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ОглавлениеStefan Lenz hing durch, und das in mehrfacher Hinsicht: Die Matratze, auf der er aufwachte, bildete eine Kuhle wie eine Hängematte und schien direkt auf dem Boden zu enden; in seinem Schädel kippte gerade ein Lastwagen Schottersteine ab; seine Augenlider wurden von Lichtspeeren durchbohrt und ließen sich nicht öffnen; und direkt neben ihm wütete ein Grizzly. Letzteres kam ihm seltsam vor.
Lenz zwang sich, den Kopf in Richtung der größten Bedrohung zu wenden, ihn leicht anzuheben und wenigstens durch einen Sehschlitz von vielleicht einem halben Millimeter zu blinzeln. Dass er beides besser nicht getan hätte, wurde ihm schlagartig klar, als der Schmerz in seinem Schädel derart explodierte, dass er auf das Kopfkissen zurückgeworfen wurde. Sturmerprobt und schicksalsergeben wartete er auf das Abbranden der Pein, die – seine Erfahrung ließ gar keinen anderen Schluss zu – nur von allzu engagierter Alkoholvernichtung herrühren konnte.
Mit geschlossenen Augen versuchte er, sich an irgendetwas zu erinnern, das diese Schlussfolgerung bestätigen konnte. Aber da war nichts als dröhnende Leere, die in seinem Schädel von Wand zu Wand widerhallte. Und dann ging der Grizzly dem Brummen nach zu urteilen auch noch zum Angriff über. Lenz trotzte dem Schmerz und riss die Augen auf. Zwanzig Zentimeter von sich entfernt erblickte er an Stelle des erwarteten Bären einen Hinterkopf mit dunklem Kurzhaarschnitt. Von dort kam der bedrohlich tiefe Laut, der sich nun als Schnarchen identifizieren ließ. Das konnte ja wohl nicht wahr sein! War er irgendwann in der Nacht so besoffen gewesen, dass er einen Kerl mit nach Hause genommen hatte? Oder schlimmer noch: eine Transe? Die bärtige Fratze von Conchita Wurst tauchte vor seinem geistigen Auge auf und erzeugte augenblicklich so etwas wie Panik in dem Hauptkommissar. Hätte nicht der Schmerz in seinem Kopf davor gewarnt, wäre Lenz mit einem Satz aus dem Bett gesprungen und hätte den größtmöglichen Abstand zwischen sich und das Grauen gebracht.
So aber blieb ihm nichts anderes übrig, als sich dem Furchtbaren zu stellen. Möglicherweise spielte ihm ja auch nur eine Art von Delirium einen Streich. Lenz fasste allen Mut, den er in einer solchen Lage aufbringen konnte, und beschloss, der Sache auf den Grund zu gehen. Vorsichtig tastete er sich zu der Decke seines Bettgenossen vor und hob sie sanft an. Was er sah, erfüllte seine schlimmsten Befürchtungen. Ein nackter Rücken wandte sich ihm zu, splitterfasernackt bis hinunter zu den Arschbacken. Entsetzt ließ Lenz die Decke fallen und hangelte sich langsam rückwärts aus der Liegekuhle seines Bettes. Mit wackeligen Beinen umrundete er das rustikale Trumm, während sich das Schnarchen seines Bettgenossen zu einem furioso brutale steigerte.
Als er die andere Seite des Bettes erreichte, erblickte er auf dem Kissen wenigstens nicht die bärtige Conchita, sondern ein schlankes, fein geschnittenes Gesicht. Der Lidschatten war etwas verlaufen und aus dem halboffenen Mund rann ein Speichelfaden, der das Kopfkissen mit zuverlässig ständig nachströmender Feuchtigkeit versorgte. Ein Schauer lief über Lenz’ Rücken. Da hatte er doch tatsächlich eine Transe in sein Bett gelassen! Und dass auch er selbst splitterfasernackt war, wie er nun feststellte, machte die Sache nicht besser. Das hatte er nun von seinem ausufernden Lebenswandel. Scheiß Alkohol! Lenz stöhnte hingebungsvoll.
Sein Bettkumpan röhrte noch einmal auf, brach dann mitten in dem Ton ab, schnorchelte Speichel, drehte sich auf den Rücken und war schlagartig kein Grizzly mehr, sondern ein Krokodil, das nach einem unvorsichtigen Pavian schnappte, der sich zu nah an den Fluss herangetraut hatte. Dann schnarchte er einige Dezibel leiser, dafür aber mindestens noch eine Oktave tiefer weiter. Im Widerspruch dazu wirkte das Gesicht nun deutlich weicher und irgendwie weiblich.
Dies war der Moment, in dem ein kleiner Funken Hoffnung in Lenz aufflackerte. Vorsichtig hob er die Bettdecke an und schlug sie weit zurück. Wohlgeformte, straffe Brüste gerieten in sein schräges Blickfeld. Nun gut, das musste ja nichts heißen. Die plastische Chirurgie kannte schließlich nicht nur in ihrem Preis keine Grenzen. Aber auch weiter unten wurde Lenz angenehm überrascht. Dass dort ebenfalls nur weibliche Geschlechtsmerkmale zu entdecken waren, ließ einen Stein von der Größe des Watzmanns von seiner Brust fallen und ebnete prompt den Weg zu einer ausgeprägten ersten Erektion an diesem Tag, was Lenz erfreut zur Kenntnis nahm.
Einen Moment lang rang er mit sich, angesichts der greifbaren Verlockungen wieder in sein Bett zu kriechen, aber dann bahnte sich die Vernunft ihren Weg in sein Gehirn. Also schlich er aus dem Zimmer, um erst einmal aufs Klo und unter die Dusche zu gehen. Alles Weitere würde sich dann schon ergeben.
Als er fünf Minuten später in der Wanne unter dem heißen Wasserstrahl stand, öffnete sich die Badezimmertür. Durch die beschlagene Duschfolie und im Wasserdampf, der durch den Raum waberte, identifizierte Lenz lediglich einen Schattenriss, der sich vor seine Toilette stellte. Verflucht, also doch eine Transe! Wie hatte er das eben übersehen können? Der Schatten löste sich vom Klo, während die Spülung rauschte, und kam auf den Duschvorhang zu. Eine Hand langte in den Spalt und schob die Folie auf. Lenz wich automatisch zurück, bis sein Rücken die kalten Fliesen berührte.
»Mach ma Platz«, forderte der Typ und schob sich ebenfalls unter die Dusche.
Lenz hatte es die Sprache verschlagen. Mit offenem Mund starrte er den Kerl an, der seelenruhig nach dem Duschgel griff und damit begann, sich ausgiebig einzuseifen.
»Ich bin übrigens der Bernie«, stellte er sich vor. »Du warst so zu letzte Nacht, da glaube ich nicht, dass du dich an mich noch erinnern kannst, oder?«
Lenz schüttelte fassungslos den Kopf. Und dann registrierte er etwas, das ihn erleichtert aufatmen ließ: Bernie hatte lange, dunkelblonde Haare und nicht den geringsten Ansatz von Brüsten. Wer auch immer Bernie war, die dunkle Schönheit aus seinem Bett war er nicht.
»Natascha schläft noch?«, erkundigte sich Bernie.
»Äh, ja, ich glaube schon.« Natascha – Puh!
»Respekt, Alter.« Bernie schlug Lenz patschend auf die Schulter. »Ich bagger seit Jahren an ihr rum, aber von mir hat sie sich noch nie flachlegen lassen. Und dann kommst du und schleppst sie gleich am ersten Abend ab. Ehrlich, Mann: Respekt!«
»Wenn ich mich nur daran erinnern könnte, ob überhaupt etwas passiert ist«, wandte Lenz ein. »Ich habe einen Filmriss.«
»Das wundert mich überhaupt nicht«, verkündete Bernie lachend, drückte ihm die Geltube in die Hand und nahm den Duschkopf aus der Halterung, um den Schaum gründlich abzuduschen. »Als du bei uns aufgeschlagen bist, warst du schon ziemlich breit. Dann bist du Natascha in die Fänge geraten und am Ende hattest du bestimmt fünfzehn Tequila intus. Aber ich kann dich beruhigen. Da ist ’ne Menge passiert zwischen euch. Ich war froh, als das Stöhnen aufgehört hat und ich endlich schlafen konnte.«
Bernie hängte den Duschkopf wieder ein und verließ die Kabine. Erst jetzt wurde Lenz bewusst, dass er die ganze Zeit einfach nur danebengestanden und Bernie beim Duschen zugesehen hatte. Fünfzehn Tequila? Ja, klar, nur so war das alles zu erklären. Aber wo, verdammt noch mal, hatte Bernie geschlafen?
Wieder öffnete sich die Badezimmertür. Natascha kam direkt auf die Dusche zu, schob den Vorhang zurück, murmelte »Mach ma Platz!« und nahm ihm das Duschgel aus der Hand.
Während Natascha im Schlafzimmer ihre Klamotten zusammensuchte, saßen Bernie und Lenz am Küchentisch und tranken eine tiefschwarze Brühe, die Bernie Kaffee nannte.
»Schnarcht die immer so?« Lenz deutete mit dem Kopf in Richtung Schlafzimmer.
»Nur wenn sie Tequila getrunken hat«, antwortete Bernie leichthin. »Da musst du drauf achten. Wenn du nachts schlafen willst, gib ihr keinen Tequila.«
Lenz nickte und war einen Moment versucht, ihn zu fragen, woher er das denn wusste, wenn er doch bislang nicht bei ihr hatte landen können. Aber so genau wollte er es dann doch nicht wissen.
Natascha kam herein, öffnete den Kühlschrank, ließ die Tür angesichts der gähnenden Leere wieder zufallen und fragte: »Wozu verschwendest du eigentlich den Strom? Schalt die Kiste doch einfach aus.«
»Ich bin noch nicht zum Einkaufen gekommen. Schließlich wohne ich erst seit gestern Abend hier.«
»Das erklärt’s natürlich.«
»Also los«, rief Bernie und setzte mit seiner Lautstärke wieder den Schotterlaster in Lenz’ Kopf in Gang. »Bei mir drüben ist der Kühlschrank voll. Lasst uns rübergehen.« Er wuchtete sich von seinem Stuhl hoch.
»Bei dir drüben?«, hakte Lenz vorsichtig nach.
»Im Lockvogel. Da wo du gestern versackt bist.« Er schüttelte den Kopf. »Mannmannmann, du erinnerst dich ja wirklich an gar nichts mehr.«
Eine Stunde später, unter dem Einfluss mehrerer Tassen eines starken Kaffees aus der Espressomaschine und eines reichhaltigen Frühstücks, sah Lenz klarer. Sein Zug durch die Paderborner Gastronomie hatte im Brauhaus begonnen, dann an mehreren nicht mehr zu rekonstruierenden Stationen Zwischenstopps eingelegt und zu vorgerückter Stunde im Lockvogel ihr Ende gefunden. Lenz hatte bei der Bedienung Natascha offenbar den richtigen Ton gefunden, so dass sie nach Lokalschluss ein Wettsaufen mit Tequila veranstaltet hatten. Wer den Vorschlag gemacht hatte, blieb strittig. Am Ende hatten beide gleichermaßen kapituliert und waren in sportlicher Eintracht Arm in Arm zu Lenz’ Wohnung hinübergetaumelt. Bernie, der Inhaber des Lockvogels, hatte zwar nur jeden zweiten Tequila mitgetrunken, war aber nach eigener Auffassung nicht mehr in der Lage gewesen, nach Hause zu finden, und hatte sich kurzerhand dem torkelnden Paar angeschlossen. Lenz rechnete es dem Wirt hoch an, dass er Anstand genug besessen hatte, nicht auch das Bett mit Natascha und ihm zu teilen, sondern auf der altmodischen Eckbank in der Küche zu schlafen.
Als Lenz gegen Mittag den Lockvogel verließ, waren die drei dicke Freunde und er freute sich auf eine Fortsetzung mit Natascha.
*
Wewelsburg, den 7. Januar 1940
Mein liebes Muttchen!
Nun ist mein kurzer Urlaub schon wieder einige Tage vorbei und ihr fehlt mir so sehr. Manchmal wünsche ich mir doch, ich wäre bei der Wehrmacht geblieben. Nach dem schnellen Sieg über Polen wäre ich nun schon längst wieder ganz bei Euch. Stattdessen bleibt mir nichts, als auf meinem schweren Posten fern von Euch nach Abwechslung vom Lagerleben zu suchen.
Heute bin ich draußen in dieser herrlichen Schneelandschaft spazieren gewesen. Es herrscht ein so tiefer Frieden hier in den Tälern und Wäldern. Nur das Knirschen der Schritte im Schnee ist zu hören. Und wenn man sich dann dem Dorfe wieder annähert, schweben plötzlich die fröhlichen Gesänge der Häftlinge, die den ganzen Tag im Steinbruch arbeiten und mit dem Schneeräumen auf den Straßen beschäftigt sind, über der Landschaft.
Nun will ich dir aber von Silvester erzählen, denn das ist mit den Kameraden hier in Wewelsburg eine sehr schöne Angelegenheit.
Wir haben eine kleine Hütte an den Berghang gebaut, in der wir uns bei unserem Dienst aufwärmen können. Wir nennen sie scherzhaft unsere »Skihütte«. Darin steht ein Ofen und es gibt Radio, Licht und Sitzgelegenheiten. Wenn jetzt die schneebedeckten Tannenzweige weit herabhängen und dann noch der Mond darauf scheint, gibt es wohl keinen schöneren Ort, um seine Kameradschaft zu feiern. Dort haben wir auch an Silvester einen Kasten Bier geleert.
Erst nach neun sind wir Führer in die Burg gezogen. Wir stiegen im gewaltigen Nordturm bis in den vierten Stock hinauf, wo die Feier schon in vollem Gange war. Dort wurden wir mit großem Hallo begrüßt und ich hatte gleich mehrere weibliche Wesen der Burgbesetzung neben mir. Da geht einem dann ja auch das Herz auf.
Bei der Feier waren die SS-Männer mit ihren Frauen und Bräuten anwesend und die Burgmaiden mit ihrer Burgdame, die sie bemuttert und immer nach dem Rechten sieht. Es gab Bowle und Butterbrote. Später wurde dann zur Quetschkommode getanzt.
Als ich um halb zwei Uhr ins Lager kam, lag alles in tiefstem Frieden.
An Neujahr hing der Schnee auf den Zweigen und unser kleines Bächlein, die Alme, war halb zugefroren. Die Kinder aus dem Dorf rodeln den ganzen Tag den Burgberg hinunter. Ich muß immer an unsere Kleinen denken, wenn ich sehe, wie viel Spaß sie dabei haben.
Die Arbeit im Steinbruch paßt sich nun der Witterung an. Wenn die Felsschichten zu hart sind, unterstützen wir die Häftlinge mit etwas Sprengstoff, sonst schaffen sie ihr Tagespensum nicht und die Arbeiten an der Burg dürfen nicht verzögert werden. Für die Wachen ist es harter Dienst, stundenlang in der Kälte zu stehen. Nachdem wir bereits minus 30 Grad gehabt haben, sind es nun nurmehr minus 14, aber der Dienst im Steinbruch geht auch bei diesen Temperaturen ununterbrochen weiter. Und wir SS-Männer haben es nicht so gut wie die Häftlinge, die sich mit ihren Spitzhacken und Schaufeln und beim Steineschleppen warmarbeiten können. Ich würde im Dienst gerne einen Schal tragen, aber wie sähe das denn aus zur Uniform?
Noch lieber würde ich in der warmen Stube bleiben, aber die Häftlinge brauchen ja Beschäftigung. Fast täglich haben wir nun Opfer unter den verweichlichten Kerlen. Ist aber nicht schade drum, wenn einer von denen sein Leben lässt. Der Winter hat schon immer Auslese gehalten und das Schwache ausgemerzt, damit das Starke im Frühjahr umso stärker aufblühen kann. So leisten wir hier unseren Teil zu einem starken und gesunden Volkskörper.
Nun aber zu uns: Was hältst Du davon, wenn Du im Frühjahr Oma und Opa für eine Woche bei uns einhütest und zu mir nach Wewelsburg kommst? Bring unseren Anton mit, dann bekommst Du auch kein Heimweh nach den Kindern und der Junge kann sich schon einmal Appetit holen auf den Dienst bei der SS.
In Erwartung auf eine positive Antwort!
Dein Vati