldgefühle entwickelt, wenn einer mir nichts, dir nichts verschwindet und drei Tage später ermordet aufgefunden wird.«

»Von Schuldgefühlen habe ich bei der Dame nichts bemerkt«, widersprach Gina Gladow. »Obwohl die ja wirklich angebracht wären. Im Übrigen muss man schon verdammt abgebrüht sein, wenn man alte Nazis beherbergt.«

»Nein, als Leiterin eines Altersheimes muss man sehen, dass man die Kosten deckt. Da sind alle zahlungskräftigen Kunden ein Segen. Und was die Alten angeht: Wenn die sich etwas hätten zuschulden kommen lassen, wären sie nach 1945 verurteilt worden.«

Nun lachte Gina Gladow laut auf. »Wo leben Sie eigentlich? Glauben Sie etwa auch noch an den Klapperstorch? Von denen ist doch kaum einer vor Gericht gekommen. Und wenn doch, dann wurden die Verfahren verschleppt. Die gesamte Justiz und selbst die Adenauer-Regierung waren braun verseucht. Die alten Kameraden haben schon dafür gesorgt, dass keinem von ihnen etwas passiert.« Sie schüttelte den Kopf und schnaufte grimmig. »Das ist ja selbst heute noch nicht anders. Sehen Sie sich doch die Prozesse der letzten Jahre an. Welcher der alten Verbrecher wird denn noch nennenswert verurteilt? Sogar Neonazis können jahrelang ungehindert und gedeckt durch unsere Verfassungsschutzorgane morden. Und wenn sie dann vor Gericht stehen, wie Beate Zschäpe, dauert so ein Prozess Jahre, weil der Rechtsstaat den Tätern die Füße leckt. Wir machen uns doch lächerlich!«

»Was vor Gericht passiert, liegt nicht in unserer Verantwortung«, sagte Lenz so gleichmütig wie möglich. »Wir sind für die Strafverfolgung zuständig. Und Frau Finke hat sich nichts zuschulden kommen lassen. Deshalb ein für alle Mal: So einen Auftritt wie heute erlauben Sie sich nicht noch einmal. Habe ich mich da klar ausgedrückt?«

»Glasklar, Chef.« Gina Gladow grinste ihn spöttisch von der Seite an. »Von jetzt an kusche ich und mache Männchen, wenn Sie den Raum betreten.«

Lenz hatte Mühe, nicht laut zu werden, als er sich ihr nun ganz zuwandte. »Sie behandeln Ihre Vorgesetzten ab sofort respektvoll und akzeptieren die dienstliche Hierarchie. Sonst werde ich persönlich dafür sorgen, dass Ihre Karriere bei der Kriminalpolizei ein schnelles Ende findet. Und das täte mir aufrichtig leid, denn Sie scheinen im Grunde eine sehr gute Polizistin zu sein.«

Gina Gladow starrte von nun an stur geradeaus, während Lenz aus seinem Seitenfenster blickte und die Landschaft an sich vorbeiziehen ließ, ohne wirklich etwas wahrzunehmen. Er brauchte Zeit, bis seine Wut verraucht war. Was war nur mit ihm los, dass er sich derart aus der Reserve locken ließ?

Die letzte Szene in der Empfangshalle der Senioren-Residenz drängte sich wieder in sein Gedächtnis. Marios Grinsefresse tauchte vor ihm auf und er dachte über die unterschiedlichen Reaktionen seiner jungen Kollegin auf ihn während der Hinfahrt und auf Filz-Mario nach. Daraus sollte mal einer schlau werden. Das ließ sich tatsächlich allenfalls durch den Altersunterschied erklären.

»Sie können ruhig laut denken«, ätzte Gina Gladow vom Fahrersitz aus. »Ich durchschaue Sie sowieso.«

Verfluchte Hexe, dachte Lenz. Statt zu antworten, biss er sich auf die Zunge und für einen Augenblick loderte vor seinem geistigen Auge ein Scheiterhaufen auf. Aber wirklich nur für einen ganz kurzen Augenblick.

Der letzte Prozess

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