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Vorwort
ОглавлениеVon Klaus Mertes
Es ist der OECD in den letzten beiden Jahrzehnten gelungen, zwei konkurrierende Diskurse miteinander zu verbinden: den Neo-Liberalismus und den sozialpolitischen linken Diskurs. Dieser bemerkenswerte Schulterschluss sorgte spätestens nach dem «PISA-Schock» im Jahre 2000 für einen bildungspolitischen Konsens von der bürgerlichen Mitte bis hin zur Linken. Unter Stichworten wie «Standardisierung», «Kompetenzorientierung» oder einfach «Finnland» wurden weitgehende Reformprozesse in Gang gesetzt, von der Kita über PISA bis zur Hochschule.
Ich habe die bildungspolitischen Entwicklungen seit dem «PISA-Schock» aus der Perspektive der Schule erlebt und mich dabei immer wieder gefragt, was denn der zusammenhängende Gedanke hinter dem chaotischen Reform-Zirkus sein könnte, den das Bildungssystem – manchmal viel zu geduldig, eingeschüchtert und ergeben – hat über sich ergehen lassen müssen. Am Ende meiner Überlegungen bleiben zwei Begriffe stehen, die ihrerseits zusammenhängen: Vergleichbarkeit und Gleichheit.
Das anerkannte Ziel der PISA-Studie war, die nationalen Bildungssysteme international vergleichbar zu machen, um eine empirische Basis für Veränderungen des Bildungssystems im Zeitalter der Globalisierung zu gewinnen. Internationale Vergleichbarkeit und Neo-Liberalismus hängen zusammen: Letzterer behauptet das Primat der Marktmechanismen im Zeitalter der Globalisierung; der globale Markt hat keinen Welt-Staat über sich, der ihm im Sinne einer globalen sozialen Marktwirtschaft Zügel anlegen könnte; also regiert das Geld – weil es das einzige Medium ist, das internationale, globale Vergleichbarkeit herstellen kann.
Geld erhebt sich über Geschichte, Kultur und regionale Eigenheiten aller Art, auch über gewachsene Bildungstraditionen, weil es von allem Partikularen abstrahieren kann. «Indem das Geld immer mehr zum absolut zureichenden Ausdruck und Äquivalent aller Werte wird, erhebt es sich zu abstrakter Höhe über die ganze weite Mannigfaltigkeit der Objekte, es wird zu dem Zentrum, in dem die entgegengesetztesten, fremdesten, fernsten Dinge ihr Gemeinsames finden und sich berühren; damit gewährt tatsächlich auch das Geld jene Erhebung über das Einzelne, jenes Zutrauen in seine Allmacht wie in die eines höchsten Prinzips, uns dieses Einzelne und Niedrige in jedem einzelnen Augenblick gewähren, sich gleichsam wieder in dieses umsetzen zu können» (Georg Simmel, Philosophie des Geldes).
Die Option der OECD für die Herstellung internationale Vergleichbarkeit der Bildungssysteme bedurfte dieses geeigneten Mediums. Die Folge: Ökonomische Kriterien bestimmen den «Wert» von Bildung. Welches andere Medium als letztlich das Geld sollte auch diesen Dienst der Werte-Messung leisten können? «Würde» im Sinne des autonomen, denk- und urteilsfähigen Subjekts hat in diesem Konzept keinen Platz, beziehungsweise wird in «Werte» umgerechnet: «Im Reiche der Zwecke hat alles entweder einen Preis oder eine Würde. Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anders als Äquivalent gesetzt werden; was dagegen über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet, das hat eine Würde. Das aber, was die Bedingung ausmacht, unter der allein etwas Zweck an sich selbst sein kann, hat nicht bloss einen relativen Wert, sondern einen inneren Wert, d. i. Würde … Personen sind nicht bloss subjektive Zwecke, deren Existenz als Wirkung unserer Handlung, für uns einen Wert hat; sondern objektive Zwecke, d. i. Dinge, deren Dasein an sich selbst Zweck ist, und zwar einen solchen, an dessen Statt kein anderer Zweck gesetzt werden kann, dem sie bloss als Mittel zu Diensten stehen sollten» (Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten).
Bildung, die vom kantischen Begriff der Würde her gedacht wird, lässt die OECD mit ihrem Anspruch an Grenzen stossen. Die Protagonisten, die hinter den vier Buchstaben OECD stecken, müssten dann anfangen, Gesicht zu zeigen und zuzuhören. Doch das kommt nicht zustande. Die bildungspolitischen Debatten der letzten Jahre sind von einer merkwürdigen, aber auch bezeichnenden Sprachlosigkeit zwischen Basis und Entscheidungszentren geprägt – das heisst, einfacher ausgedrückt: Sie finden nicht statt. Insbesondere die Inhalte von Bildung kommen nicht zur Sprache, und schon gar nicht kontrovers. In dem Masse aber, in dem die kritischen Stimmen an der Basis an einer Mauer des Schweigens abprallen, sucht sich die Basis – die sich in Statistiken und immer neuen Strukturen wiederfindenden Reformobjekte namens Schülerinnen und Schüler, Studierende, Eltern, Lehrerinnen und Lehrer – andere politische Interessensvertreter, fatalerweise in den letzten Jahren immer mehr bei autoritären Parteien und Bewegungen, die in das nationalistisch-partikulare Gegenteil des OECD-Universalismus zurückfallen.
Ich sagte eingangs: Der OECD ist es gelungen, ihren neoliberalen Ansatz im Schulterschluss mit dem linken Gleichheits-Diskurs voranzubringen. Neben dem Vergleichbarkeits-Topos und seinen Schrecken erregenden Resultaten («Deutschland hinkt im internationalen Vergleich hinterher», «China liegt bei dem mathematisch-naturwissenschaftlichen Kompetenzen auf Platz 1» und so weiter) stellte PISA schon 2000 fest, dass die soziale Herkunft einen besonders starken Einfluss auf den schulischen Erfolg hat. In Kombination mit der Kritik am dreigliedrigen Schulsystem in Deutschland folgte aus diesem Befund, dass die Zeit des gemeinsamen Lernens erheblich verlängert werden müsse, mit den entsprechenden Schulstrukturreformen und -debatten, die seither den Bildungsdiskurs bestimmen. Das Credo lautet: Gemeinsame Lernzeiten verlängern statt frühzeitig aussortieren, um den Einfluss der Herkunft auf den Bildungserfolg zu brechen.
Der Zusammenhang von sozialer Herkunft und schulischem Erfolg ist nicht zu leugnen. Bildungsgerechtigkeit ist und bleibt ein Schlüsselthema der Bildungspolitik, aber auch jeder pädagogischen Tätigkeit vor Ort. Es wäre einiges Differenzierende und auch Ermutigende dazu zu sagen. Aber wenn Bildung «bloss» als Mittel zum Zweck der Herstellung sozialer Gleichheit verstanden wird, erhebt sich die Kategorie der Gleichheit in dieselben abstrakten Höhen wie das Geld. Die politischen Entscheidungsträger verwandeln Bildungspolitik in ein Instrument der Sozialpolitik. Der sozialpolitische Output des Bildungssystems kann dann mit denselben Instrumenten gemessen werden, mit denen auch insgesamt die internationale Vergleichbarkeit zwischen den Bildungssystemen gemessen wird – also letztlich mit Geld. Hier treffen sich die nur scheinbar feindlichen Geschwister: Neoliberalismus und staatsmonopolistische Bildungspolitik im Dienst der sozialen Gleichheit. Die OECD versteht sich als ihr globaler Akteur.
Das Problem ist nur: Bildung verwandelt sich in den Händen eines am ökonomisch-gesellschaftspolitischen Output gemessenen Nutzens in etwas anderes als Bildung. Im besten Fall kommt gute Ausbildung heraus, im schlechtesten kritiklose Anpassung. Bildung ist aber etwas anderes: «Sich zu bilden ist tatsächlich etwas ganz anderes als ausgebildet zu werden. Eine Ausbildung durchlaufen wir mit dem Ziel, etwas zu können. Wenn wir uns dagegen bilden, arbeiten wir daran, etwas zu werden – wir streben danach, auf eine bestimmte Art und Weise in der Welt zu sein» (Peter Bieri). Für die ethische Bildung formuliert Aristoteles: «Das Ziel unserer Studien ist nicht, zu wissen, was das Wesen der Tugend ist, sondern gut zu werden.» Das alles ist aber nicht zu denken ohne Autonomie, ohne Freiheit. Sonst wird das Bildungssystem entweder, wie in den Erziehungsdiktaturen von Sparta bis zur DDR, totalitär, oder es wird zu einem Ort des Wettbewerbs, in dem sich über Output-Kontrolle und Rankings täglich neu der Bildungserfolg entscheidet. Die Lernenden als Subjekte sind nicht mehr im Blick.
Knapp 20 Jahre nach dem «PISA-Schock» ist dem Neoliberalismus ein hässlicher Bruder zugewachsen: der autoritäre Rechtspopulismus. Er verspricht, den inhaltsleeren Kult des Geldes durch neue, essentialistische Definitionen von Nation und Kultur zu vertreiben, spielt den Partikularismus gegen den Universalismus aus und kapert zugleich das Anliegen sozialer Gleichheit für die eigenen Leute, indem er einen neuen Feind kreiert – nämlich die Anderen, die Fremden, denen es angeblich nicht zusteht, Gleichbehandlungsansprüche zu stellen. Einen Weg aus dieser Zwickmühle schlägt Thomas Philipp unter dem schönen Begriff einer «gebildeten Bildungspolitik» vor. In der Tat: Es ist immer leichter, auf die eine oder andere Seite hin zuzuspitzen, als einen Weg der Mitte zu gehen. Aber diesen Weg wird eine Bildungspolitik finden und gehen müssen, die diesen Namen verdient. Denn Bildung ist ein Gut, das weder ökonomisch noch sozialpolitisch voll verrechenbar ist. Anerkennt man das, kann Bildung auch ihren Segen für ökonomisches Gedeihen und soziale Gerechtigkeit entfalten.