Читать книгу Ibiza-Jacques und der Tote im Kräutergarten - Thomas Fitzner - Страница 10
5. Kapitel
Оглавление„The biggest wallet in the neighbourhood,
and, uh, it felt so good“
(Die dickste Brieftasche in der Gegend,
und, ah, es hat so gut getan)
Aus dem Lied „Love that ancient trade“, Album „Tender Rebellion“, The Freakers
Mia Shortcut war eine attraktive Mittdreißigerin. In ihrem Antlitz waren die Spuren eines turbulenten Partylebens ebenso abzulesen wie die Hinwendung zum naturnahen Leben. Ein fernes Echo auf die Schlägervisage ihres Vaters verlieh ihrer Schönheit einen wilden, beinahe exotischen Beigeschmack. Anders als die Puppengesichter der Partyschönen hatte sie kleine Augen, bei denen man sich schwer entscheiden konnte, ob sie nun verträumt, listig oder gefährlich wirkten. Ihr blonder Haarschopf war auf stilvolle Weise unordentlich, auch das ein Zeichen von Freiheit und Selbstbewusstsein. Eine interessante Mischung, wie Jacques empfand, als er die zart gebaute Frau auf beide Wangen küsste.
Mia trug ein weißes Adlib-Outfit, das um ihre schlanken Hüften schlenkerte und in kontrolliert zufälliger Weise entlang ihrer Beine gegen die Mokassins abfiel. Wohl ein Design aus der eigenen Kollektion. Was man von ihren Füßen sah, war braun gebrannt. Aha, die Gärtnerin, dachte Jacques. Mit breitkrempigem Hut und barfuß in den Beeten unterwegs. Direkte Verbindung mit Mutter Erde.
Dass Jacques sie anstarrte, hatte allerdings einen zweiten Grund: Mia sah aus, als wäre sie die Schwester einer Schweizerin namens Andrea, in die Jacques ein paar Jahre lang hoffnungslos verliebt war. Wegen seiner jugendlichen Schüchternheit war nie eine Beziehung entstanden, sie hatten kaum je ein Wort miteinander gewechselt. Was für ein Träumer er gewesen war! Wollte ihm das Schicksal eine zweite Chance geben? Doch der Gedanke erschien ihm so lächerlich, dass er aus Ärger darüber ein wenig brüsk klang, als er sagte: „Jacques ist mein Name. Erfreut.“
„Schön, dass Sie uns helfen wollen“, sagte Mia. Er staunte, wie tief ihre Stimme war. Das musste die spanische Luft sein, darum haben wohl so viele iberische Frauen eine rauchige Stimme.
Die Hausherrin widerstand erfolgreich der Versuchung, das Kostüm ihres Gastes zu bestaunen, wie das alle anderen Anwesenden taten, vor allem eine bildhübsche Dunkelhaarige, die ihn unmittelbar danach begrüßte, womit sie auch klar machte: Ich bin die Nummer zwei in diesem Haus.
„Anaïs Bonnay“, stellte sich die Dunkelhaarige vor.
„Meine rechte Hand“, fügte Mia an und die beiden lächelten.
„Wir speisen im Wintergarten.“ Anaïs wies ihnen den Weg.
„Ach ja“, sagte Mia, als würde sie sich nun wieder erinnern. „Im Wintergarten, eine gute Idee, Anaïs. Es ist ein wenig frisch heute Abend. Bitte gehen Sie voraus, ich muss in die Küche.“
Mia wieselte davon, als wäre sie eine gehetzte Angestellte. Jacques vermutete, dass sie mit diesem Theater die Realitäten überspielte – sie hatte das Geld, den berühmten Namen, sie war die Chefin und Can Raoul war trotz allem Kichern, Lockere-Sprüche-Schieben und Bussi-Bussi ein hierarchischer Laden mit klarer Hackordnung.
Das Haus lag auf einer von bewaldeten Hügeln umgebenen Anhöhe und entsprach dem Klischee des Luxusanwesens Marke Ibiza: eine weiß getünchte Ansammlung rechteckiger Baumodule, die sich zu Patios und Terrassen unterschiedlicher Größe öffneten. Der Wintergarten war eine verglaste Veranda mit Blick aufs Meer. Unterhalb verliefen einige schmale Trockensteinterrassen, auf denen Olivenbäume wuchsen. Ein hübsch angelegter Steinweg schlängelte sich zu einer Aussichtsplattform mit einem kleinen steinernen Unterstand. Danach fiel das Gelände steil zum Meer hin ab. Strand war weit und breit keiner zu sehen, nur ein Landesteg in einer winzigen Felsenbucht, an dem eine Kabinen-Llaut lag, moderner Nachbau eines traditionellen balearischen Fischerbootes mit seinem markant bauchigen Rumpf und dem spitz zulaufenden Heck.
An einem runden Tisch war für vier Personen gedeckt. Die schöne Französin wies elegant auf die Stühle und sie nahmen Platz. Jacques orientierte sich, und als sein Blick auf die Gartenanlage fiel, die sich seitwärts des Hauses im leicht abfallenden Gelände ausbreitete, erklärte Anaïs: „Dort hat man ihn gefunden.“
Alcásser versetzte Jacques einen Rippenstoß und der bemühte sich pflichtschuldig um einen Themenwechsel: „Was wird hier denn so angebaut?“
„Alles Mögliche“, erwiderte Anaïs, noch immer mit diesem nahezu unmerklichen Lächeln, das ihr eine Aura von Arroganz und Überlegenheit verlieh. „Momentan das Wintergemüse, im Sommer dann Tomaten, Gurken und was es sonst so gibt.“
Aha, dachte Jacques. Die Gärtnerei war nicht ihr Ding.
Mia trat ein, zwei große Teller in ihren Händen, die sie auf den Tisch stellte. „Das ist zum Knabbern, damit euch nicht langweilig wird. Der erste Gang ist gleich fertig.“
Sie hatte noch hinzufügen wollen: „Greift nur zu“, aber Jacques, dem Zurückhaltung fremd war, und speziell, wenn es ums Essen ging, hatte sich schon einen Löffel Dip serviert und fuhrwerkte mit zart geschnittenen Endivien darin herum, während Anaïs und Alcásser hüstelten.
„Sehr schmackhaft“, sagte Jacques. „Selbst gezüchtet?“
„Leider nein. Die sind aus einem charmanten Ökomarkt.“
Mia und ihre Vertraute tauschten einen bedeutungsschwangeren Blick.
„Die Produktion in Can Raoul“, erklärte Anaïs, „läuft gerade erst an.“
„Alles eine Frage der Düngung“, sagte Jacques zwischen zwei Endivien und ignorierte einen weiteren Rippenstoß Alcássers. „Haben Sie guten Dünger?“
„Den besten“, erwiderte Mia.
„Wir haben eine Pferdekoppel etwa zweihundert Meter diese Richtung.“ Anaïs wies auf einen Ort hinter der Gartenanlage. „Mia hat eigenhändig den Pferdemist zum Kräutergarten transportiert. Mit einem Schubkarren. Alle wollten ihr helfen, aber sie hat darauf bestanden, das allein zu machen.“
„Vielleicht könnten wir Herrn Reinhauser ein wenig über Can Raoul erzählen“, schaltete sich Alcásser ein. „Damit er sich ein Bild vom Anwesen machen kann.“
Mia runzelte die Stirn. „Wer ist Herr Reinhauser?“
Jacques deutete mit dem Daumen auf sich und schob eine weitere Endivie zwischen seine Zähne.
„Oh.“ Mia hielt die Hand vor den Mund. „Verzeihung. Mir waren Sie nur unter dem Namen Ibiza-Jacques bekannt.“
„DAS ist Can Raoul“, lenkte Anaïs die Aufmerksamkeit der Runde von dem Fauxpas der Hausherrin ab. An der Wand des Hauses erwachte ein Kunstwerk zum Leben, oder was Jacques dafür gehalten hatte. In Wahrheit handelte es sich um einen Flachbildschirm, der in seiner Freizeit als vermeintliches Ölgemälde die Wand zierte. Mit ihrem Handy wählte sich Anaïs durch ein Menü und prompt erschien ein Lageplan des Anwesens.
Schweigend starrte die Runde, dann erhob sich Mia. „Erkläre ihm das, Anaïs. Ich hole inzwischen den ersten Gang.“
Der Abend wurde ergiebig, was Gründe und Hintergründe anlangte. Nachdem sich die Runde appetitreich und lobend durch Mias Öko-Dinner geschmaust hatte, tat ein süßer Wein aus Formentera seine Wirkung und die Stimmung wurde vertraulich.
Ein Entführungsversuch vor vielen Jahren war der Grund, warum Can Raoul wie eine Festung gesichert war. Sorglos war Mia seinerzeit als Teenagerin durch Ibizas Diskotheken gezogen und an Bord von Yachten gegangen, deren Besitzer sie gerade erst kennengelernt hatte. Zwischen den Zeilen war erkennbar, dass sich weder Sean Shortcut noch Mias Mutter viel um das Mädchen gekümmert hatten. Eine israelische Sicherheitsfirma befreite Mia von einem Boot, das plötzlich Kurs auf eine verdächtige Küste genommen hatte. Was sich an Bord genau ereignet hatte, ja nicht einmal die Entführung selbst waren je ans Licht der Öffentlichkeit gelangt. Danach tauchte Mia in anderen Breiten ab. Als sie auf ihr geliebtes Ibiza zurückkehrte, langte Sean Shortcut tief in die Geldtasche und ließ seiner Tochter eine Art überdimensioniertes Spielzimmer bauen. Das Sicherheitssystem war Mia peinlich, vor allem die elektronisch überwachten Zäune – welch schreckliches Symbol! Aber neben Gefühlen und Ästhetik gab es eben auch eine Realität, auf die man sich einstellen musste.
Can Raoul, das war ein kleiner Kosmos mit einer Kernmannschaft: Unter dem Kommando von Anaïs Bonnay werkten die Köchin Susanna Steuben und das Hausmädchen Maribel Montaner. Die Deutsche und die Ibizenkerin bildeten ein eingeschworenes Team. Sie lebten auf dem Anwesen und waren über jeden Verdacht erhaben, erklärte Anaïs und starrte Jacques danach lange an, während der eine Anstrengung unternahm, seinen Gesichtsausdruck von allem Anschein von Skepsis zu befreien. Es gelang ihm nicht vollständig. „Haben die beiden denn kein Privatleben?“, fragte er.
Anaïs lächelte, hob beide Zeigefinger und tippte sie zusammen. „Susanna ist das Privatleben von Maribel und Maribel ist das Privatleben von Susanna.“
„Wie praktisch“, meinte Jacques.
Dann arbeiteten in oder für Can Raoul ein gewisser Marcos Mercadal, Gärtner und Männchen für alles, der Hilfsgärtner Arnau Vives und ein Informatiker namens Raimundo Puigserver, der für die „Intelligenztechnik des Hauses“ zuständig war, sodass Mia und die Französin mit ihrem Handy alle elektronisch vernetzten Anlagen steuern konnten. Für diesen technischen Part interessierte sich am Ende jedoch nur die Französin, weshalb ihr iPhone so etwas wie den Kommandostab des Anwesens darstellte.
„Die Männer“, erklärte Bonnay in Bezug auf die erwähnten männlichen Mitarbeiter, „leben nicht in Can Raoul, sondern kommen nur zum Arbeiten her. Marcos und Arnau regelmäßig. Raimundo kann das Meiste von außen erledigen.“
„Wir haben sie alle überprüft, und zwar gründlich“, merkte Alcásser an. „Nicht der Schatten einer kriminellen Handlung im Lebenslauf.“
Es war in diesem Augenblick, da ein massiv gebauter Mann mit Elite-Soldaten-Kinn und Zwei-Millimeter-Haarschnitt den Wintergarten betrat, der Runde kurz zunickte, einen prüfenden Blick in jeden Winkel des Raumes warf und sich wieder verabschiedete.
Fragend zeigte Jacques mit dem Daumen auf den Ausgang.
„Das war Boris“, erklärte Mia. „Mein Babysitter.“
„Momentan sind zwei anwesend: Boris Gregorian, den wir gerade bewundern durften, und Vincent Lennox.“ Anaïs warf ihre Haare zurück und strich mit ihren Händen darüber. „Vincent ist der Chef der permanenten Leibwächter. Das Team umfasst insgesamt acht Leute. Boris und Vincent sind ständig hier, außer wenn sie Urlaub haben. Die anderen werden für Urlaubsvertretung, für Ausflüge und Reisen oder punktuell zur Verstärkung herangezogen. Meistens halten sie sich in Sant Antoni bereit, das sind zwanzig Autominuten. In der Woche nach dem Leichenfund war für einige Tage das ganze Team hier, aus offensichtlichen Gründen.“
„Verstehe“, sagte Jacques. „Aber die haben nichts mit der Sicherheitsfirma zu tun, die den Eingang und den Zaun bewacht, korrekt?“
„Nein“, schaltete sich Alcásser ein. „Wir trennen die Sicherheit in zwei Aufgabenbereiche. Unsere Firma überwacht das Anwesen, die Leibwächter beschützen Fräulein Shortcut.“
„Und die Koordination ...?“
„Funktioniert mit absoluter Perfektion.“
„Dann“, sagte Jacques mit ernster Miene, „will ich auf ein Thema zu sprechen kommen, das mir seit Beginn des Abends auf der Leber liegt.“
Stille legte sich über die Runde. Anaïs lehnte sich mit einem wissenden Lächeln zurück, ihre Miene bedeutete so viel wie: Ich weiß, was jetzt kommt. Mia und Alcásser starrten Jacques an. Die Rockstar-Tochter faltete die Hände, lehnte sich vor. „Wir werden uns bestimmt einig.“
Jacques räusperte sich und ließ einige Minuten verstreichen. „Mia ... darf ich Sie Mia nennen ...?“
„Ich bitte Sie.“
„Mia, wir müssen uns einig werden, sonst geht das schief, und zwar entsetzlich.“
Mia nickte beflissen.
„Ich muss einen Verdacht äußern.“
Alcásser schreckte auf. „Finden Sie das nicht ein wenig voreilig?“
Mia machte große Augen. „Einen Verdacht?“
Anaïs‘ Lächeln fror ein.
„Einen ernsten Verdacht“, fuhr Jacques fort. „Ich muss das loswerden, bevor der Abend zu Ende geht.“
„Na, dann machen Sie mal“, raunte Alcásser und grinste verstört.
„Dieser Dünger“, sagte Jacques.
Mia runzelte die Stirn „Der was?“
„Sie erwähnten den Pferdemist, den Sie höchstpersönlich mit dem Schubkarren zum Gemüsegarten transportiert haben.“
Mia hob den Zeigefinger. „Um ehrlich zu sein: nicht mit einem Schubkarren, sondern mit einem Handkarren. Der kippt nicht so leicht um.“
Jacques winkte ab. „Einerlei. Haben Sie mit dem Gärtner vorher darüber gesprochen?“
„Über den Handkarren?“
„Über den Dünger, Señorita.“
„Natürlich. Marcos sagte mir, Pferdemist sei der beste Dünger, den es gibt.“
Jacques nickte und zeigte auf sie. „Korrekt. Und eines Tages haben Sie dann losgelegt. Sie haben die Schubkarre, Verzeihung, den Handkarren geschnappt und dann haufenweise Pferdemist in den Garten gefahren.“
„Nicht nur das“, sagte Mia. „Ich habe auch umgegraben.“
„Ganz allein, nicht wahr? Ohne Marcos und ohne Arnau.“
„Richtig. Ich war fix und fertig, das können Sie mir glauben.“
„Und die beiden haben Sie über den grünen Klee gelobt.“
Mia verschränkte die Arme. „Das haben sie. Und ich fand das entzückend von ihnen. Was ist daran schlecht?“
Jacques winkte ab. „Die Kernfrage ist: Was war am Ende das Ergebnis, mal abgesehen vom Muskelkater, den Lobeshymnen und Ihrem persönlichen Glücksgefühl? Was ist denn seither dort gewachsen, wo Sie den Pferdemist abgeladen haben?“
„Das ist der traurige Teil der Geschichte“, gestand Mia. „Bis jetzt nichts als Unkraut, und selbst das nicht üppig.“
Jacques nahm wahr, dass Anaïs und Alcásser einen ungläubigen Blick austauschten, aber es war ihm egal. „Mia“, sagte er bedeutungsschwer. „Sie haben den Boden verbrannt.“
„Ich habe WAS?“
„Beim Gärtnern kommt es fast immer auf die Dosierung an. Außer bei Zeug wie Eisensubstrat, das können Sie einbringen, soviel Sie wollen, die Pflanze holt sich nur, soviel sie braucht. Aber Pferdemist!“ Jacques hob warnend beide Hände. „Vorsicht mit Pferdemist! Wenn Sie davon zu viel erwischen, braucht die Erde zwei Jahre, bis sie sich erholt hat. Es war zu viel des Guten. Deshalb produziert der Boden nicht.“
Schweigen. Für gut eine Minute hätte man einer Kakerlake beim Antennenputzen zuhören können.
Alcásser warf Jacques einen langen Blick zu. „Das ist ja wirklich ein interessanter Verdacht.“
„Und warum hat mir das keiner gesagt?“, fragte Mia.
„Das müssen Sie die fragen, die Ihnen das nicht gesagt haben“, erwiderte Jacques. „Aber ich nehme an, Sie waren so stolz auf Ihre Leistung, dass Ihnen niemand das Erfolgerlebnis wegnehmen wollte.“
„Damit hatten Sie ja kein Problem“, kam es eiskalt von Anaïs.
Jacques lächelte ihr zu. „Düngen ist mein Spezialgebiet.“
„Vielleicht sollten wir auf das eigentliche Thema des Abends zurückkommen“, schnaubte Alcásser. „Sie erinnern sich, Jacques? Wir hatten da noch so ein kleines Problem im Garten. Ein Problem namens Jonathan.“
Jacques nickte. „Einverstanden. Dann lasst mich mal ein paar Takte allein mit Doña Mia.“
Anaïs und Alcásser schienen nicht zu verstehen.
„Bitte“, setzte Jacques hinzu. „Ich bin schüchtern, bestimmte Dinge bespreche ich ungern vor Publikum.“
Mia nickte den beiden zu, und bald saßen die Rockstar-Tochter und der Alt-Hippie allein und schwiegen einander an.
„Ich habe gehört, das sei Ihre Idee gewesen“, fing Jacques an. „Einen Knallkopf wie mich auf diesen Mordfall anzusetzen.“
Mia nickte.
„Und warum?“
„Marcos, der Gärtner, hat mir etwas von einem alten Schweizer erzählt, der seinem Freund aus einer misslichen Lage geholfen habe, als die Polizei nicht weiterwusste.“
„Alter Schweizer“, wiederholte Jacques. „Das ist ja charmant.“
Mia zuckte die Achseln und lächelte. „Tut mir leid, hat er so gesagt. Enrique – das war wohl der Name.“
Enrique Inda. Der Festlandspanier hatte in der Tat schon mit eineinhalb Beinen in der Gefängniszelle gestanden. Jacques staunte, dass sich der Fall bis zu Mia Shortcut herumgesprochen hatte. „Und Sie wissen auch, was der Schlüssel zum Fall Enrique Inda war?“
Mia schüttelte den Kopf. „Die Details sind mir unbekannt. Ich kenne nur das Resultat. Und ich habe Erkundigungen eingezogen und weiß um Ihren Ruf.“
„Dann haben Sie bestimmt auch herausgefunden, dass manche Leute ungeachtet der Resultate nicht gut auf mich zu sprechen sind.“
„Das ist mir in der Tat zu Ohren gekommen. Es hat wohl mit Ihrem gewöhnungsbedürftigen Auftreten zu tun.“
„Auch. Aber in erster Linie hat es damit zu tun, dass es für mich keine Tabus gibt. Keine Sprechverbote, und schon gar keine Denkverbote. Ich muss auch Ihren engsten Zirkel in den Kreis der Verdächtigen aufnehmen und will dafür keine Vorwürfe ernten, jedenfalls nicht von Ihnen. Unabhängig davon, dass Sie mich bezahlen.“
„Einverstanden.“
„Meine Methoden sind nicht immer sehr konventionell.“
Mia nickte. „Genau das macht mir Hoffnung. Die Ermittlungen der Polizei und auch die von Alcásser haben sich ja festgefahren, mit dem Ergebnis, dass wir alle unter Verdacht stehen, einen Mordkomplott ausgeheckt zu haben, oder einen Mörder zu schützen.“
„Tja.“
„Deshalb habe ich gebeten, Sie einzubinden.“
„Das ehrt mich. Dann will ich mal ...“, er legte die aufgestützten Hände zusammen, „... die finanzielle Seite ansprechen.“
Im Kopf überschlug Jacques die Kosten für Selinas Klassenreise, für eine ordentliche Solaranlage und vielleicht noch einige Dinge, um die Timna und Tanit ihn gebeten hatten, und rechnete des Weiteren die Möglichkeit einer Zahnbehandlung ein. Oder zwei Zahnbehandlungen, man wusste nie. Das ergab eine ziemlich astronomische Summe. Die teilte er durch die Zahl der Tage, die er meinte, für diesen Fall zu benötigen, und gelangte somit zu einem Tagessatz. Er nannte diesen und blickte betreten auf den Tisch. Die Summe war unverschämt, aber an diesem Punkt übernahm seine Alles-oder-nichts-Mentalität die Kontrolle. Gemessen an der Reaktion der potenziellen Kundin – auch sie blickte betreten und war momentan sprachlos – war das Ergebnis absehbar.
Er würde Tanit erklären müssen, warum es nun doch nicht klappte mit der Reise.
„Ibiza-Jacques“, sagte Mia. „Ich bin sauer auf Sie.“
„Ah?“
„Mit dieser Dünger-Geschichte haben Sie mich in aller Öffentlichkeit zur Idiotin gemacht.“
„Das tut mir leid, aber es musste einfach aus mir raus.“
„Ich hoffe sehr, dass Sie Ihr Geld wert sind.“
Jacques blickte auf und blinzelte. „Ein Vorschuss wäre geil.“
„Drei Tagessätze. Geil genug? Hinterlassen Sie Ihre Kontonummer.“
„Die muss ich durchtelefonieren.“
„Na, dann telefonieren Sie sie eben durch.“
„Mache ich.“
Mia wirkte nun kühl. Es war der Moment, da ihr klar wurde, dass Jacques ihr nicht helfen wollte, weil er sie so liebhatte. Diese vorgeschützten Kuschelemotionen wussten die Dienstleister der oberen Zehntausend ansonsten hervorragend zu vermitteln, trotz horrender Honorare. Nicht Ibiza-Jacques. Bei ihm wurde klar, dass sie einfach eine Kundin war. Eine reiche Kundin. Selbst für einen erklärten Antimaterialisten wie Jacques. Diese unbehagliche Klarheit war der Preis der Authentizität.
„Wann fangen Sie an?“
Jacques räusperte sich. „Bin schon dabei. Ich habe nicht nur Dünger im Hirn.“
Auf der Rückfahrt schüttelte Alcásser immer wieder den Kopf und murmelte „Dios mío“. Sie waren schon beinahe angekommen, als Jacques sagte: „Ich schulde Ihnen noch eine wichtige Information.“
„Ach ja? Noch so ein Dünger-Mysterium, das Sie gelöst haben?“
„Etwas Ähnliches. Oder interessiert Sie gar nicht, wann Ecstasy erfunden wurde?“
Alcásser hieb aufs Armaturenbrett. „Hombre! Warum sollte mich das interessieren?“
„Weil die Antworten auf viele Fragen der Gegenwart in der Vergangenheit liegen. Das müssten Sie als Profi-Detektiv doch wissen!“
„In der jüngeren Vergangenheit, Jacques, das ja.“
„1913, Schlaumeier.“
„1913?“
„Die hochmoderne Partydroge Ecstasy wurde 1913 erfunden.“
„Na so was aber auch. Ich bin erstaunt. Wirklich. Nur: Was lernen wir daraus im Hinblick auf den Fall des toten Jonathan Waldrum?
„Daraus lernen wir, dass die Antworten auf Fragen des Heute manchmal weit im Gestern liegen.“
„Das ist Ihre Einfahrt, korrekt?“
„Sie können mich hier rauslassen“, sagte Jacques. „Ich möchte nicht, dass meine schmutzige Finca Ihren schönen Geländewagen verdreckt.“
„Jacques“, rief Alcásser durchs runtersummende Fenster, als der Schweizer bereits durch die Dunkelheit in Richtung seines Hauses marschierte. „Sie können mich mal!“
Jacques antwortete mit einem ausgestreckten Mittelfinger. Aber den sah man wohl in der Dunkelheit nicht.