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1.2Bildung für den Markt
ОглавлениеWie soll ein Mensch sein? Leider spielt diese Frage nicht in der Realität. So fragt unsere Zeit nicht. Sie fragt nicht nach Menschen. Sie fragt nach den Bedürfnissen des Systems. Das Werden des Ich ist Privatsache. Die Sprache der Wirtschaft – Effizienz, Steuerung, Kompetenz – hat jene der Pädagogik und Philosophie – Reife, Verantwortung, Eigenständigkeit, Selbstfindung – verdrängt. Die Behauptung, Bildung lasse sich in Zahlen fassen, ihr Output messen und durch Nachsteuern optimieren, gilt weitherum als das Ganze. Zusammenstauchen des Wegs zum Abitur auf 12 Jahre; PISA; Bologna; die Bewertung der Universität durch Rankingpunkte: Diese Massnahmen, im Folgenden kurz Reformen, rauben dem sich bildenden Ich die ihm gemässe neugierförmige Form und zwingen es in jene des Marktes. Wo krieg ich’s am billigsten? Wo es um Punkte geht, will man sie möglichst effizient ergattern. Kein Wort mehr zu menschlicher Reifung, Empathie oder politischer Bildung. Das Ergebnis ist eine völlig andere Haltung.
Auf das Ich schauen die Reformen streng von aussen: unbeteiligt, in der dritten Person. Die erste ist ausgeschlossen, da nicht messbar und in Zahlen auszudrücken. Selbstreflexion ist unwichtig; die Erfahrung, jemand zu werden, nicht von Bedeutung. Worauf es ankommt, steht in Kennziffern, nur dort. Die Reformen ersetzen die Erfahrung von Sinn, seine Sprache und die Verständigung über ihn durch zählbares Mehr. Wozu ist das gut? Für die Wirtschaft, heisst es. Für Europa oder die Steuerung der Massenuniversität. Aber wozu sind diese gut? Um sich selbst zu begründen, geben die Reformen wieder nur Zwecke an. Auf Fragen nach dem Sinn wollen sie nicht antworten. Sie denken nur bis zum optimalen Funktionieren. Ihre Sprache kann gar nicht anders. Darum erleben so viele das Lernen im System als nützlich, aber sinnlos.
Wie soll ein Mensch sein? Würde man die Entscheidungsträger fragen, Universitätsrektorinnen und Bildungsdirektoren, sogar Mitarbeitende der OECD, träten ihnen Einzelne vor Augen: Studierende, mit denen sie näher zu tun haben, oder ihre Kinder. Dann würden sie eine andere Antwort geben als jene, die sie als Verantwortliche täglich vertreten. Erstaunliche Spaltung!
In den Zielen, die sie ihrem Bildungssystem setzt, verhandelt eine Gesellschaft, was sie über den Menschen denkt. Erstaunlicherweise führt sie diese Auseinandersetzung heute nicht ausdrücklich. Ohne sich dessen klar bewusst zu sein, überlässt sie die Antwort Stimmen, die behaupten, Bildung sei für das Funktionieren von Produktion, Markt und Konsum da. Und die ausdrücklich nicht von Menschen, ihrem Werden und ihrer Erfahrung von Sinn sprechen wollen. Ziel sei die effiziente Reproduktion von Humankapital. Das begründen sie nicht. Sie behaupten’s einfach. Und folgern, Bildung müsse sich an der Wirtschaftswissenschaft messen. Bildung lasse sich empirisch erheben und in Zahlen darstellen, in wirtschaftlicher Sprache verstehen und steuern. Das Bildungswesen sei marktförmig aufzustellen. Eine Zieldebatte sei für seine Steuerung unnötig. Im Gegenteil! Es müsse der politischen Steuerung entzogen werden; Agenturen, Tests und Rankings könnten das effizienter als die demokratische Willensbildung. Nur logisch, dass Bologna nicht einmal in der Schweiz von den Parlamenten diskutiert und beschlossen worden ist.
In dieser Argumentation ist jeder Teil falsch. Erstens geht sie von einem Irrtum über den Menschen aus. Jeder weiss, dass Geld allein nicht glücklich macht. Gilt diese Einsicht für die Ziele des Bildungswesens nicht? Die Verständigung über sie verlangt zweitens ethische, keine ökonomische Sprache. Die Frage nach dem guten Leben aller lässt sich nur durch Verständigung über Ziele beantworten, nicht mit Zahlen. Engagiert, in der ersten Person. Nicht in der kalten Sprache des man. Der Markt hat sich vor der Ethik, vor der Frage nach dem guten Leben zu verantworten. Also vor den Erfahrungen, die Menschen mit ihm machen. Nicht umgekehrt. Drittens wirken die vorgeschlagenen Massnahmen schlecht. Sie tun alles, Menschen zu vereinzeln und sich fremd werden zu lassen. Dann passen sie sich an Ziele an, die sie verbiegen. Funktionieren bloss noch und wachsen nicht mehr. Verlieren den Kontakt mit sich selbst. Ihre Würde nimmt Schaden, ihre Lebendigkeit welkt.
Wem nützt das alles? Einmal mehr der wirtschaftlichen Elite, um von der Globalisierung immer noch mehr zu profitieren, auf Kosten des guten Lebens aller. Zugleich stabilisieren diese Thesen – darin liegt ihre verführerische Kraft – in einem jeden jene Seite, die sich lieber nicht mit sich selbst, mit Zielen und mit Scheitern auseinandersetzen will. Zu bequem, zu angepasst, diesen traurig mageren Zielen bessere entgegenzustellen. Viel leichter, sich von Geld und Konsum Erfüllung zu versprechen! Selbstbetäubung, quer durch alle Schichten. Opium, sozusagen.