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Im Besprechungszimmer herrschte abwartendes Schweigen, als Stefan Lenz eintrat. Schröder hatte vorsorglich seitlich am Tisch Platz genommen, gegenüber von Gina Gladow, und stierte auf den unbeschriebenen Notizblock, der vor ihm lag. KK Henke klopfte mit dem Bleistiftrücken im Takt auf die Tischplatte und die Oberkommissare Jakobsmeier und Steinkämper wechselten gelangweilte Blicke.

»So, Kollegen.« Lenz setzte sich ans Kopfende des Tisches. »Dann lasst uns zügig anfangen, damit wir alle in den Feier­abend kommen. Frau Gladow, setzen Sie das Team bitte über unseren Besuch in Büren ins Bild.«

Erstaunt blickte die Kriminalkommissarin ihn an, begann aber dann mit einem flüssigen Vortrag. Lenz war beeindruckt von der Sicherheit, mit der sie ihren Bericht so ganz ohne Vorbereitung strukturierte. Als sie die Lebenshintergründe Anton Kottmanns und der anderen alten Leute in Trakt B referierte, erntete sie ungläubiges Gemurmel aus der Runde. Ihre Beschreibung des Pflegers Wolfgang, von dem Lenz nun erstmalig erfuhr, dass er mit Nachnamen Kaup hieß und in Niederntudorf wohnte, rief schließlich allgemeines Kopfschütteln hervor.

KOK Jakobsmeier urteilte: »Das darf doch nicht wahr sein. Was ist denn das für ein brauner Sumpf?«

»Genau das müssen wir klären«, stimmte Lenz zu. »Ich glaube zwar noch nicht daran, dass wir es wirklich mit einem Serientäter zu tun haben, aber die Todesumstände des Opfers Kottmann könnten ja durchaus im Zusammenhang mit seiner früheren Lagertätigkeit stehen. Der Auffindeort der Leiche spricht jedenfalls dafür.«

Gina Gladow legte das Fotoalbum, das sie mitgenommen hatten, unter ein Projektionsgerät, blätterte es langsam durch und warf die Bilder so nacheinander auf das Smartboard.

»Kann jemand von Ihnen etwas mit den Motiven anfangen?«, erkundigte sich Lenz.

»Das müsste der Wewelsburger Steinbruch sein, in dem die Häftlinge schuften mussten«, antwortete KOK Jakobsmeier.

»Dass man so etwas in einem privaten Album aufbewahrt«, zeigte sich Steinkämper verständnislos. »Ob der Alte die Fotos damals selbst geschossen hat? Wie Urlaubsfotos oder so? Blättert man das Album dann mit den alten Kameraden durch und erfreut sich an den schönen Erinnerungen, oder was?«

»Offensichtlich«, antwortete Lenz. »Wir haben das Album jedenfalls im Nachtschränkchen des alten Mannes gefunden.«

»Vielleicht ist das die Parallele zu dem Felsbrocken, mit dem der Alte erschlagen wurde«, überlegte Jakobsmeier. »Auch die Peitschenhiebe passen in das Bild. Und wenn die Nazi-Täter so alt werden, gilt das auch für die Überlebenden unter ihren Opfern. Vielleicht übt einer von denen nun Rache.« Auf das skeptische Gemurmel seiner Kollegen hin ergänzte er: »Na ja, es muss ja keiner der Alten selbst sein. Vielleicht ist es ein Nachfahre eines Opfers.«

»Sehr guter Ansatz, Kollege«, lobte Lenz. »Verfolgen Sie das bitte weiter. Frau Gladow wird Ihnen im Anschluss die Dokumente des Toten geben, die uns vielleicht weiterhelfen. Und versuchen Sie auch herauszubekommen, welche Funktion die andere Verstorbene aus der Residenz seinerzeit hatte, diese … wie hieß die doch gleich?« Er blickte Gina Gladow hilfesuchend an.

»Elfriede Gerken.«

»Richtig. Kollege Schröder, Sie und Herr Steinkämper nehmen alle anderen Bewohner aus Trakt B unter die Lupe. Wir müssen jeder Überraschung in dem Fall vorbeugen. Falls es wirklich kein einzelner Mord gewesen sein sollte, haben wir eine Menge aufzuarbeiten. Außerdem wird der Täter dann möglicherweise weitermachen und ich möchte vorbereitet sein.« Schröder verzog keine Miene, während KOK Steinkämper eifrig nickte und sich Notizen machte. »Frau Gladow geht auf die Suche nach überlebenden Opfern, die hier in der Nähe wohnen, und nimmt Kontakt zu der Ärztin auf, die Frau Gerkens Totenschein ausgestellt hat. Ich will alles über die Krankengeschichte und die genauen Todesumstände wissen. Haarklein. Im Zweifel buddeln wir sie wieder aus und obduzieren selber noch einmal. Wir können es uns nicht leisten, dass uns ein paar alte Nazis vorwerfen, wir würden einem Mordverdacht nicht hinreichend nachgehen. Ich will den Fall absolut wasserdicht haben.«

»Zu Befehl«, erwiderte Gina Gladow und vermied den direkten Blickkontakt.

»Gut, Kollegen.« Lenz schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Morgen ist Samstag, da müssen Sie alle ran. Mord­ermittlungen kennen zwar eigentlich kein Wochenende, aber den Sonntag gönne ich Ihnen. Am Montag erwarte ich erste Ergebnisse.«

»Und was machen Sie in der Zeit?«, entwischte es KHK Schröder in angefressenem Tonfall.

»Ich habe noch zwei Tage Urlaub«, entgegnete Lenz. »Aber Sie können beruhigt sein. Ich werde die Umgebung des Tatortes mal genau unter die Lupe nehmen. Immerhin bin ich der Einzige hier, der bis heute völlig ahnungslos war, auf was für einem historischen Boden ich in Zukunft tätig werde. Ich habe also einiges aufzuarbeiten.« Er schob seinen Stuhl zurück, stemmte sich auf der Tischplatte hoch und blickte unternehmungslustig in die Runde. »Wie sieht’s aus? Sie kennen doch sicher eine nette Kneipe in der Nähe, in der ich Ihnen zum Einstand einen ausgeben kann. Nur auf ein Stündchen.«

»Tut mir leid, Chef«, sagte KOK Jakobsmeier. »Ich muss nach Hause und auf die Kleine aufpassen. Meine Frau hat heute Mädels­abend. Einmal im Monat zieht sie mit ihren Freundinnen um die Häuser. Der Abend ist ihr heilig.«

»Ich kann auch nicht«, schloss sich KOK Steinkämper an, ohne das näher zu erläutern.

KHK Schröder murrte: »Auf mich müssen Sie auch verzichten. Hat ja schließlich keiner damit rechnen können, dass Sie hier heute aufkreuzen.«

Gina Gladow schwieg, allerdings sah Lenz ihr an, dass ihr in der Situation nicht ganz wohl war. Vielleicht konnte er bei ihr Punkte sammeln, wenn er sie nicht auch noch persönlich ansprach.

»Gut, Kollegen, dann holen wir das ein anderes Mal nach«, schloss Lenz so beiläufig wie möglich. »Dann mit etwas mehr Vorlauf. Schönen Feierabend!«

Stühle wurden geschoben, Papier raschelte, Schröder stürmte hinaus, die anderen Kollegen unterhielten sich leise, während sie ebenfalls den Besprechungsraum verließen. Lenz ging zu seinem Vorzimmer, wo Frau Gellert mit einem Headset vor ihrem PC-Bildschirm saß.

Als er eintrat, nahm sie die Kopfhörer ab und blickte ihn lächelnd an. »Sie haben sich Ihren Einstand auch anders vorgestellt, was? Noch bevor Sie richtig da sind, schon das volle Programm.«

Lenz winkte ab. »So ist das nun mal in unserem Job. Wenn ich es anders haben wollte, wäre ich zum Finanzamt gegangen. Aber ich fürchte, beliebter wäre ich dann auch nicht.«

Frau Gellert lachte.

»Sagen Sie«, Lenz bemühte sich um einen angemessen hilflosen Gesichtsausdruck, »Sie haben heute Abend wohl keine Zeit, mir das eine oder andere lohnende Lokal in Paderborn zu zeigen? Ich kenne mich ja noch nicht aus und habe keine Lust, einsam durch die Stadt zu irren.«

Wieder lachte Frau Gellert, schüttelte aber den Kopf dabei. »Ich bin sicher, dass Sie sich auch ganz schnell alleine zurechtfinden werden.«

Lenz seufzte theatralisch und verließ mit hängenden Schultern den Raum.

Die Wohnung in der Kiesau empfing ihn düster und kalt. Lenz warf seine Reisetaschen, in denen sich seine gesamte Kleidung befand, gleich im Flur in eine Ecke und drehte erst einmal eine Runde durch die Räume. Er hatte die Wohnung gemietet, ohne sie sich vorher angesehen zu haben, und so war er einigermaßen erschrocken über die Möblierung in Eiche Brutal, die sich durch alle Zimmer zog. Am schlimmsten war die Schrankwand im Wohnzimmer, die seine Augen neben der kackebraunen Farbe auch noch mit der goldschimmernden Bleiverglasung einer Vitrine traktierte. Übertroffen wurde das allenfalls von der Sitzgarnitur, deren beiger Bezug geradezu stachelig wirkte. Alles im Raum atmete den Verwesungsbrodem der alten Frau, die hier jüngst verstorben war.

Das Schlafzimmer war ähnlich grauenhaft. Lenz ärgerte sich, dass er den Kollegen für den kommenden Tag einen Besuch in Wewelsburg versprochen hatte. Wenn er das alles hier sah, hätte er besser einen Möbelwagen gemietet, den ganzen Schrott abgerissen und zur Müllkippe gebracht und wäre dann direkt zu IKEA gefahren. Es schüttelte ihn, wenn er daran dachte, auch nur eine Nacht in dem Mördertrumm von Ehebett schlafen zu müssen.

Die Küche war erwartungsgemäß klein, aber umfänglich ausgestattet. Das Bad schreckte mit glänzenden dunkelgrün-braun-marmorierten Fliesen ab, aber immerhin gab es in der Badewanne sogar einen Duschvorhang, wenn auch mit lila Blütenmuster. Der würde sich schnell auswechseln lassen. Und dann gab es noch ein kleines Zimmer mit Fenster zur Straße, in dem Lenz einen alten Sekretär vorfand. Dieses Möbelstück würde er, abgesehen von der Küche, wohl als einziges behalten.

Lenz trat an das beschlagene Fenster, drehte den Heizkörper darunter auf und blickte hinunter auf die Straße. Die Wohnung befand sich im zweiten Stock. Nebenan lag das Deutsche Haus, ein Restaurant der gutbürgerlichen Art. Daneben befanden sich Studentenkneipen. Direkt gegenüber lag der Lockvogel, eine Art Bistro, das von hier aus so modern wie gemütlich wirkte. Etwas weiter die Straße hinauf, das hatte Lenz beim Einparken gesehen, gab es ein Paderborner Brauhaus mit angrenzendem Biergarten. Die vielfältige Gastronomie in direkter Nähe und die zentrale Lage am Pader-Quell-Gebiet, nur fünf Minuten Fußweg von der Innenstadt entfernt, waren durchaus geeignet, ihn zumindest vorübergehend mit dem Umzug nach Paderborn zu versöhnen.

Lenz gab sich einen Ruck. Was sollte er den Abend in der Tristesse seiner Wohnung verbringen, wenn da draußen das Leben tobte? Er stieß sich von der Fensterbank ab und verließ seine Eichegruft, um das Brauhaus einer intensiven ersten Recherche zu unterziehen.

*

Stade, den 30. Oktober 1939

Mein lieber stolzer Offizier!

Nun liegt wieder ein lieber Brief von Dir vor mir auf dem Tisch, den ich gleich beantworten will.

Was habe ich mich über Deine Beförderung gefreut! Ich habe gleich den Kindern davon erzählt, dass der Vati nun Sturmführer ist und sogar den Reichsführer persönlich kennt, und da ist der Anton durch die Stube marschiert und war auch Sturmführer. Der Junge vermisst Dich ganz besonders.

Was Du von dem Fluchtversuch geschrieben hast, hat mich schon erschreckt, aber Ihr habt den Verbrecher ja zum Glück wieder eingefangen. Und wenn Du Dir Sorgen darüber machst, was ich über die Härte denke, die Du ihm angedeihen lassen hast, so unterschätzt Du Dein Mütterchen aber gewaltig. Es ist nur gut, daß Du ihn gleich erschossen hast. Das hat er nicht besser verdient und wird den anderen Häftlingen eine Lehre sein. Nicht auszudenken, wenn jeder einfach so ausbrechen und im Volk sein Unwesen treiben könnte!

Ich stelle mir vor, dass Dein Dienst hart ist mit all den Verbrechern, die Du dort bewachen mußt. Laß ihnen die nationalsozialistische Erziehung nur recht deutlich angedeihen.

Als ich dem Anton von Deiner Versetzung nach Ostwestfalen erzählt habe, hat er gleich mit dem Baukasten Vatis Wewelsburg nachgebaut. Und dann hat er mit dem Lastwagen und den Soldaten KZ gespielt und gar viele Gefangene auf der Flucht erschossen. Der Junge ist mir eine rechte Freude und erinnert mich immer sehr an Dich. Nun steht es für ihn fest, daß auch er zur SS will.

Mein lieber Vati, nun steht auch bald der Winter vor der Tür, bei Dir in Oranienburg wohl sicher eher als hier bei uns im hohen Norden. Zieh Dich nur immer warm an, wenn Du nach draußen zur Arbeit gehst. Hast Du auch genügend warme Unterwäsche, soll ich Dir etwas schicken?

Nun haben wir gerade einmal zwei Monate Krieg und schon wird bei uns an der Heimatfront die Versorgungslage immer schlimmer. Im Moment ist die Butter knapp und es gibt keine Seife mehr zu kaufen. Nur die Frauen mit Säuglingen bekommen noch welche. Im »Völkischen Beobachter« hat aber gestanden, daß es bald eine Einheitsseife geben soll. Der Führer hat das Problem erkannt und angeordnet, daß Abhilfe geschaffen wird. Da siehst Du es: Er will ein reinliches Volk haben, nicht nur im Blut, auch äußerlich.

Sag mal, lieber Vati, warum bekommt Ihr im KZ eigentlich nur 50 Pfennige pro Tage für die Verpflegung? An der Front haben sie eine Mark. Da bleibt was übrig, das sie nach Hause schicken können. Das ist doch ungerecht, wo doch Dein Dienst so wichtig ist, damit uns die Juden und die Politischen nicht in den Rücken fallen wie im Ersten Weltkrieg.

Zum Glück wird das mit Deiner Beförderung nun anders. Ich habe mich erkundigt: Als Offizier bekommst Du 350 Reichsmark Bekleidungsgeld. Musst Du davon nur die Uniform kaufen oder auch die Unterwäsche? Wenn man bedenkt, dass Du dazu täglich 2 Reichsmark ausgezahlt bekommst! Das läppert sich.

Die letzte Woche war auch bei uns sehr ereignisreich. Ich war mit den Kindern bei Oma und Opa. Es gab Kaffee und Kuchen, Obst und Apfelsaft und auch Rumgrog gegen die Kälte. Überhaupt war wieder alles, als wäre gar kein Krieg. Zu Weihnachten wird Opa wieder schlachten und dann kriegen auch wir unseren Teil ab.

Für Gretchen habe ich auf dem Speicher eine alte Puppen­küche und einen kleinen Herd gefunden. Das wird sie nun zu Weihnachten bekommen. Nur muss ich es erst noch in Ordnung bringen.

Wenn Du an Weihnachten nach Hause kommst, wirst Du Deine Kinder bestimmt nicht wiedererkennen. Sie haben sich im Wesen so verändert. Anton und Gretchen streiten immerzu. Nur die kleine Marie ist mir eine Freude, der kleine Hosenscheißer. Es wird Zeit, daß auch sie bald stubenrein wird. Aber nein, ich bin ungerecht. Auch Anton und Gretchen können ganz lieb sein, wenn wir am Abend zusammensitzen, vom Weihnachtsmann und vom Vati im KZ erzählen und Weihnachtslieder singen.

Schreib mir, wenn Du etwas brauchst. Und schick ein Telegramm, wenn Du auf Urlaub kommst. Ich hole Dich dann am Zug ab, auch wenn Du in der Nacht eintriffst. Du fehlst uns schon sehr. Möge der Führer dafür sorgen, daß unsere Feinde im Innern und auch außerhalb recht bald bekommen, was sie verdienen, damit wir Frauen unsere Männer zurückbekommen und die Kinder ihre Väter.

So, mein lieber Hausvater, nicht nur die Butter wird knapp, auch Packpapier und Paketband sind kaum noch zu kriegen und selbst das Schreibpapier ist Mangelware und so werde ich Dir von nun ab nicht mehr so lange Briefe schreiben.1

Aber eine Frage will ich Dir dann doch noch schnell beantworten: Was soll ich mir wohl vom Weihnachtsmann wünschen, außer daß der Krieg bald aus ist und alle Muttis ihre Vatis wieder zu Hause haben? Sonst weiß ich wirklich nicht, was ich mir wünschen könnte, außer vielleicht 4711 und ein paar Pralinen und vielleicht Parfum und Schüsseln und Töpfe für die Küche.

Die Kinder wünschen sich nur, daß Du zu Weihnachten zu Hause bist.

Ich umarme und küsse Dich in Gedanken!

Auf immer Dein Muttchen!

1) Das Deutsche Reich war zu Kriegsbeginn wirtschaftlich am Ende. Bereits am 25. September 1939 wurden Lebensmittelkarten eingeführt, mit denen die Zuteilung der knappen Nahrungsmittel gesteuert werden sollte. Am 14. November folgte der Verkauf von Kleidung nur noch über Bezugskarten.

Der letzte Prozess

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