Читать книгу Ibiza-Jacques und der Tote im Kräutergarten - Thomas Fitzner - Страница 6
1. Kapitel
Оглавление„Amb bon temps, tothom és bon mariner“
(Bei gutem Wetter ist jeder ein guter Seemann)
Balearisches Sprichwort
Es war einer dieser Tage, an dem sogar die Leuchtreklamen farblos schienen. Ein grauer Regen reinigte die Luft über Zürich und spülte dabei wie eine übereifrige Putzfrau auch das in die Abflüsse, was den Bewohnern nützlich war. Zum Beispiel Lebensfreude. Das Grau schien sich bis ins Innere des Café Kullmann fortzupflanzen, wo der Beamte Jakob Reinhauser vor einer Tasse Kaffee saß und sich fragte, ob er denn recht gehört hatte, und wenn ja, ob er das soeben Gehörte auch richtig verstand. Ihm gegenüber saß Urs Wallig, der vierschrötige Bundesrat aus dem Aargau, und beobachtete aufmerksam das Mienenspiel des jungen Steuerfahnders. Dieser wurde von Kennern der Szene seit einiger Zeit nur noch „der brillante, junge Steuerfahnder“ genannt.
Aber das half in diesem Augenblick wenig. Er, der Brillante, konzentrierte sich in diesem Moment vor allem darauf, keine Reaktion zu zeigen. Was ihn einige Mühe kostete.
Im Hintergrund seiner Gedanken fragte sich der Steuerbeamte, ob Wallig ihm tatsächlich zu verstehen gegeben hatte, er möge die Umsatzsteuerprüfung Braun lieber zu den Akten legen. Und hatte Wallig wirklich gemeint, dass von der Befolgung dieses Ratschlags möglicherweise die berufliche Zukunft des „brillanten, jungen Steuerfahnders“ abhing?
„Wir haben in der ESTV noch andere Jobs, für die Ihr Profil perfekt wäre“, sagte Wallig nun. „Zum Beispiel in der Lehrmittelabteilung.“
Reinhauser ergriff seinen Kaffeelöffel und rührte um, rührte um, rührte um, eine Ewigkeit lang. Draußen rauschte eine Straßenbahn wie ein Schiff durch den Regen. Der „brillante, junge Steuerfahnder“ rief sich in Erinnerung, dass Wallig keine realen und direkten Befugnisse in der ESTV, der Eidgenössischen Steuerverwaltung, hatte, und dass der bloße Versuch, auf die Sache Braun Einfluss nehmen zu wollen, einen Skandal auslösen konnte. Wenn er es recht bedachte, war Wallig in einer Harakiri-Mission unterwegs.
Aber irgendetwas an dem Bild, das sich Reinhauser bot, stimmte nicht. Wallig war als vorsichtig, als konservativ bekannt, als einer, der um sein Image besorgt war. Doch besorgt schien der Bundesrat in diesem Augenblick nicht im Geringsten. Jakob Reinhauser hatte es trotz seiner Jugend schon oft mit Menschen zu tun gehabt, die ihm gegenüber ein hohes Risiko eingegangen waren. Gestandene Unternehmer, abgebrühte Geschäftsleute, gerissene Hasardeure. Und der Steuerfahnder von der ASU, der gefürchteten, aber auch respektierten Abteilung für Strafsachen und Untersuchungen der Eidgenössischen Steuerverwaltung, meinte mittlerweile an mikroskopischen Signalen in der Körpersprache des anderen zu erkennen, wenn die Sicherheit eine vorgegaukelte war.
Wallig sandte keine derartigen Signale aus. Er saß da wie ein Fels und schien bester Laune.
„Sie können natürlich weitermachen“, sagte der Bundesrat und spreizte die Hände beidseits einer Tasse heißer Ovomaltine und eines Tellers voller Zimt-Offleten. „Damit wir uns richtig verstehen: Ich fordere Sie nicht auf, die Sache Braun zu den Akten zu legen.“
Aha, dachte Reinhauser.
„Ich biete nur als guter Schweizer Bürger meine Hilfe an. Es wäre eine Schande, wenn die Ressourcen der Eidgenössischen Steuerverwaltung auf einen Fall verschwendet würden, der sich am Ende in Luft auflöst. Ein Ausgang, der vorhersehbar ist.“ Die gespreizten Hände vollführten eine explosionsartige Geste. Dann senkte Wallig den Kopf und auch die Stimme. „Das ist eine vertrauliche Information. Jedes Wort ein Korn Gold. Ich will keine Gegenleistung. Ich will nur das Beste. Für unser Land. Für unsere Verwaltung. Und natürlich auch für Sie.“
Reinhauser zog instinktiv seine Linke zurück, weil er den Eindruck gewonnen hatte, Wallig wolle sie tätscheln. Der Bundesrat durchschaute den jungen Beamten und lächelte. Da war ein Hauch von Geringschätzigkeit in diesem Lächeln. Es sagte: Du hast keine Chance, Bürschchen.
Etwas in Reinhauser revoltierte. Was sollte das eigentlich? Sie waren in der Schweiz!
Mit trockener Kehle fragte er dann: „Warum haben Sie mir das über die Lehrmittel-Abteilung erzählt?“
„Guter Mann!“, sagte Wallig, und das Doppelkinn des gut genährten Politikers akzentuierte sein Kopfschütteln in einer Art, die Reinhauser unter anderen Bedingungen als komisch empfunden hätte. „Guter Mann! Wo landen Steuerfahnder, die zu oft danebenhauen? Das entscheide nicht ich, da wird Ihr Vorgesetzter seine Schlussfolgerungen ziehen. Und überhaupt: Was ist so schlecht an der Lehrmittel-Abteilung!? Kein Glanz und keine Glorie, das stimmt wohl, aber die Leute dort sind doch auch glücklich. Weniger Druck, weniger Stress, alles hat seine Vor- und Nachteile.“ Walligs Augenbrauen gingen in die Höhe. „Alles kommt darauf an, wofür man geboren ist. Diesen Jagdinstinkt, den Sie ja zweifelsohne besitzen, können Sie auch in der Freizeit ausleben. Oder wie sehen Sie das?“
„Ähnlich“, erwiderte Reinhauser. Zu rasch, wie er selbst empfand.
„Sehen Sie meine Information als Geschenk.“ Wallig begann seine Offleten zu verzehren, ein Zeichen, dass er das Gespräch für beendet ansah. Ab jetzt war alles, was sie sagten, nur noch Konversation. „Ich habe Einblick. Und Sie haben Glück. Echtes Glück. Nutzen Sie es!“
Der Kaffee wurde kalt. Reinhauser saß noch gut eine halbe Stunde, als ihm gegenüber der Stuhl schon leer war.
Wofür war er geboren? Eine gute Frage. Eine sehr gute Frage. Es war der Moment, da er beschloss, genau darüber ernsthaft nachzudenken. Sein Blick schweifte nach draußen. Regenschirme. Rinnsale. Hastende Menschen.
Jakob Reinhauser gähnte in die Morgenstille hinein und wartete darauf, dass Landvogt Gessler endlich krähte. Landvogt Gessler – so hieß der Hahn in Jakobs Gehege, ein Tyrann, der nicht nur den Hühnern, sondern allen Bewohnern auf den Wecker ging auf dieser Finca, deren Schild an der Einfahrt „Can Jacques“ verkündete. Geschah ihm recht, dem blöden Vogel, dass er nun den Namen des von jedem aufrechten Eidgenossen gehassten Landvogtes trug, der Wilhelm Tell dazu gezwungen hatte, seinem eigenen Sohn einen Apfel vom Kopf zu schießen.
Jakob sog die Luft ein. Es war der 1. Februar und im ganzen Haus roch es nach Feuchtigkeit. Niemand hatte ihn damals, in der Schweiz, davor gewarnt, dass es in einem Haus auf einer Mittelmeerinsel so feucht sein konnte. Dass es sogar regnete, manchmal tagelang. Ja mehr noch: Im Winterhalbjahr konnte es auf der „Sonneninsel Ibiza“ ungemütlich kalt werden, zumindest in der Nacht. Temperaturen zwar, über die ein Schweizer nur müde lächeln konnte, wenn man alleine das Thermometer betrachtete, selten weniger als neun oder zehn Grad. Aber die Feuchte war es, die diese Kälte in den Körper kriechen und nach rheumatischen oder mentalen Schwachpunkten Ausschau halten ließ.
Dabei hoffte Jakob eigentlich auf Regen, der Garten brauchte ihn dringend, und die Zisterne sowieso. Spaniens Problem, hatte er einmal gelesen, war der unregelmäßige Regen und dass sich das Land auf diesen Umstand nicht ausreichend eingestellt hatte. Die Verwaltung des kostbaren Rohstoffes Wasser löste es lieber mit Entsalzungsanlagen und dem Anzapfen von Grundwasserreserven. Die gigantischen Zisternen der alten Stadthäuser, in denen früher das Regenwasser gesammelt worden war, dienten heute als Tiefgaragen. Dabei lag genau darin die Lösung: Speichern für die langen Wochen ohne Niederschläge.
Angestrengt lauschte Jakob durch das stets offene winzige Fenster seines Schlafzimmers in die Nacht hinein und vernahm so etwas wie ein Getröpfel. War das der Morgentau, der von den Blättern perlte, oder endlich der ersehnte Regen?
Wenn es denn Niederschlag war, dann hoffentlich mehr als ein paar Tropfen, denn Timna und Selina würden ihn schon beim geringsten Anschein von Regen aus dem Bett zerren und zwingen, sie zur Haltestelle des Schulbusses zu fahren. Wenn das sein musste, dann wenigstens im Tausch gegen einen schönen Niederschlag.
Die beiden älteren Töchter besuchten das „Instituto“, die weiterführende Schule. Der Unterricht begann früh und Jacques würde Tanit wieder allein im Haus lassen müssen, um die beiden Señoritas zur Haltestelle zu fahren. Ein Problem. Normalerweise schlief die Kleine wie ein Felsbrocken, aber wehe, Papa entfernte sich fünfzehn Minuten vom Haus. Tanit musste eine Art Alarmanlage eingebaut haben, die losschrillte, sobald sie in Can Jacques alleine war. Unheimlich, dieser sechste Sinn von Kindern.
Es wäre nicht nur angenehm, sondern auch praktisch, jemanden zu haben, mit dem man das gemeinsam schaukeln könnte. Für einen Moment schlich sich der Name Asu in seine Gedanken. Doch weil Jakob wusste, was dieser Name mit seiner Stimmung anrichten würde, drückte er ihn weg. Für die Erinnerung an Asu, Taufnahme Asunción, Mutter von Selina, Timna und Tanit, war der monatliche Besuch an jenem Strand gedacht, an dem er seinerzeit die Asche ins Meer gestreut hatte.
Ah – es ging los: Landvogt Gessler teilte der Familie mit, dass seiner Meinung nach in diesem Moment der Morgen anbrach, obwohl es noch stockfinster war. Der Hahn würde sich etwa zehn Minuten lang die Seele aus dem Leib krähen und dann konnte Jakob weiterschlafen.
Wie so oft, wenn er gerade rechtzeitig für die Morgen-Performance des Landvogts aufwachte, erinnerte er sich an jenen Morgen im Café Kullmann in Zürich, an dem er darüber nachzudenken begann, wo tatsächlich sein Platz gewesen war. Und er entsann sich, wie damals die Gedanken zu seinem Bruder Orell gewandert waren, der ihm so viel über Ibiza erzählt hatte, und danach zum alten VW-Bus des Bruders, der im Garten hinter dem Elternhaus gestanden hatte und eigentlich nur hätte überholt werden müssen. Eine Gedankenkette, die ihrerseits zu einer Kette von Aktionen und einer Verkettung von Ereignissen geführt und sein Leben auf den Kopf gestellt hatte.
Jakob lag also wieder wach, wie jeden Morgen. Und für kurze Zeit war er wieder ein braver Schweizer Bürger, ein Beamter, der nachzählte, wie viel „Stutz“ er noch hatte, um den Lebensunterhalt der Familie zu bestreiten, welche Arbeiten heute wieder auf seiner Finca anstanden, welche Probleme zu lösen waren und wie er es anstellen wollte, Selinas Klassenreise zu bezahlen, und ob er das überhaupt wollte. Er durchlebte seinen „Schweizer Moment“. Genau davor war er damals geflohen. Vor dem Druck. Dem Zwang. Den täglich selben Sorgen ums Materielle. Dem Zählen von Geld, das man hatte oder das eben fehlte.
Aber dieser Moment dauerte nur, solange Landvogt Gessler seine dissonante Morgensinfonie intonierte. Dann schlummerte Jakob Reinhauser ein. Wenn er später erwachte, um den Tag in Angriff zu nehmen, war er Ibiza-Jacques. Und dem war vollkommen egal, dass ihm nur noch vierzehn Tage blieben, um die zweihundert Euro für Selinas Klassenreise aufzutreiben. Selina würde es verstehen, oder zumindest keinen großen Aufstand machen, weil sie es gewohnt war. Die älteste Tochter von Ibiza-Jacques war stramm antimaterialistisch erzogen, und sie tat zumindest so, als sei diese Erziehung erfolgreich gewesen.
Nur – irgendwie wurde er für das alles doch zur Kasse gebeten. Zum Beispiel, wenn Selinas Hand ihn wachrüttelte und die Sechzehnjährige auf Spanisch sagte: „Papa, steh auf, es regnet, du musst uns zur Haltestelle fahren!“
Jakob, der nun Jacques war, fluchte leise und dachte: Seine künftige bessere Hälfte müsste Frühaufsteherin sein, um diesen Teil des Familienprogramms zu übernehmen; das stand im Anforderungsprofil ganz oben.
„Es gibt da eine Erfindung“, sagte er, während er sich eine zerschlissene Arbeitshose anzog und nach Hemd und Jacke suchte. „Benannt nach einem genialen Schweizer Tüftler namens Julius Regenschirm.“
Selina blickte resignierend Richtung Decke, während Timna noch die Reste ihres Müslis löffelte, das Jacques am Abend vorher zubereitet hatte. Ihr Gesichtsausdruck sagte: Immer derselbe blöde Witz. „Ja, Papa. Schon gut, Papa.“
„Nein, ehrlich, Mädchen, muss ich jetzt Benzin verbrennen, nur damit ihr keinen Regentropfen abkriegt?“
Selina, die das schwarze Haar und die braunen Augen ihrer Mutter geerbt hatte, sah ihn streng an und holte ihr Killer-Argument aus dem Köcher: „DU hast diesen Ort zum Leben ausgesucht, nicht wir. Das Haus musste ja unbedingt drei Kilometer von der Straße entfernt sein. Dann nimm jetzt die Konsequenzen auf dich. Komm, wir sind spät dran, wir versäumen den Bus!“
Es waren natürlich keine drei Kilometer, aber in einem hatte Selina recht: Das verfallene Haus mit dem weitläufigen, damals vollkommen verwilderten Gelände, hatte Asu und ihm nicht nur deshalb so gut gefallen, weil es für wenig Geld zu haben gewesen war, sondern auch, weil es „weit weg von der Zivilisation“ lag – zwei Umstände, die natürlich miteinander verknüpft waren. In diesem entlegenen Winkel, meinten sie damals, konnten sie eine eigene Welt nach ökologischen Grundsätzen schaffen, ein kleines Utopia jenseits der Hektik des modernen Lebens.
Missmutig stieg Jacques in seinen VW-Bus, in dem Selina und Timna bereits auf den Vordersitzen Platz genommen hatten. Er dachte kurz an sein Projekt, den Motor auf Biogas umzustellen und das Vehikel quasi mit dem Kot von Landvogt Gessler und dessen Harem zu betreiben. Oder, als Alternative, einen Elektromotor einzubauen und einige Solarpanelen als private Tankstelle in das Weideland neben dem Haus zu pflanzen. Damit könnte er sein ökologisches Gewissen beruhigen. Aber für dieses Projekt fehlte ihm, wie für vieles andere, „die Stutz“. Vielleicht war es wieder einmal so weit und er musste nach Arbeit des alten Musters Ausschau halten. Einem Nachbarn die Steuererklärung machen. Oder herausfinden, wer dem guten Mann regelmäßig die Mandelbäume leerpflückte.
Und hoffen, dass es niemand aus seinem Bekanntenkreis war ...
So begann also heute, achtzehn Jahre nach ihrer Gründung, ein Tag in jener besseren Welt namens Can Jacques, deren Motto „giftfrei, stressfrei und gewaltfrei“ lautete. Mit dem Verbrennen von Benzin, damit zwei junge Damen nicht durch den Regen zum Schulbus marschieren mussten, mit Sorgen wegen Geld, das ihm fehlte, und mit Mordgedanken gegen Landvogt Gessler.
Dafür würden heute alle bezahlen, die mit ihm zu tun bekamen und nicht Selina, Timna oder Tanit hießen.