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1.4Vergeblicher Widerspruch
ОглавлениеGegen die Knechtung des sich bildenden Ich unter die effiziente Abrichtung zum Marktverhalten wehren sich zahlreiche, zum Teil namhafte Schriftsteller. Sie schlagen eine bemerkenswerte Vielfalt von Wegen ein. Alle gehen von einer Erfahrung von Verlust aus. Der Ton ist besorgt; sie verbindet der Wunsch, etwas Kostbares vor der Vernichtung zu schützen: ein konservatives Anliegen. Ein wirksames Gegengift aber weiss niemand. Wer sich der Unterwerfung des werdenden Menschen unter Zähl- und Messbarkeit entgegenstellt, spricht im Schatten. Nicht dass die Autoren ihr Scheitern reflektierten. Doch Ton und Haltung zeigen auch Verzweiflung und Resignation, Rückzug auf den blossen Essay ohne normativen Anspruch3, Beschwören der Vergangenheit oder wütende Gegenangriffe.
Beschwören einer idealisierten Vergangenheit. Der Latinist Jochen Fuhrmann besteht gegenüber den Reformen auf der Vergangenheit. Bildung sei Bewahrung einer idealen Kultur. Sie «wird repräsentiert durch die Gebildeten; die Kultur ist eine Abstraktion, eine nur in der Vorstellung vollziehbare Synthese. Zwischen Bildung und Kultur besteht dasselbe ambivalente Verhältnis wie zwischen den wahrnehmbaren Dingen und den Ideen Platons. Der um Bildung sich Bemühende befindet sich der Kultur gegenüber im Nachteil: Er hat, so sehr er sich anstrengt, stets nur unvollkommen Anteil. Andererseits spiegelt Bildung ein Stück Kultur und weist auf den Quellgrund, der sie ermöglicht.»4
Darum habe die europäische Universität nicht auf berufliche Qualifikation gezielt, sondern auf geistige Orientierung, um der Realität und ihren Forderungen gegenüberzutreten. Die Jugend habe «ihr Leben im Blick auf Ideale einrichten (sollen), die gegeben waren, die nicht der jeweiligen Wirklichkeit entstammten».5 Die Humanisten seien stolz darauf gewesen, nicht der Nützlichkeit zu dienen, sondern einer idealen Gegenwelt. Gegen das Leitbild des nützlichen Spezialisten hätten Goethe und Schiller das Wachsen der Persönlichkeit durch harmonische Entfaltung aller Kräfte gestellt.
Unter dem Einfluss von Georg Picht und Ralf Dahrendorf habe die Bildungspolitik die ideale Gegenwelt durch gesellschaftspolitische Ziele ersetzt. An die Stelle von «Person, Geist und Kultur traten in unverhüllter Einseitigkeit Gesellschaft, Einkommen und soziale Gerechtigkeit. Bildung wurde nicht mehr als geistiger Prozess verstanden, der das Individuum zu Selbständigkeit und Freiheit, zur Teilhabe am Kulturganzen befähigen sollte, sie figurierte nur noch als Produktions- und Sozialfaktor.» In ähnliche Richtung zielt der Germanist Jochen Hörisch: Der heisse Kern der Universität Humboldts sei nicht das Wissen, sondern die Liebe zu ihm. Die Universität sei als alma mater, als mütterlicher Ort, der die Neugier schützte und förderte, intensiv geliebt worden. Heute hingegen erscheine sie als kühle Verwaltungsmaschine.6
Studentischer Protest. Die Studentenunruhen, die 2009/10 in ganz Europa und darüber hinaus als Demonstration und Besetzungen aufbrachen, sind schon fast vergessen. Ihr Ziel, in humaner Gegenseitigkeit über den Sinn von Bildung und die Ziele der Bildungsinstitution ins Gespräch zu kommen, haben sie nicht erreicht. Das System sass sie aus und wartete, bei punktuellen Zugeständnissen, einfach ab, bis ihr Elan erlahmte. Immerhin schreiben die grossen deutschsprachigen Zeitungen seitdem eher gegen Bologna. Allerdings ohne das System zur Rechtfertigung, Ministerinnen oder Rektoren zum Widerspruch nötigen und damit die fällige demokratische Debatte in Gang bringen zu können.
Die Proteste haben die Abschaffung der deutschen Studiengebühren erreicht, was einen bitteren Nachgeschmack hinterlässt. Denn dieser ‹Erfolg› interpretiert die Proteste als Verteilungskampf. Zweifelhafter Berechtigung: Solange Kitas und Kindergärten Gebühren verlangen, sieht es so aus, als hätten sich die künftigen Privilegierten durchgesetzt. Die Proteste scheinen sich nahtlos in die wirtschaftliche Sprache einzufügen. Das verkürzt deren Ziele grob und bringt sie auf den kleinstmöglichen Nenner. Die Proteste waren zu wenig organisiert, ihr Atem nicht lang genug, die Vereinnahmung zu verhindern.
Künstlerischer Ungehorsam. Der Zuger Künstler und Pädagogikstudent Severin Hofer hat seine Bachelorarbeit7 als soziales Kunstwerk gestaltet, an dem sich die Geister scheiden sollten. Durch kreative, gezielte Provokationen macht Hofer augenscheinlich, wie die lebendige Erfahrung, sich zu bilden, am Punktehandel erstickt. Er erzählt von Erfahrungen neugieriger, authentischer, engagierter Bildung – unter Missachtung der wissenschaftlichen Objektivität. Er riskierte und erhielt die Ablehnung der Arbeit, was in der Innerschweiz einige öffentliche Debatten entzündete.
Bologna und Bildung versöhnen. Für den Berliner, dann Hamburger Rektor Dieter Lenzen macht Bologna Selbstbildung unmöglich. Die Reform sei «auf Kollisionskurs mit dem Menschen». Sie wolle europaweite Einheitlichkeit. Aber «da Einheitlichkeit dem Grundgedanken allgemeiner Bildung zuwiderläuft– Herausbildung einer mit sich (und nicht mit allen anderen) identischen Persönlichkeit –, musste es zu einer Orientierung an Inhalten kommen, die vergleichbar und messbar sind». So habe employability Persönlichkeitsbildung, Ausbildung Bildung ersetzt. Die Jugend werde entmündigt, indem Ziele und Struktur des Studiums nicht einmal in Ansätzen mir ihr diskutiert würden. Massenhafte Prüfungen und zu hoher Druck machten ein Studium über das eigene Fach hinaus fast unmöglich.
Da sich Bologna nicht mehr rückgängig machen lasse, will Lenzen die Reform mit dem Humboldt’schen Bildungsideal verbinden zu «Bologna 2.0». Es gelte, «der Aufgabe allgemeiner Persönlichkeitsbildung und Menschenbildung durch Wissenschaft wieder einen gleichrangigen Stellenwert neben der Ausbildung für ein berufliches Leben einzuräumen». Zudem denkt er über eine College-Stufe nach amerikanischem Vorbild nach, um nach dem entwerteten Abitur anfangs des Studiums Raum für Persönlichkeits- und Allgemeinbildung zu schaffen.8
Kritik der nur instrumentellen Vernunft. Der Philosoph und ehemalige Minister Julian Nida-Rümelin kritisiert die Reformen als bloss instrumentelle Vernunft. Sie liessen keine Idee humaner Persönlichkeitsentwicklung erkennen und wollten von «Rationalität nur in Hinblick gegebener Ziele des jeweiligen Akteurs sprechen». Die Ziele selbst entzögen sich jeder rationalen Beurteilung.9 Doch Humanität und Demokratie stünden und fielen damit, dass auch die Ziele der vernünftigen Kritik unterlägen. Nida-Rümelin packt die Reformen an ihrem Vernunftbegriff. In der Tat setzt die ökonomische Interpretation aller Lebensbereiche die These Gary Beckers voraus, alles menschliche Verhalten könne «betrachtet werden, als habe man es mit Akteuren zu tun, die ihren Nutzen maximieren».10
Welche Bildung braucht die Wirtschaft? Diese Frage stellte 2016 eine Berner Tagung. Mit der Pointe, dass fünf hohe Kader der Wirtschaft darlegten, dass diese die stromlinienförmigen, angepassten Bologna-Absolventen gar nicht brauchen kann, da menschlich unreif und unerfahren in eigenständiger Verantwortung. Obwohl die Reformen im Namen der Wirtschaft durchgedrückt worden waren!11 Der Verfasser hat hier seine Kritik der Reformen auf Kant gestützt: Die Instrumentalisierung des Werdens junger Menschen für wirtschaftliche Zwecke verletze deren Würde. Der kategorische Imperativ erfordere zwingend, das selbstgesteuerte Werden des Ich ins Zentrum des Bildungswesens zu stellen.
Gegenangriff. Als einziger Kritiker findet der Philosoph Konrad Paul Liessmann in den Medien breit Gehör. Er besteht auf philosophischer, nicht bloss ökonomischer Sprache. «Der Mensch begreift sich seit der Renaissance als Wesen, das sich selbst entwerfen kann. Da ist es interessant zu fragen, nach welchen Kriterien wir uns entwerfen. Was sind die Ziele unserer Bildung?» Der Mensch sehe sich nicht mehr als unfertiges Wesen, «das sich entfalten, entwickeln und seine Talente pflegen soll, sondern als defizitär, auf allen Ebenen verbesserungsbedürftig». Nun werde optimiert, mit dem Ziel eines perfekten, transhumanen Wesens, «das reibungslos funktioniert und dem alles Menschliche fremd geworden ist. Doping in seinen Varianten zeigt, wie weit wir es bringen können.» Doch indem «ich das Beste anstrebe, habe ich mir eine Garantie für Frustration gegeben. Das Beste gibt’s nicht. Ich werde immer das Gefühl haben, zu scheitern. Ich habe einen Fehler gemacht, bin nicht der beste Vater. In der tollen Privatschule, für die ich viel zahle, passieren Dinge, nach denen mein Kind weinend nach Hause kommt. Gleichzeitig fordern wir die inklusive Gesellschaft, die alles, was anders und nicht optimal ist, freudig integrieren soll. Ich kann nicht sagen, nur das Beste zählt, und gleichzeitig fordern, dass jeder sein Herz ganz weit öffne für alle, die den optimierten Konzepten nicht entsprechen. Der Widerspruch muss in permanenten Selbstbetrug treiben.»12
Die heutige Bildungspolitik sei Ideologie ohne Inhalt. «Das Bekenntnis zur Reform ist die Ideologie unserer Tage. (Es) ersetzt alle Programme, Ideen und die Moral. Tugendhaft ist, wer Reformbereitschaft signalisiert, einem Laster verfallen, wer Reformen verweigert. Nachweisen zu müssen, ob und wenn ja wie reformiert werden soll, wäre wahrlich zu viel verlangt. Eine Reform ist stets dringend geboten, weil Reformen stets dringend geboten sind.» Liessmann trifft die Flucht nach vorn genau. Doch bleibt unklar, was sie motiviert. Ohne Inhalt findet das Ich nicht die Orientierung im Unübersichtlichen, die Ideologien attraktiv macht.
Bildung als formale Kompetenz zu fassen, an beliebigen Inhalten zu erwerben, verleugne die Neugier. «Kinder und Jugendliche werden um die Faszination gebracht, die von einem Thema, einem Namen, einer Frage ausgehen kann.» Bildung gründe im Verstehen der überlieferten Wahrheit; sie sei ein «zweckfreies, zusammenhängendes, an den grossen Kulturen ausgerichtetes Wissen, das befähigt, einen Charakter zu bilden» und «Freiheit gegenüber den Diktaturen des Zeitgeistes gewährt». Ja: ohne Vokabeln, Grammatik, Wissen keine Sprachfähigkeit. Aber die Zuspitzung überzieht. Man lernt Mathematik oder Latein auch, um klar denken zu lernen. Wissen und Fähigkeit (Kompetenz) wachsen miteinander. Auch Liessmann muss schliesslich «Techniken und Fähigkeiten» fordern.13
Bildung sei der «Versuch, Menschen zum Menschsein zu begaben»; ihre Ziele seien «Eingliederung in eine vorgegebene Welt» und «Formung der mündigen Person». Sprachlich, also auch gedanklich, ist der Mensch hier nur Objekt; die Eigendynamik des sich bildenden Ich verschwindet. – Der Vielzahl der Sichtweisen, den Anstrengungen des Dialogs steht Liessmann unversöhnt gegenüber. «Wer Teamfähigkeit, Flexibilität und Kommunikationsbereitschaft als Bildungsziele verkündet, weiss schon, wovon er spricht: von der Suspendierung jener Individualität, die einmal Adressat und Akteur von Bildung» war: Teamfähigkeit, mit Nietzsche, als Verlust an Selbstsein. Polemik gegen die Achtundsechziger zeigt den Wunsch, die Autorität des Lehrers zu restaurieren. Eine Vision für das pluralistische 21. Jahrhundert ist das nicht. Kein Wunder, dass resignierte Töne fallen. Dabei wäre alles ganz einfach lautet der Refrain eines Buchs: ein Irrealis. Die fremden Regeln haben gesiegt. «Viel wäre gewonnen, wenn man sich mit Schiller hin und wieder daran erinnerte, was Freiheit und Wissenschaft einmal miteinander zu tun gehabt hatten.»14
Not for profit: Why democracy needs humanties. Die Philosophin Martha Nussbaum zeigt, dass das Bildungssystem der USA und Indiens hinter den Erfordernissen der Demokratie immer weiter zurückbleibt. «Wie steht es um die Erziehung zur Demokratie? Sehr schlecht, befürchte ich.» Denn «überall haben die Erfordernisse des Weltmarkts dazu geführt, dass naturwissenschaftliche und technische Kenntnisse als Kernkompetenzen gelten, während Kunst und Geisteswissenschaften für nutzlosen Schnickschnack gehalten werden, auf den man verzichten kann, um sicherzustellen, dass das eigene Land wettbewerbsfähig bleibt. Sofern Kunst und Geisteswissenschaften im Fokus stehen, werden sie auf handwerkliche Fähigkeiten umdeklariert, die mit quantitativen Multiple-Choice-Prüfungen getestet werden können; dabei werden Fantasie und kritisches Denken, die ihren Kern ausmachen, links liegen gelassen.»15
Gefährlich. Denn so «vernachlässigen Bildungssysteme die Fähigkeiten, die Demokratien lebendig halten. Wenn sich der Trend fortsetzt, werden die Nationen überall Generationen von nützlichen Maschinen produzieren statt allseits entwickelter Bürger, die selbständig denken, Kritik üben und den Stellenwert der Leiden und Leistungen anderer begreifen können. Die Demokratie steht weltweit auf der Kippe.» Faktenwissen bedürfe keiner geisteswissenschaftlichen Bildung. Verantwortungsbewusste Bürger brauchten «wesentlich mehr: die Fähigkeit, historische Fakten zu bewerten, kritisch über Wirtschaftsmodelle nachzudenken, Konzeptionen von sozialer Gerechtigkeit zu bewerten, eine Fremdsprache zu sprechen, die komplexen Inhalte der Weltreligionen zu verstehen. Aneinanderreihung von Fakten ohne zu bewerten oder zu begreifen, wie eine Darstellung aus Fakten konstruiert wird, ist fast so schlimm wie Unkenntnis, da der Schüler nicht in der Lage sein wird, Vorurteile von der Wahrheit oder aus der Luft gegriffene Behauptungen von begründeten zu unterscheiden.» «Wenn das Bildungsziel technisch qualifizierte, willige Arbeiter sind, die Pläne von Eliten umsetzen, denen es um Investitionen und technologische Entwicklung geht», müssten Selbständigkeit und Freiheit als Gefahr gelten. «Folglich wird eigenständiges Denken nicht gefördert.»16
Mit Pestalozzi gibt es für Nussbaum ohne Einbezug der Gefühle keine Bildung. Verwandle sie nicht auch das Fühlen, sei die Demokratie zum Scheitern verurteilt, die «auf Respekt und Anteilnahme basiert und diese wiederum auf der Fähigkeit gründen, andere Menschen als menschliche Wesen und nicht nur als Objekte zu sehen». Nur verbunden mit bewusstem und selbstkritischem Fühlen, wie es musische Bildung vermittle, werde die aufklärerische Vernunft wirksam. «Pädagogen, die nur Wirtschaftswachstum im Sinn haben, ignorieren die Kunst nicht nur, sondern fürchten sie: denn entwickelte Empathie ist ein gefährlicher Feind der Stumpfheit, und moralische Stumpfheit ist notwendig, um ökonomische Entwicklung zu organisieren, die sich um Ungleichheiten nicht schert. Es ist leichter, Menschen als manipulierbare Objekte zu behandeln, wenn man nie gelernt hat, sie anders zu sehen.» Ohne Empathie seien die Menschen dem Pluralismus der Weltgesellschaft nicht gewachsen. Das Bildungssystem solle die Jugend befähigen, «sich als Mitglieder einer heterogeneren Nation (alle Nationen sind heterogen) und einer noch heterogenen Welt zu betrachten und etwas über Geschichte und Charakteristik der Gruppen zu wissen, die in ihr leben».17
Die Ziele des Bildungswesens seien eine ethische Frage. «Bildung, die auf Rentabilität und Wettbewerbsfähigkeit auf dem Weltmarkt ausgerichtet ist, produziert habgierige Beschränktheit und technisch gebildete Gefügigkeit. Das ist eine unmittelbare Bedrohung der Demokratie und wird verhindern, eine anständige Weltkultur zu entwickeln. Wenn der tatsächliche Kampf der Kulturen, wie ich glaube, ein Kampf in der menschlichen Seele ist, da Gier und Narzissmus im Widerstreit mit Respekt und Liebe liegen, verlieren alle modernen Gesellschaften diesen Kampf schnell, wenn sie die Kräfte nähren, die zu Gewalt und Entmenschlichung führen, und die Kräfte schwächen, die zu einer Kultur von Gleichheit und Respekt führen.» Mit Kunst und Geisteswissenschaft lasse sich zwar kein grosses Geld machen. «Sie leisten viel Wertvolleres: Sie schaffen eine lebenswerte Welt, sie ermöglichen Menschen, andere als vollwertige menschliche Wesen mit eigenen Gedanken und Gefühlen zu betrachten, die Respekt und Empathie verdienen, und sie lassen Angst und Misstrauen zugunsten eines verständnisvollen und vernunftgeleiteten Diskurses überwinden.»18
Lebendige Auseinandersetzung mit sich selbst und der Welt. Für den Pädagogen Volker Ladenthin lässt sich Bildung nicht objektiv definieren. Das Wort erhalte Sinn nur durch den Verweis auf eine ursprüngliche Selbsterfahrung. Es sei nur durch Selbstreflexion erreichbar, durch die Besinnung auf ein immer schon gegebenes Erleben. Ladenthins Sprache ist einladend und aphoristisch; meditativ, nicht analytisch. Kurze Gedanken wollen zum Denken bringen. Und ebenso Quellen: Ladenthin versammelt klassische Texte zur Theorie der Bildung von Demokrit über Comenius bis Lyotard.19
Bildung entstehe aus der Erfahrung einer Differenz: Reibung an der Welt, an Geschichte, Gesellschaft und Natur. Am stärksten aber werde die Differenz des Menschen mit sich selbst erlebt: wenn Erfahrung und Selbstbild auseinanderklafften. Hier entzünde sich die Auseinandersetzung mit sich selbst. Bildung sei ein Gespräch zwischen dem Erleben der Gegenwart und dem absoluten Ziel in seinen drei Dimensionen Wahrheit, Sittlichkeit und Sinn. «Die Geschichte schon verlassen, die Zukunft noch nicht erreicht: das ist Lernen. Lernen lässt sich nicht fixieren, weil es sich ereignet.» Diese Auseinandersetzung sei mit dem Menschen gegeben; «darum kann man das Lernen nicht lernen», im Unterschied zum Handeln. «Der Lehrende leitet den Lernenden an, sich selbst zu belehren. Lehren ist Aufforderung zu Selbsttätigkeit. Lernen ist Selbsttätigkeit in Ahnung einer Differenz, bei der man nie auf beiden Seiten zugleich und auch in der Mitte sich nicht aufhalten kann. Man denkt unter Anleitung der Sache. Denken kann man immer nur selbst. Bildendes Lernen ist zwanglose Nötigung. Vorausgesetzt ist Freiheit des Denkens. Alles könnte auch ganz anders gedacht und gemacht werden.» Selbständige und verantwortungsbewusste Orientierung in einer offenen Welt, mit dem Ziel gelingenden Lebens.
Bildung sei stete Suche nach dem richtigen Ausdruck, unabschliessbar: Kein Sprechen genüge dem Richtigen. Immer sei neuer Fortschritt möglich. Bildung könne darum nie totalitär sein; Bildung und Macht widersprächen sich. Hieraus ergibt sich eine logisch zwingende Kritik der Reformen. «Im Bildungswesen findet heute ein Umbau statt. Das ‹Man› will keine Bildung mehr, sondern Kompetenz, auf die hin sich Qualifikationsprozesse selbst organisieren sollen. Von der Administration wird nicht mehr Vernunft und Einsicht bei Schülern, Lehrern, Schulleitung, Eltern angesprochen, sondern systemadäquates Verhalten erwartet. Das System setzt Ziele und prüft, ob die Ziele erreicht werden (nicht, ob sie als vernünftig akzeptiert werden). Die Steuerung erfolgt über Zielvereinbarungen und Output-Kontrolle. Nicht mehr das berufsständige Wissen (pädagogische Grundsätze, Lehrpläne, Methoden) handelt argumentativ die Umsetzung des Richtigen aus, sondern durch die Kontrolle des Outputs (Erreichung von Qualitätszielen) wird Verhalten erzwungen. Es wird nicht mehr gefragt, ob pädagogisches Handeln in personalen Bezügen gelingt, sondern gemessen, ob der Output stimmt. Die Begründung wird durch die Messung ersetzt.
Auf der einen Seite überlässt man das System dem angeblich freien Markt. Wettbewerb von Schulen, öffentliches Ranking, selbständige Schule mit Leitbildentwicklung. Auf der anderen Seite wird der drohende Kontrollverlust der Verwaltung durch zentralistische Evaluation kompensiert. Autonomisierung meint in Wirklichkeit intelligente Steuerung. Eine Normierung und Vereinheitlichung bisher unbekannten Ausmasses wird als Freiheit deklariert. Eine um Bildung verkürzte ‹Bildungspolitik› ist Gewalt gegen Menschen.»
Ladenthin begreift Bildung schlüssig als lebendige Erfahrung. Das Wort gewinnt seinen Sinn nur aus der lebendigen Erfahrung des Ich. Hieraus ergibt sich seine politische Kritik. Auch dass Bildung dem Menschen zustösst, als Ereignis, sieht Ladenthin wunderbar klar: Obwohl es Denken nur als Selbstaktivität gebe, gerate der Mensch mehr in es hinein, als dass er es aktiv betreibe. Auch für das Ich sei Bildung nicht machbar. Es werde passiv gebildet durch die Zumutungen der Lebensgeschichte.20
Bildungsqualen. Dieser Titel der Erziehungswissenschaftler Sandra Rademacher und Andreas Wernet drückt «diffuses Unbehagen an der Welt der Bildung» aus. Es sei «flächendeckend, weil das Spiel heillos unaufrichtig ist», bestimmt von «unkritische(r) Kritik, die Kritisierten und Kritikern gleichermassen zugutekommt». Letztere baden «in selbstgefällige(r) Attitüde des gegen-den Strom-Schwimmens». Ihre «Rolle ist im Drehbuch der Gesellschaft nicht die schlechteste. Sie beruht auf hintergründige(m) Agreement mit den Kritisierten; der vermeintliche Sand (wird) zum Schmiermittel». Die Reformpädagogen wüssten um ihren «kulturindustriellen Kitsch. Bei jeder Gelegenheit sind sie hinter der Bühne bereit, ihre Visionen bzw. diejenigen, die sie ernst nehmen, zu belächeln». Und die Technokraten «bestätigt die Kritik in ihrer Bedeutsamkeit», «sich in wohlwollender Herablassung gefallen(d)». Sie «wissen besser als ihre Kritiker, dass ihre Position politisch wie forschungslogisch auf Sand gebaut ist.»
Aufgabe der Erziehungswissenschaft wäre, den «Verblendungszusammenhang aufzudecken». Doch auch wo sie nicht in Betroffenheit, Weltverbesserung oder «intellektueller Servilität» gegenüber der Macht steckenbleibe, sei sie Teil des Syndroms. Der Einwurf der beiden Autoren lässt einen lichten Augenblick zu, der die Atmosphäre in Pädagogik und Erziehungswissenschaft wahrnimmt.21 Sie passt, so wird sich zeigen, genau in Habermas’ Analyse: die lebensweltliche Perspektive muss diffus bleiben, wo systemische Interessen sie ausbeuten. Denn ihr fehlen schon die Ressourcen, ihre Qualen klar wahrzunehmen.
«Sich bilden – das ist wie Aufwachen.» Der Philosoph Peter Bieri, der 2007 im Dissens über Bologna seine Professur niederlegte, sieht Selbstbestimmung des aufgeklärten Ich von aussen bedroht durch Manipulation, die ein Übel darstelle, weil das Selbstbild sie nicht kontrolliere. Sie entfremde vom Selbstbild und zerreisse das Ich. Die Person werde übergangen und verliere an Würde, etwa durch Werbung ohne Chance des Bemerkens oder taktisches Ausnutzen von Gefühlen. Aber «am tückischsten sind die unauffälligen Manipulationen durch akzeptierte Bilder, Metaphern und rhetorische Formeln. Es gibt Arten, über die Welt und uns Menschen zu reden, die jede Ausbildung eines eigenen, differenzierten Selbstbilds und selbstbestimmten Lebensstils verhindern. Fernsehen, Zeitungen und politische Reden sind voll davon, und es gibt jede Menge Mitläufer.»22 Dem könne das Ich nur die Selbstreflexion entgegensetzen, die stete Frage: Stimmt das eigentlich? Ist das recht beschrieben? Möchte ich in dieser Weise sehen und sprechen?
Auch von innen sei die Selbstbestimmung bedroht. «Erinnerungen können ein Kerker sein, wenn sie uns immer wieder überwältigen oder als verdrängte Vergangenheit unser Erleben aus tückischem Dunkel einschnüren. Wir können ihre Tyrannei nur brechen, wenn wir sie zu Wort kommen lassen. Als erzählte werden sie zu verständlichen Erinnerungen, denen wir nicht wehrlos ausgeliefert sind. Erinnerungen sind nicht frei verfügbar: Wir können ihr Entstehen nicht verhindern und sie nach Belieben löschen. In diesem Sinne sind wir als erinnernde Wesen keine selbstbestimmten Wesen.» Doch aufmerksames Zuhören könne dieses Fremde in ein zusammenhängendes Ich einbinden. Dazu genüge Wahrnehmen, nach Art der Esoterik, nicht. Hinzutreten müsse sprachliche Differenzierung. «Aus Gefühlschaos kann durch sprachliche Artikulation emotionale Bestimmtheit werden.» So gewinne das Ich die Initiative zurück. «Selbstbestimmt werden wir durch die Position des Verstehens: Indem wir ihre Wucht und Aufdringlichkeit als Ausdruck unserer seelischen Identität sehen lernen, verlieren die Erinnerungen den Geschmack der Fremdbestimmung und hören auf, uns als Gegner zu belagern.» Das Fremde werde sprachlich, gewinne Zusammenhang, gehöre nun zum Ich und seiner Geschichte. Die Kontinuität des sprachlichen Selbstbildes zu wahren, sei das Ziel des Menschen. «Das erzählerische Selbstbild lässt sich dann in die Zukunft fortschreiben. Um nicht von Tag zu Tag in die Zukunft hineinzustolpern, sondern Zukunft als etwas zu erleben, dem wir mit einem selbstbestimmten Entwurf begegnen, brauchen wir ein Bild von dem, was wir sind und was wir werden wollen – ein Bild, das in einem stimmigen Zusammenhang mit der Vergangenheit stehen muss, wie wir sie uns erzählen.» Selbstbestimmung sei nur als Integration des inneren Fremden möglich.23
Im Zentrum steht das bewusste, kritische Ich der Aufklärung. Es sei sprachlich; in steter Auseinandersetzung müsse es sich selbst zusammenhalten. Bildung sei Selbstbestimmung, die sich gezielt in verschiedene Richtungen entfalte. «Bildung ist etwas, das Menschen mit sich und für sich machen: Man bildet sich. Ausbilden können uns andere; bilden kann jeder nur sich selbst. Eine Ausbildung durchlaufen wir mit dem Ziel, etwas zu können. Wenn wir uns dagegen bilden, arbeiten wir daran, etwas zu werden – wir streben danach, auf eine bestimmte Weise in der Welt zu sein.»24
Die Selbstentfaltung fasst Bieri in neun Richtungen. «Bildung beginnt mit der Neugierde. Man töte die Neugierde, und man stiehlt die Chance, sich zu bilden. Neugierde ist der unersättliche Wunsch zu erfahren, was es alles gibt.» So entsteht Wissen in sprachlicher Gestalt. Naturereignisse, fremde Handlungen oder eigenes Erleben sind nur sprachlich verständlich. Zweitens sei Bildung aufgeklärtes Denken, dem «zwei Fragen zur zweiten Natur geworden sind: ‹Was genau heisst das?› Und: ‹Woher wissen wir, dass es so ist?›» Drittens das Bewusstsein der geschichtlichen Bedingtheit jedes Standpunkts. Sodann Lesen, Begegnung mit anderen Standpunkten, die zu einem genaueren, differenzierten Selbstbewusstsein führe. Fünftens Selbsterkenntnis, Auseinandersetzung mit intuitiv eingenommenen Positionen. Dann Selbstbestimmung durch Integration des inneren Fremden. Weiter moralische Sensibilität, Empathie: die Fähigkeit, den Standpunkt des anderen einzunehmen und darum etwas zu tun oder zu unterlassen. Achtens die Fähigkeit, Glück zu empfinden. «Niemand, der die Dichte solcher Augenblicke kennt, wird Bildung mit Ausbildung verwechseln und davon faseln, dass es bei Bildung darum gehe, uns ‹fit für die Zukunft› zu machen.» Schliesslich leidenschaftlicher Einsatz; dem Gebildeten gehe es immer um alles.25
Bieris Ehrlichkeit beeindruckt. In seiner Sprache klingt therapeutische Erfahrung mit; sie ist nicht nur durchdacht, sondern auch empfunden. Die Auseinandersetzung mit den Gefühlen macht Bieris Sprache kraftvoll und farbig. Abstrakte Begriffe vermeidet er und versucht so erfahrungsnah wie möglich zu sprechen, lieber von Selbstbestimmung statt von Freiheit. Dem Leser wird klar: Es geht um seine Erfahrung, nicht um ein abstraktes ideales Ich. «Es gibt zwei Arten von Philosophen, denen ich misstraue. Die einen sind Techniker, die sich die Genauigkeit der Mathematik zum Vorbild nehmen und glauben, die Klarheit liege in der Formel.» In den Händen der anderen werde Philosophie zur endlosen Auslegung heiliger Texte. Aber Einsicht müsse anders entstehen: «durch ein Nachdenken, dessen Klarheit, Genauigkeit und Tiefe in der Nähe zur Erfahrung bestünde, die ein jeder mit sich selbst macht, ohne sie recht zu bemerken und ohne sie zu verstehen.»26
Bieri schlägt einen kämpferischen Ton an. Die «innere Lebensregie» müsse dem Leben abgerungen werden, sei «Kampf gegen die innere Monotonie, gegen Starrheit des Erlebens und Wollens. Die beste Chance, den Kampf zu gewinnen, liegt in der Selbsterkenntnis.» Trägt also die Selbsterkenntnis ihren Sinn nicht in sich selbst, ist nur Mittel zum Zweck, für die Selbstbehauptung des Ich? Bieris starkes Ich erhält sich selbst. Dass Beziehungen das Ich konstituieren, dass es nur so stark sein kann wie die Beziehungen, die es tragen, bleibt ausserhalb seines spätliberalen Horizonts. Auch in der inneren Erfahrung reflektiert Bieri das Verhältnis von Gestalten und Empfangen ungenau. «Sich selbst zu erkennen, ist auch eine Form, über sich selbst zu bestimmen.» Das stimmt, fordert aber das Geständnis, dass das starke Ich hier doch vor allem hört, passiv, empfangend, erst dann gestaltet. Bei Bieri kann es klingen, als sei die Freiheit Produkt menschlichen Herstellens. Eines seine Bücher heisst Das Handwerk der Freiheit.27
Das gilt auch für sein Bekenntnis zum eigenen Ton. «Ich würde gern in einer Kultur leben, in der Selbstbestimmung ernst genommen würde. Zwar gelten Handeln aus Gründen und Freiheit der Entscheidung als hohe Güter. Doch kritischer Abstand zu sich selbst; das Ausbilden differenzierter Selbstbilder und der schwierige, nie abgeschlossene Prozess ihrer Fortschreibung und Revision; wachsende Selbsterkenntnis; die Aneignung des eigenen Denkens, Fühlens und Erinnerns; das wache Durchschauen und Abwehren von Manipulation, wie unauffällig auch immer; die Suche nach der eigenen Stimme: All das ist nicht so gegenwärtig und selbstverständlich, wie es sein sollte. Zu laut ist die Rhetorik von Erfolg und Misserfolg, von Sieg und Niederlage, von Wettbewerb und Ranglisten. Die Kultur, wie ich sie mir wünschte, wäre eine leisere Kultur, eine Kultur der Stille, in der die Dinge so eingerichtet wären, dass jedem geholfen würde, zu seiner eigenen Stimme zu finden. Nichts würde mehr zählen als das; alles andere müsste warten.»28
«Manchmal wollen wir uns von einer Gegenwart einfach überwältigen lassen – ohne Kontrolle und ohne Worte. Doch als befreiend können wir das nur erleben, weil es im Hintergrund das erzählerische Netzwerk eines Selbstbilds gibt, das der Gegenwart Bedeutung und Gewicht gibt. Unverstandene Gegenwart wird als bedrohlich und entfremdend empfunden. Gegenwart, die etwas mit uns selbst zu tun hat, ist verstandene, artikulierbare Gegenwart.»29 Also neben dem aktiven Hervorbringen wohl ein Hören, wenn auch etwas im Nebel. Aber sicher kein Loslassen, das die Selbstkontrolle gefährden würde. Das Gespräch mit Eckhart kommt darauf zurück.
Mathematische Halbbildung. Zahlreiche Mathematikdidaktiker kritisieren, PISA ziele nicht auf Kritikfähigkeit, sondern auf kritikloses Glauben: alles sei mathematisch modellierbar; mathematische Techniken brächten immer ein richtiges Resultat; Zahlen zeigten, wie die Welt sei. Wolfram Meyerhöfer zeigt breit und im Detail, wie PISA-Aufgaben regelmässig statt Durchdenken des Problems forderten: «Finde heraus, was die Tester hören wollen. Orientiere dich am Mittelmaß», sonst koste es Zeit und Punkte. «Nur was testbar ist, tauschbar in Punkt(e), zählt». Mechanische Stoffaneignung ohne authentische Auseinandersetzung: Adornos Halbbildung.30
Diese Aufgaben sollten Lehrerin und Schüler «klar machen, dass Bildungsstandards keinen Widerspruch dulden.» Anders als Klassenarbeiten sind Tests in Aufbau und Bewertung von Schülerin und Lehrperson nicht kritisierbar: «Herrschaftsinstrument(e), und da das Testen das einzig Neue an den Bildungsstandards ist, sind (sie) offenbar aus Herrschaftsinteresse motiviert». Standardisierte Messkonstrukte löschten Individualität, Unabgeschlossenheit, Prozesshaftigkeit, Emotionalität, Autonomie und Authentizität aus dem Bildungsbegriff: eine «Unmündigkeitslogik». Untragbar, «strebte man Ich-Stärke und nicht Demut bei den Lernenden an».31 Kritischer Nachvollzug von Daten sei unmöglich, weil die statistischen Methoden nicht im Detail veröffentlicht, sondern frech als state of the art behauptet würden, um Kritik peinlich wirken zu lassen. Die empirische Bildungsforschung überzeuge nicht durch Erkenntnisse, sondern die Macht ihrer Auftraggeber, die «empirisch fundiertes Steuerungswissen» von ihr erwarteten –, als gäbe es isoliertes Steuerungswissen, ohne sich auf Verhältnisse einzulassen! PISA sei keine Wissenschaft, sondern eine Auftragsarbeit, um Macht auszuüben.32
Das Gegenteil mathematischer Bildung –, die Chancen und Grenzen des mathematischen Blicks im Verhältnis zu anderen Blickweisen zu bewerten wisse! Zahlen seien keine Argumente, sondern erst die Reflexion, die den Umgang mit ihnen als sinnvoll zeige. Standards erklärten «nur noch das Testbare zu Bildung, während mathematische Bildung heisst zu erkennen, dass nichts Testbares Bildung erfassen kann.» Mathematik lebe von der Faszination ihrer ganz eigenen Welt, nicht von ihrer Anwendung. Ohne Verstehen, so Thomas Jahnke, komme «auch empirische Forschung nicht aus, da Daten von sich aus nicht reden». Sonst ergebe sich nur Banales und Fragwürdiges. PISA, mathematisch voll «versteckter Ungereimtheiten, unsauberer Argumentationen, gewagter Interpretationen und offensichtlicher Missbräuche» verkörpere «dreisten Positivismus, der fröhlich seine Begriffe in die Welt setzt». Welche die Deutschen dann für wahr hielten.33
Gerade aus dem Fach, auf das es sich am stärksten zu stützen behauptet, erfährt PISA scharfe und schlüssige Kritik. Doch bewegt diese nichts. Das Konsortium nehme Kritik sofort persönlich, als kränkend und vernichtend, nicht als wissenschaftliche Solidarität. Wenn es überhaupt auf Kritik antworte, dann schroff zurückweisend, stets den Empirismus als unhinterfragbar voraussetzend. Es suche «nicht den Dialog; Kritik wird auch nach zehn Jahren weder aufgenommen noch zitiert im Gegensatz zur seriellen Zitation eigener Schriften. Hier wird ein Auftrag von ans Anonyme grenzenden Autorenkollektiven abgearbeitet.»34
Kritische Analyse und Recherche. Eine umfassende Kritik der Reformen vertritt Jochen Krautz, Kunstpädagoge und Latinist. Der Mensch komme unfertig zur Welt und sei auf sichere Beziehungen angewiesen. Nur in ihnen ereigne sich Bildung. Zentral sei dabei die Fähigkeit zu geteilter Aufmerksamkeit. Nur Menschen könnten die Aufmerksamkeit gemeinsam auf ein Drittes richten und sich dabei der Gegenseitigkeit bewusst sein. Dem trage das pädagogische Dreieck Rechnung: Schüler und Lehrerin blickten gemeinsam auf den Stoff; die Schüler nicht vereinzelt, sondern als Gruppe. Bildung gebe es nur als Selbstbildung. «Man kann nicht gebildet werden.» Die Lehrerin führe, indem sie Forderungen stelle und helfe, sie zu bewältigen. Drittens der Stoff, gegliedert in Schulfächer, die Weltzugänge repräsentierten. Die Orientierung an Kompetenzen zersetze dieses Dreieck: absichtlich, strategisch geplant. Der Stoff werde vom inneren Ziel des Lernens auf ein Mittel verkürzt, Kompetenzen zu entwickeln: Er werde gleichgültig. Die Neugier finde kein Gegenüber, so dass äusserlich motiviert werden müsse. Bei den Schülern könne «keine geordnete und geklärte Vorstellung von den Sachgebieten entstehen. Fachliches Wissen und Können wird verhindert.»35 Das Lernen verliere innere Richtung und Zusammenhang. Es werde sinnlos. Es entstehe nicht jene zusammenhängende Welt, derer die Entwicklung zur eigenständigen Person zwingend bedürfe. So entwurzle man Menschen.
Statt im Klassenverband zu lernen, arbeiteten die Schüler einzeln, am besten per Sichtschutz getrennt und am PC. Der Lehrer unterrichte nicht, sondern stelle Arbeitsblätter zur Verfügung, verteile ‹Lernjobs› und berate als ‹Coach›. Die Schüler trügen ihren Lernfortschritt in Kompetenzraster ein: das Modell des flexiblen Selbstunternehmers. Aber auch wenn die Schüler auswählen und Prioritäten setzen könnten: Die Aufträge erteile doch der Lehrer. Aus dem Dreieck werde, unter der Oberfläche der Scheinselbständigkeit, eine lineare Machtbeziehung, die zur Anpassung zwinge. Solche ‹Selbststeuerung› «ist nicht jene geistige Selbständigkeit, auf die Bildung zielt. Dazu bedürften die Schüler eines Lehrers und einer Klassengemeinschaft, mit denen sie gemeinsam denken und diskutieren lernen könnten. Ohne zwischenmenschliche Beziehung ist die Entwicklung von Vernunft und Moral nicht möglich. Kompetenzorientierung zielt nicht auf Selbständigkeit, sondern auf unhinterfragte Anpassung.»36
Die Reformen übertrügen die Sprache der Maschine und ihrer Steuerung auf das sich bildende Ich. Das unterlaufe dessen Freiheit und Würde. Was man Qualitätsmanagement nenne, basiere auf einem technischen Steuerungsmodell. Der Heizungstechniker stelle eine gewünschte Temperatur ein (Output-Standard), woraufhin der Kessel (der Unterricht) zu arbeiten beginne. Ein Messfühler (zentrale Prüfungen, PISA) messe die faktische Temperatur und melde das Ergebnis an die Steuerung (Zentralbehörde) zurück, die den Kessel nachsteuere. «Schule erscheint somit als Maschine, die programmiert und von aussen gesteuert werden könne. Lehrer sind in diesem System nur noch Techniker, die die Schüler nach Soll-Vorgaben steuern. Das widerspricht dem personalen Menschenbild des Grundgesetzes und unterläuft die Mündigkeit und Selbstverantwortung von Lehrern und Schülern.» Beide handelten nicht mehr selbstverantwortlich, sondern nur noch selbstgesteuert: «Sie richten ihr Handeln an den unhinterfragten Massgaben des Steuerungssystems aus.» Das Qualitätsmanagement wirke verdeckt, aber massiv normativ. Es unterdrücke die Individualität von Schüler wie Lehrperson. Aber: «Weil pädagogisches Handeln keine Technik, sondern eine menschliche Praxis ist, kann sie nicht aus Theorie eindeutig abgeleitet und nicht durch Techniken angeleitet werden.» Es sei nicht auf Selbststeuerung, sondern auf Gespräch und Beziehung zu setzen.37
Manche bildungsromantische Reformpädagogen sähen strukturiertes, lehrergeleitetes Lernen als Widerspruch zur freien Entwicklung des Kindes und wollten alle Ansprüche erleichtern. Sie hätten sich mit neoliberalen Kräften verbündet; der gemeinsame Nenner sei das «egoistische Selbst: einmal als ‹homo oeconomicus›, einmal als ‹natürliches Kind›. Beide vernachlässigen Bindung und Beziehung. Beide vereinzeln die Schüler und bringen sie in verschärfte Konkurrenz.» So dass «ausgerechnet rot-grüne Regierungen diese Modelle der Selbststeuerung mit aller Gewalt durchsetzen – mit Unterstützung der neoliberalen Akteure wie der Bertelsmann-Stiftung. Möglicherweise gibt es eine ideologische Konvergenz: das Interesse an Macht und Steuerung.» Das führt Krautz zu energischer politischer Analyse und Kritik. Sorgfältig und detailreich weist er nach, wie OECD, Bertelsmann & Co. mit Methoden der klassischen Propaganda die öffentliche Meinung steuern.38 Und sie zu ruckartigen Grundsatzentscheidungen verleiten, an jeder parlamentarischen Willensbildung vorbei, durch Lobbying im Hinterzimmer.
Analyse und Kritik der Machtverhältnisse. Die Globalisierung, so der Soziologe Richard Münch, entwurzle die nationalen Bildungssysteme. Bis vor Kurzem hätten demokratische Zielsetzung, bürokratische Verwaltung und pädagogische Professionalität Schule und Universität arbeitsteilig gesteuert. Diese Steuerung durch Input werde von der Steuerung durch Output verdrängt. Nun müsse sich alles vor einem Managementwissen rechtfertigen, das globale Geltung beanspruche. Nun seien Kennziffern die Kontrollinstanz, der sich niemand entziehen könne. Die Akteure könnten nur noch über sie in Kontakt treten. Das verändere alle Beziehungen. Die Definition, Produktion und Interpretation von Kennziffern werde zum Hauptgeschäft, hinter dem Bildung verschwinde.39
Die Outputsteuerung werde von einem globalen Komplex inszeniert und beherrscht. «Die Bildung wird den nationalen Eliten (Lehrerverbänden, Politikern, Ministerialbeamten) von einer transnationalen Koalition von Forschern, Managern und Unternehmensberatern aus der Hand gerissen.» Ihnen müssten sich die lokalen Autoritäten unterwerfen, um als legitime, rational handelnde Akteure zu gelten. Die OECD veranstalteten PISA, koordinierten und lobbyierten. Konzerne wie Pearson gestalteten den PISA-Test und verkauften weltweit die Lehrmittel, die auf ihn vorbereiteten. Bildungsökonomen wie Eric Hanushek formulierten die Ideologie: PISA-Erfolg garantiere Wirtschaftswachstum, individuelle Lehrerleistung den Schulerfolg. Kleine Klassen seien nutzlos, Schulen zu privatisieren. McKinsey, BCG & Co legten Regierungen Ideologie und Lehrmittel nahe. Alle verdienten prächtig; McKinsey beziffere den globalen Bildungsmarkt auf acht Billionen. Der Komplex habe die Macht an sich gerissen, zu definieren, was vernünftig sei: eine Autorität, die niemand zur Rechenschaft ziehen könne.40
Statt auf seine gewachsenen Ziele müsse das Bildungswesen nun darauf vorbereiten, sich auf dem Markt zu behaupten, im Dienst «der Produktion von Humankapital, das Rendite erwirtschaften soll». Wissenschaft werde nicht um ihrer selbst willen betrieben, sondern als Ressource, «monetäres und symbolisches Kapital zu akkumulieren». Misstrauen sei das Steuerungsprinzip, durch umfassende Rechenschaftspflicht, zu erfüllende Zahlen und stete externe Kontrolle. «Die Litanei von ‹Wettbewerb›, ‹Transparenz› und ‹Qualitätsmanagement› wird vom Sparkassendirektor bis zum Schulrektor und Universitätspräsidenten mit einer Selbstverständlichkeit heruntergebetet, dass sich niemand mehr eine andere Welt vorstellen kann.»41
Der Pionierfall USA zeige einen vernichtenden Leistungsausweis. Laut einem Bericht der American Evaluation Association 2006 hätten sich 20 Jahre ausgiebiges Testen von Schulergebnissen gar nicht bewährt. Es fördere Teaching to the test, ohne Lehren und Lernen zu verbessern. Es habe weder die Qualität der Schulen, noch die Gerechtigkeit zwischen Rassen und Klassen verbessert, noch moralische, soziale oder ökonomische Vorteile hervorgebracht. Zum gleichen Urteil komme eine nationale Kommission, die diese Steuerung 2002–2011 zu bewerten hatte. Der Wettbewerb um Testwerte, so Münch, steigere weder die Leistung, noch reduziere er die Kluft zwischen arm und reich. Er belohne subalterne Konformität und ersticke Pädagogik, eigenständiges Denken, Kreativität und Innovation. Vergleichsstudien über Fehlleistungen von Schulen, für die sie gar nicht verantwortlich gemacht werden könnten, erzeugten Misstrauen, wo es auf Vertrauen ankomme. Das ruiniere die amerikanische Pädagogik: Das zentralisierte Teaching to the test habe mit dem explorativen und experimentellen Lernen Deweys nichts mehr gemein.42
Management der Universität statt Selbstverwaltung bringe zwar mehr Flexibilität. Doch «wird die flächendeckende Kontrolle der Professoren durch Zielvereinbarungen und Kennziffern stupide Punktejäger an die Stelle kreativer, innerer Berufung und Begeisterung folgenden Forscher und Lehrer setzen und den Erkenntnisfortschritt erheblich bremsen». Die globale Durchsetzung des Marktparadigmas, nicht Leistungssteigerungen erklärten diesen akademischen Kapitalismus. Normativer Druck einer demokratisch nicht legitimierten Macht, nicht sachliche Überlegenheit.43
Die Legitimität des Vorgehens, die schweren methodischen Probleme von PISA und Bologna würden gar nicht diskutiert. PISA messe nicht Leistungsunterschiede zwischen Ländern, sondern konstruiere sie, indem der legitime Pluralismus der Bildungssysteme und -ziele einheitlichen, ökonomischen Massstäben unterworfen werde! Das Shanghai-Ranking der 500 «besten» Universitäten messe Sichtbarkeit, nicht Qualität. Blosser Umtrieb steigere erstere, letztere nicht. Und die Vielfalt der sozialen Formen, schon die Dynamik einer Schüler-Lehrer-Beziehung, könnten Zahlen nicht darstellen. Münch schlägt den Glauben an Ziffern mit seinen eigenen Waffen. Nicht einmal unter dem Aspekt der Nützlichkeit bewährt sich die Reduktion des werdenden Ich auf Ziffern. Die Outputsteuerung und der von ihr bewirkte massive Vertrauensschaden sind durch nichts zu rechtfertigen. Ob Münchs «Kritische Theorie mit den Mitteln empirisch-analytischer Soziologie»44 die Bildungspolitik aufweckt?
Eigenstand wächst an Auseinandersetzung. Dass Schüler denken lernen, ist für Jürgen Kaube, Herausgeber der FAZ, Sinn der Schule: einen Schritt zurücktreten, nicht mitmachen, Selbständigkeit. Denken setze «Umstände, auf die man sich verlassen kann», voraus: Wissen über die Welt. Angeeignetes, nicht ergoogeltes! Probleme lösen könne, wer viele ähnliche gesehen, also Sinn für wesentliche Faktoren und Irrwege habe. Denken verdanke sich «der Überwindung von Schwierigkeiten oder wenigstens den Kräften, die sich beim Versuch entwickeln, Schwierigkeiten zu überwinden». Es mache Bürger «wach, wahrnehmungsfähig, kenntnisreich».45
Zum Teil bedeute Denken Elementares zu beherrschen: Lesen, Schreiben, Mathematik und Sprachen forderten Arbeit, Ausdauer und Übung. Zum Teil – Naturwissenschaft, Religion, Geschichte – bedeute es, «bei den Sachen (zu) verweilen, damit sie etwas sagen». Der Lehrer solle «Schwierigkeiten interessant machen», wozu er in der Themenwahl frei sein müsse. Seine Autorität, zentraler Faktor des Lernens, beruhe darauf, den Sinn des Lernens zu verkörpern.46
Lernen setze klare Fragen voraus; dann sei es «kognitiv ergiebige Freude und ein Feld voller Entdeckungen». Widersprüchliche Ziele (gleiche Chancen für alle, zugleich jedem einzelnen gerecht werden); Ökonomisierung und Digitalisierung; reformpädagogisches Denken nur vom Schüler, nicht auch von Fragen und vom Lehrer her; nivellierender Zentralismus; überfüllte Lehrpläne und Gleichgültigkeit gegenüber Autorität beschädigten das Lernen. Als wäre Multitasking das Lernziel, unterbrächen ständig fremde, offenbar wichtigere Ansprüche das Denken! So wirke die Schule nur «als Vorstufe zum Eigentlichen». Ähnlich verdecke in der Hochschulpolitik die Exzellenzinitiative widersprüchliche Ziele durch «Tabellenbewusstsein», blindes Vertrauen in Ziffern und Pläne. Alles zugleich wolle sie verwirklichen: «Schulen für die Hälfte eines Jahrgangs und Exzellenz, Massenaufstieg und Leistungsorientierung, Berufsbildung und Wissenschaft»: eine «Lebenslüge».47
Die Schule könne weder die bessere Gesellschaft noch die «Abschaffung der Unterschicht» leisten. Sinn habe die Schule nur eigenständig, als Gegenüber, nicht als Mittel der Gesellschaft. Schüler seien vor der Gegenwart zu schützen, weil sie es als Neue, Unwissende noch nicht mit ihr aufnehmen könnten. Humanistisch, mit Hegel und Arendt: Leichter als lebensweltliche ermöglichten fremde Themen unbefangene Auseinandersetzung. Mehr als Weltbezug wecke der Eindruck, eine Aufgabe sei lösbar, die Neugier. Mehr als von Ressourcen wie Geld, Zeit und Kraft, sogar als vom Unterricht hänge Lernen von der Einstellung zur Schule ab, von Kommunikationsstil und Risikowahrnehmung, bei Schülern und Eltern. Nötig sei also Erziehung von Menschen, nicht Durchschnitten; Dezentralisierung; Lehrerbildung für Personen, nicht nur Funktionen.48
Auch wo Kaube empirische Bildungsforschung, PISA und die «Verlogenheit der Kompetenz-Orientierung» verurteilt, setzt er aufs sachliche Argument. Doch «die Bildungspolitik lernt nicht, sie gibt sich nicht einmal Mühe, aus lokalen und regionalen Erfolgen wie Misserfolgen zu lernen» Aber – warum? Auf Krautz’ und Münchs These, statt Argumenten steuerten Ziffern, Lobbying und Propaganda von OECD & Co die Bildungspolitik, geht Kaube nicht ein. Ist «Verlogenheit» ein kognitives Problem, ein Irrtum, was Schule sei und könne – oder eine normative Haltung, Verengung der Sprache aufs Zählbare, so dass Sinnargumente nicht mehr gelten?49
An guten, sorgfältig entwickelten Argumenten fehlt es nicht; die Liste ist nicht vollständig. Doch alle greifen ins Leere. Keines erreichte eine politische Debatte über den sich bildenden Menschen und die Ziele des Bildungswesens. Nichts konnte Kultusminister, Erziehungsdirektoren, Universitätsrektoren oder gar die OECD zu einem öffentlichen Widerspruch bewegen, der eine Debatte eröffnet hätte. Die Exekutive antwortet nicht. Sie will nicht: strategisches Schweigen. Die Macht lässt die Kritik abprallen. Sie hat das Prinzip der beständigen Verantwortung gegenüber der Kritik aufgegeben, die seit der Aufklärung den Staatsbegriff bestimmte. Das effiziente Funktionieren tritt an die Stelle des Gesprächs über die Ziele von Bildung. Jene, die das Bildungswesen steuern, versuchen nicht mehr, die Gesellschaft durch einen Konsens über Ziele zusammenzuhalten. Regieren mit vollendeten Tatsachen: Lenzens Postdemokratie. Das Funktionieren hat obsiegt. «Taten, die nicht von Reden begleitet sind, werden unverständlich. Ihr Zweck ist, durch Unverständlichkeit zu schockieren, oder durch vollendete Tatsachen Verständigung zu sabotieren. Als solche sind sie verständlich, sie lehnen das Reden und Sprechen ab, und ihre Verständlichkeit ist der Ablehnung geschuldet; was wir verstehen, ist die zur Schau getragene Stummheit.»50