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Vier Lücken im Nachdenken

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Verändern Bücher die Welt? Nein: Wie schnell setzen sie Staub an und werden vergessen! Und ja: Sie treffen einen Nerv, manchmal doch, treffen auf eine Zeit, die sich danach sehnt, sich aufzurichten. Und in ihnen Halt findet, Hoffnung zu schöpfen. Sodass, was kalt erstarrt daliegt, wieder durchblutet wird und ins Fliessen kommt. Das Wort kann auf Bewegung nur hoffen; die Bewegung aber findet ohne das Wort nicht zur Wirksamkeit. Was aber ist noch nicht gesagt? Was ist neu? Was kann dieses Buch beitragen? Fehlt es dem Widerstand gegen die Reformen an Nachdenken? Zeigt er theoretische Defizite, für deren Überwindung ein Buch das Mittel der Wahl wäre? Unter vier Aspekten ist das der Fall.

Ursprung und Eigenart der neuen Regeln. Schlagende Argumente gegen die Reformen liegen vor – und prallen ab. Die Macht reagiert nicht. Fast über Nacht haben sich neue Regeln der politischen Kommunikation durchgesetzt. Für Demokraten sind sie inakzeptabel; für sie kann nur das Argument, nur das kritische und verständigungsorientierte Gespräch politische Ziele begründen. Menschlichkeit und Demokratie verlangen, über diese schockierenden Regeln zu sprechen, sie klar zu fassen, zu kritisieren und ethisch zu bewerten.

Doch genügt das noch nicht. Diese Regeln kann nur überwinden, wer Einsicht in ihre Wirksamkeit gewinnt. Woher kommt die Macht, mit der sie sich durchsetzen? Wohl beruht die Macht des bildungsindustriellen Komplexes darauf, dass er das Gespräch über die Ziele des Bildungswesens erstickt hat. Das aber gelingt nur, weil er einen schweigenden, aber wirksamen Komplizen in allen Menschen von heute hat. Die Konfliktlinie verläuft nicht zwischen dem einzelnen und dem bildungsindustriellen Komplex. Sie verläuft mitten durch jedes Ich. Als Mensch von heute ist er immer schon identifiziert mit Markt und Staat, die ihm mit nie gekannter Wirksamkeit Wohlstand und Sicherheit sichern. Das Übergewicht der Bedürfnisse nach Kontrolle und Wohlstand gegenüber den gewachsenen Vorstellungen vom guten Leben ereignet sich zuerst innen. Es ist eine Frage der Haltung. Der Botschaft von Reichtum und Kontrolle sind schliesslich viele zuzustimmen bereit, auf Kosten der breiten, humanen Bildung des Ich. Hierzu trägt eine weltanschauliche Verunsicherung massgeblich bei: die Schwierigkeit, dem Funktionieren glaubwürdige Alternativen gegenüberzustellen. Nur in dieser Atmosphäre greift das strategische Auftreten des bildungsindustriellen Komplexes und seine Botschaft der Alternativlosigkeit.

Auch wenn’s im Genuss einer Überdosis anders schmeckt: Die Wirtschaftsförmigkeit und die – sie oft ausgleichende – zentrale Steuerung, die sich im Westen seit 250 Jahren durchgesetzt und nun die ganze Welt ergriffen haben, sind nicht nur schlecht. Die Hoffnungskräfte, die sie tragen, und das kreative Potential, das sie freisetzen, sollen in einen zeitgemässen Bildungsbegriff und in die Bildungspolitik eingehen. Dem Übergriff von Wirtschaftsförmigkeit und Zentralismus ist Einhalt zu gebieten, der Sinnlosigkeit zu widersprechen – und zugleich ist eine Vision zu entwickeln, welche das effiziente Funktionieren in Teilbereichen zulässt, die gegensätzlichen Ziele in eine durchdachte Synthese versöhnt.

Zusammenschauender Begriff des sich bildenden Menschen. Ansetzend beim Ursprung des deutschen Wortes bilden in der selbstachtsamen Spiritualität Eckharts, möchte dieser Versuch den Menschen als ganzen zu Gesicht bekommen, statt ihn in Aspekte auseinanderfallen zu lassen. Solange sie nicht in einer Synthese Versöhnung finden, die jedem seinen Platz gibt und zugleich seinen Anspruch begrenzt, können auch die Kräfte, die dem lebendigen Werden des Ich dienen wollen, politisch nicht zusammenwirken. Dann bleibt es bei Zerrissenheit.

Ethik. Dieses Werk setzt nicht erkenntnistheoretisch an, nicht als Besinnung auf eine humanistische Tradition oder als pädagogisches Fachbuch. Auch nicht als Streitschrift, die für politische Ziele wirbt. Es spricht wohl auf all diesen Ebenen. Aber als Ganzes wählt es die Form einer Ethik. Es möchte nicht bei der Kritik stehen bleiben. Ware Bildung, Bildung statt Bologna, Theorie der Unbildung: Solche Titel liegen vor. Dieses Buch möchte den Boden für eine Verständigung bereiten. Auf das Ziel des guten Lebens aller müssten alle Akteure sich verständigen können, so sie nicht von vornherein nur Gruppeninteressen oder Rechthaben verteidigen, also die Hoffnung auf Verständigung aufgegeben haben. Von diesem Ziel her lassen sich alle anderen Ziele kritisieren, relativieren und ordnen. Umgekehrt ist die Weigerung, über das gute Leben zu sprechen, genau der Punkt, an dem Wirtschaftsförmigkeit und Zentralismus ins Menschenfeindliche kippen.

Die Form einer Ethik kann zudem die normative Eigendynamik der Bildungssysteme aufnehmen. Ausdrücklich oder nicht, verfolgen sie immer schon eine Vorstellung, wie Menschen sein sollen. Ohne sie würde sich niemand anstrengen, würde kein Staat Geld ausgeben. Bildungssysteme stehen auf Gesetzen, auf konsensfähigen Vorstellungen, wie es zugehen soll. Der Kern eines jeden Bildungswesens liegt nicht in seiner politischen Struktur, auch nicht in der Macht der gerade Herrschenden. Sondern in der Kraft von Zielen, die Menschen zum Einsatz motivieren. Über sie schlägt dies Buch vor nachzudenken.

Zudem vermeidet die Form der Ethik den Eindruck, blosses Objekt im Spiel der Mächtigen zu sein. Ein reflektiertes Bewusstsein vom guten Leben fordert einen jeden als Handelnden heraus und zeigt Möglichkeiten, eigenständig zu wirken.

Selbstreflexion. In allen drei Aspekten spielt die Selbstreflexion die tragende Rolle. Dieses Buch bezieht das Erleben und die Haltung des Ich stets ein; es denkt immer auch in der ersten Person. Wie möchte ich, die Leserin, für mein Leben Wohlstand und Sicherheit mit kreativer Entwicklung und Aufbruch ins Neue in Beziehung setzen? Welche Rolle spielt die Achtsamkeit für die innere Welt für mich? Was verstehe ich unter gutem Leben? Die Selbstreflexion, arg unter die Räder gekommen, verlangt nach einem angemessenen Platz im Ganzen. Die Macht des bildungsindustriellen Komplexes beruht darauf, dass er nicht überall auf Menschen stösst, die auf dem kritischen Gespräch bestehen. Wie soll ein Mensch sein? Was soll unter Bildung verstanden werden? Welchen Sinn hat sie? Der Komplex lebt davon, sich als alternativlos darzustellen. Das Gegengift heisst Selbstreflexion.

Bildungsethik (E-Book)

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