Читать книгу Bärenjäger - Thomas de Bur - Страница 6
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ОглавлениеFrüh morgens kann es ganz schön unheimlich sein. Mysteriöse, milchig-schimmernde Nebelschwaden lösen sich aus den Poren geheimnisvoller Wassergeister und schleichen als weiche, wachsende Wattebausche durch die mit glitzerndem Licht gefüllte Welt. Wahrscheinlich sind es gar keine Nebelschwaden, sondern der Atem eines scheuen, uralten Kältewesens, das nur nicht entdeckt werden will. Johan bettete seinen Kopf zurück in sein weiches Kissen. Jeden Morgen faszinierte ihn das Schauspiel. Normalerweise müsste man raus gehen und staunen. Johans Bett stand zwar so, dass er wunderbar aus dem Fenster gucken konnte, aber es auch zu fühlen war immer besser. Ziemlich gerädert war er heute und noch total müde. Er hatte nur etwa vier Stunden nach dem nächtlichen Festmahl geschlafen. Sein Bett war warm und kuschelig weich. Es hielt ihn fest umschlungen. Johan hatte Muskelkater in Armen und Beinen. Heute war er nicht imstande sich gegen die Umklammerung des Bettes zu wehren. Viel zu schwach fühlte er sich. Jetzt wollte er noch nicht aufstehen, er musste auch diesen schönen Traum von eben weiter träumen. In diesem Moment ging die Tür auf und seine Mutter schaute ins Zimmer. »Aufstehen Johan, Frühstück.« Johan blickte sie an und wollte gerade antworten, dass er heute etwas länger ausruhen musste. Dann fiel ihm jedoch ein, dass er dadurch die Zeit mit Lena und seinen Eltern am Frühstückstisch verpassen würde. Gemeinsames Frühstücken und Abendessen waren heilig. Also stand Johan mühsam auf. Frühstückszeit war auch Entscheidungszeit. Nicht immer im Sinne von Johans Wünschen, jedoch im Großen und Ganzen durchaus ausgewogen, wie er zugeben musste. Heute wollte er einen ruhigen Tag verbringen und angeln gehen. Er war sich sicher, dass er nicht zur Schule musste. Immerhin zwickte es überall und einen Tag Erholung brauchte er bestimmt noch. Seine Eltern und Lena saßen schon am Tisch, als Johan etwas leidend und mit gebrechlicher Körperhaltung zum Tisch schlurfte. »Johan, wenn du heute Mittag aus der Schule zurück bist, bring doch bitte dem alten Stellan ein Geschenk von uns. Ich werde eine Fleischpastete machen, darüber wird er sich freuen.« Wahnsinn, wie erschreckend laut sich diese zerstörerischen Detonationen anfühlen, wenn kleine Träume platzen. Die Schockwellen und Nachbeben, die von den umher fliegenden Traumfetzen verursacht werden, lassen manchmal sogar die Lippen zittern und Arme zucken. Johan brauchte eine Weile bis er sich gefangen hatte. »Muss ich heute wirklich schon zur Schule? Mir tut der ganze Körper noch weh. Das schaffe ich sicher nicht«, versuchte er das Blatt zu wenden. »Du hast den Fluss bezwungen, dann wirst du deinen Körper heute auch bezwingen«, meinte sein Vater daraufhin und damit war das Thema leider entschieden. Der kleine Troll, der auf dem Tisch neben dem Krug mit frischer Milch stand, hielt sich feixend den dicken Bauch. Auch hatte Johan ein bisschen den Eindruck, seine Eltern würden sich heimlich angrinsen, aber er ergab sich seinem Schicksal. »Ich helfe dir heute Nachmittag, wenn du das Geschenk zu Stellan bringst«, versprach Lena und blickte ihn dabei tröstend und verständnisvoll an. Der Vormittag in der Schule ging schneller herum als gedacht. Sicher hatte auch Lena dazu beigetragen. Sie musste allen ihren Freundinnen erzählt haben, dass sie von Johan aus dem Fluss gerettet wurde. Wie ein Lauffeuer fraß sich die Neuigkeit durch die ganze Schule. Die hochansteckenden Neugierdeviren huschten wieselflink von einer Ecke zur anderen und infizierten alle erreichbaren Kinder und Lehrer mit diesem unglaublichen Hunger nach wichtigen und unwichtigen Informationen. Es brach quasi eine Epidemie aus. In den Pausen wurde überall getuschelt und Johan wurden viel sagende Blicke zugeworfen. Mädchen lächelten ihn verträumt an und waren komischerweise immer irgendwo in seiner Nähe. Ziemlich verwirrend fand Johan das Verhalten seiner Mitschülerinnen, doch es schmeichelte ihm. Als er seinen Freunden erzählen musste, wie das im Fluss genau war, konnte man seine stolzgeschwellte Brust deutlich erahnen. Selbst die Lehrer wollten ihre Neugierde befriedigen und so verbrachte Johan den Deutschunterricht damit, sein Abenteuer ausführlich zu erzählen. Im Physikunterricht demonstrierte der Lehrer, welche Kraft das Wasser entwickeln kann und wie man sie nutzen könnte. Dabei wollte er von Johan andauernd wissen, wie stark ungefähr das Wasser im Fluss war. Nur der Englischlehrer übertrieb etwas, denn bei ihm musste Johan das Ganze in Englisch berichten. Als Johan mittags wieder zu Hause ankam, legte er sich eine kleine Weile erschöpft auf sein Bett, träumte vor sich hin und dachte an die Mädchen in der Schule. Der Vormittag hatte Spuren hinterlassen. Am frühen Nachmittag packten Lena und Johan die leckere Fleischpastete in einen Rucksack, nahmen Bamse an die Leine und machten sich auf den Weg zu Stellan. Stellan war ein alter Same und lebte zurückgezogen in einer kleinen Hütte oben am Fluss. Er war bestimmt über siebzig Jahre alt. Johan und Lena kannten ihn nicht sehr gut. Stellan kam nur ab und zu auf den Waldhof, um ihren Vater abzuholen. Die Beiden gingen regelmäßig zusammen in den Wald. Was genau sie im Wald machten, wussten Lena und Johan nicht. Etwa zwei Kilometer hatten sie bis zu der Hütte von Stellan zu laufen. Sie wählten den Weg oberhalb des Flusses, durch den Wald. Vom Waldhof aus ging es erst über die Wiese bis zum Waldrand, dann im Wald immer parallel zum Fluss. Man konnte ihn die ganze Zeit von oben sehen oder man hörte das gleichmäßige Plätschern und Rauschen. Die Sonne schien strahlend und nur ein paar Schleierwolken schwebten lautlos über den Himmel. Es würde garantiert trocken bleiben. Im Wald gab es keine Wege, doch das gefiel Lena und Johan besonders gut. Lena hüpfte die ganze Zeit um Johan herum und suchte den Boden ab. Der Waldboden federte wie ein weicher, flauschiger Teppich. Alte, verdorrte Nadeln der Fichten und Kiefern mischten sich mit Birkenblättern, Zapfen, Federn, Holzstückchen und knorrigen Wurzeln. Überall wuchsen kleine, grüne Inseln mit Blaubeerbüschen und Waldmeister. Es roch wunderbar würzig. Lena fand einen großen Käfer und nahm ihn auf die Hand. Ein schwarz glänzender, dreigeteilter Panzer schützte das zerbrechliche Tier. Am Maul hatte es zwei Furcht einflößende Zangen, die es immer auf und zu klappte. Wenn man es vorsichtig auf die Hand setzte, verursachten die Beine mit den Widerhaken ein witziges Zwicken auf der Haut. Man erwartete, dass es wehtun würde, weil die Haken und Zangen so gefährlich aussahen, doch man fühlte nur ein ganz leichtes, raues, hakiges Tapsen. Bamse schnüffelte an dem Käfer auf Lenas Hand, aber er zuckte sofort zurück. Der Käfer war ihm wohl nicht geheuer. Vorsichtig setzte Lena den Käfer zurück auf den Waldboden. Ein paar hundert Meter weiter hockte zwischen zwei kunstvoll verschnörkelten Kiefern ein Eichhörnchen herum und knabberte an einem alten Zapfen. Bamse hatte es sofort entdeckt. Er stoppte und blieb angespannt stehen. Lena und Johan sahen es dadurch auch. Das Eichhörnchen ließ sich nicht stören und mümmelte vor sich hin. Doch plötzlich hielt es abrupt inne und erstarrte. Bamse stieß ein leises Winseln aus, schaute nach oben und spitzte die Ohren. Irgendetwas war nicht in Ordnung. Bamse wurde nervös und tänzelte auf der Stelle. Lena und Johan lauschten angestrengt und bald war es auch für sie zu hören. Ein dröhnendes Knattern näherte sich. Es hatte Ähnlichkeit mit den bollernden Fehlzündungen eines alten Autos, nur viel dumpfer und gleichmäßiger. Sie suchten aufmerksam den Himmel ab. Um die Beiden herum kam Bewegung in den Wald. Das Eichhörnchen flüchtete panisch einen Stamm hinauf. Mehrere Vögel flatterten aufgeschreckt durch die Äste der Bäume. Bamse winselte wieder. Irgendwann wussten die Beiden, was es war. Ein Hubschrauber flog über den Wald und kam genau in ihre Richtung. Er war wahnsinnig laut. Es dröhnte knatternd und man hatte das Gefühl, dass der Hubschrauber Wellen ausströmte, die bis in den Körper zu spüren waren. Irgendwann konnten sie ihn durch die Baumwipfel sehen. Er war silberfarben und flog recht niedrig. Es schien ein Hubschrauber von den Rentierzüchtern zu sein. Die Züchter mit großen Herden, viele tausend Tiere meistens, hatten neuerdings Hubschrauber zum Treiben der Herden. Einer von Ihnen hatte den Ersten und innerhalb von drei Jahren hatte eigentlich jeder so einen lauten Helfer. Der Hubschrauber flog über sie hinweg, über den Fluss und die Straße, um dann mit einem leichten Bogen die Richtung zu den Bergen einzuschlagen. Plötzlich bemerkten die Beiden, wie etwas aus dem Hubschrauber heraus fiel. Es sah aus wie ein kleiner, schwerer Sack. Es stürzte schnell hinab, doch der Hubschrauber flog weiter. »Hast du das gesehen? Was ist dort heraus gefallen?« fragte Lena aufgeregt. »Ich weiß es nicht«, antwortete Johan nachdenklich. Das Erlebnis fand er sehr merkwürdig.
Schweigend gingen die Beiden weiter und beeilten sich nun ein bisschen, um nicht so spät bei Stellan einzutreffen. Es war nicht mehr weit. Erst aus dem Wald heraus über eine Lichtung mit Büschen, an denen Schlehen, Hagebutten und andere Wildfrüchte wachsen würden. Danach einen kleinen Hang hinab zum Flussufer und an einer kleinen Felswand vorbei. Sie erreichten dahinter eine kleine Wiese und konnten von dort die Hütte von Stellan sehen. Die kleine, einsame Hütte war an einen schützenden Berg aus grauschwarzem Granit gebaut. Zum Fluss gewandt zeigte der Berg ein streng blickendes Gesicht. Es war umrahmt mit wärmenden, grünem Gras und zotteligen Büscheln an den Hängen. Auf seinem krausen Schopf wuchs ein Wald, wie verwuselte Haare nach einer unruhigen Nacht. Die Hütte lag wunderbar versteckt. Sie fiel in der Landschaft kaum auf. Sie schmiegte sich förmlich an die kahle Felswand. Die Hütte selber war wie eine geheime, wehrhafte Zwergenschatzkammer gebaut. Ihre Wände bestanden aus dicken, entrindeten Holzstämmen, die überall kleine Gnubbel und abwehrende Spitzen hatten. Sie schienen undurchdringbar zu sein. Das dicke, flache Grasdach sorgte für eine perfekte Tarnung. Von oben war sie nicht zu erkennen. Ein kleiner Trampelpfad führte von der Holzhütte bis zu einem schmalen Holzsteg, der über den Fluss führte. Der Holzsteg bestand aus zwei mächtigen Baumstämmen aus der gleichen Art wie die Hütte. Der dünne Trampelpfad erschien wie eine Verbindungsleine, mit der die Hütte den Kontakt zum Holzsteg aufrecht hielt. Auf der anderen Seite des Flusses ging es steil in den Wald hinauf. Irgendwo im Wald lag dann die Straße. Links neben der Hütte war ein Gatter für Rentiere. Vier Rentiere waren zu sehen, die in der Umzäunung standen und kauten. Stellan zähmte die Tiere und bildete sie zu Zug- und Lasttieren aus. Danach verkaufte er sie. Rechts neben der Hütte ragte steil die dunkle Felswand aus Granit empor. In der Felswand steckte ein Eisenrohr, aus dem klares Wasser lief. Das Wasser plätscherte aus dem Rohr in ein Bassin aus gemauerten Flusssteinen. Aus dem steinernen Becken rann das Wasser über eine Vertiefung am oberen Rand in eine kleine Rinne hinab und von dort als kleines Bächlein, durch die Wiese schlängelnd, bis in den Fluss. Vor der Hütte stand eine Bank unter einem kleinen Fenster, das verträumt in die Welt schaute. Die schwere Eichentür stand weit offen. Lena und Johan banden Bamse an einen Baum und gingen das letzte Stück allein weiter. Stellan besaß ebenfalls einen Hund, einen Elchhund. Es sollte keinen Streit zwischen den Hunden geben. Als die Beiden bis auf ein paar Meter vor der Hütte angekommen waren, tauchte der Elchhund an der Tür auf und kurz danach der alte Stellan. »Hallo Kinder«, rief er. »Das ist ja eine schöne Überraschung, dass ihr mich besucht.« »Hallo Stellan«, riefen Lena und Johan gleichzeitig. »Wir wollen uns für deine Hilfe bedanken«, fügte Johan hinzu. »Das war doch selbstverständlich. Ich sehe, ihr beide seid wieder wohl auf« , erwiderte Stellan. Johan packte sogleich die Fleischpastete aus, faltete das Tuch, in dem sie eingewickelt war, auseinander und überreichte sie Stellan. »Die Pastete hat unsere Mutter für dich gemacht.« Stellan bekam große Augen. »Eine Fleischpastete, das ist ja ein Traum.« Er setzte sich auf die Bank, hob die Pastete langsam mit beiden Händen an sein Gesicht, lächelte ganz selig und roch ausgiebig daran. »Hmmm, ein Traum«, wiederholte er. »Sagt eurer Mutter einen lieben Dank von mir.« Johan und Lena standen nun ein wenig betreten herum. Sie wussten nicht, was sie sagen sollten. Stellan roch immer noch hörbar an der Fleischpastete. Lena brach dann das Schweigen: »Wir haben einen Hubschrauber gesehen. Ganz niedrig flog er über uns weg. Er hat etwas verloren.« Stellan schaute plötzlich ganz erstarrt. »Was hat er verloren? Wo war das genau?« wollte er wissen. Seine Augen hatten sich zu kleinen Schlitzen verengt. Lena erschrak darüber. Johan zeigte in die Richtung, in der der kleine Sack aus dem Hubschrauber gefallen war. »Etwa einen Kilometer von hier, in Richtung der Wolfsfelsen, war es. Ein Sack fiel heraus«, erklärte er schnell. Stellan stand flink auf. »Ich werde die Pastete mal in Sicherheit bringen. Habt vielen Dank, dass ihr gekommen seid. Jetzt muss ich aber noch etwas erledigen. Auf Wiedersehen ihr Beiden.« Ohne ein weiteres Wort verschwand er in die Hütte und ließ Lena und Johan einfach stehen. Die Beiden blickten sich erstaunt an, zuckten dann aber nur mit den Schultern und schlenderten über die Wiese zurück zu Bamse. Nach ein paar hundert Metern hatten sie den merkwürdigen Abschied schon wieder vergessen und alberten mit Bamse im Wald herum. Sie spielten mit ihm verstecken. Johan hielt Bamse die Augen zu und Lena versteckte sich hinter irgendeinem Baum. Dann ließ Johan den Karelier laufen und befahl ihm, Lena zu suchen. Es dauerte immer nur einige Sekunden, dann stand Bamse an dem Baum hinter dem sich Lena verborgen hatte und bellte. Johan lobte ihn jedes Mal ausgiebig. Er war stolz auf Bamse. Suchen konnte er schon klasse.
Der Rückweg dauerte mit den Spielereien viel länger als der Hinweg und hätten die Mägen der beiden nicht irgendwann geknurrt, wären sie wohl noch lange im Wald geblieben. Doch so waren sie pünktlich zum Abendessen zuhause.