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4. Kapitel

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If you’re going to San Francisco,

be sure to wear a flower in your hair.

(Wenn du nach San Francisco gehst, dann steck dir unbedingt eine Blume ins Haar)

Scott McKenzie in “San Francisco”

Eine granatrote mallorquinische Folklore-Pluderhose, Souvenir eines Besuchs auf der Nachbarinsel vor eineinhalb Jahrzehnten. Eine rosarote Socke links, eine hellblaue rechts. Graue Leder-Stiefeletten mit aufgeklebten Mini-Mandalas, die sich zur Hälfte schon wieder abgeschält hatten. Ein gelbes Hemd mit einem roten Blumenmuster. Darüber ein braunes Fransengilet. Des Weiteren hatte Jacques einen giftgrünen Schal ausgewählt sowie einen wirklich schicken Steampunk-Zylinder, das Geschenk seiner Töchter zum 53. Geburtstag. Die Frage war nun, was er darüber anlegen würde.

Jacques legte Wert auf Selbstverwirklichung durch Kleidung, denn der Herdendrang in der Mode war seinem Verständnis nach ein erster und entscheidender Schritt der Unterwerfung des wahren Selbst gegenüber dem Diktat der Konsumgesellschaft. Wenn er gelegentlich zu hören bekam, dass seine Kleiderkombinationen als aggressiver Akt gegen das ästhetische Empfinden aufgefasst wurden, fühlte er sich in der Meinung bestärkt, auf dem richtigen Weg zu sein.

Bedächtig legte er eine Lederjacke an. Und nahm einen Schatten wahr, der nicht hierher gehörte. Jacques wirbelte herum.

Es war Selina.

Sie stand neben dem Kleiderschrank und legte den Kopf schräg, wie sie es immer tat, wenn ihr eine Frage auf der Zunge lag, von der sie genau wusste, dass sie ihrem Vater unangenehm war. Oder wenn sie ihn „erwischt“ hatte. Wie jetzt, da er mit einer abgewetzten Lederjacke vor dem Spiegel stand und angestrengt hineinstarrte.

Mit einem Seufzer ließ Jacques die Arme fallen. „Irgendwann krieg ich einen Herzschlag“, sagte er. „Warum kannst du nicht wie ein normaler Mensch ins Zimmer kommen und musst dich immer anschleichen wie ein Gespenst? Wie lange bis du denn schon hier?“

„Gerade erst gekommen.“ Selina verzog ihre Lippen kurz zu einem Lächeln, das so etwas wie ihr Gruß war.

„Ich glaube dir kein Wort.“ Er zog die Lederjacke aus und warf sie aufs Bett. Dort lagen zwei weitere Kleidungsstücke: eine mit alten Stickern übersäte, ausgefranste und an mehreren Stellen eingerissene Jeansjacke sowie eine Art Pullover mit Reißverschluss, dunkelblau und auf bourgeoise Weise makellos, ja sogar sauber, aber so retro, dass es nach derzeitigem Stand der Mode wehtat.

„Das muss ja ein wichtiger Termin sein“, rückte Selina mit ihrer Frage heraus.

Jacques zuckte die Achseln. „Mehr oder weniger.“

„Komm, Papi. Wenn du eine halbe Stunde damit verbringst, dein Kostüm zusammenzustellen ...“

Jacques stemmte die Fäuste in die Hüften. „Du stehst seit einer halben Stunde hier?“

Tranqui, Papi. Ich bin nur ein paar Mal vorbeigekommen, hab mich aber nicht reingetraut, weil du so konzentriert über dein Kostüm nachgedacht hast.“

„Sag nicht immer Kostüm, ich trete ja nicht im Theater auf. Was wolltest du?“

Selina zögerte kurz, dann sagte sie: „Ich muss nur wissen, ob die Klassenreise für mich klappt oder nicht. Im Insti wollen sie Geld sehen. Macht ja nichts, wenn ich zu Hause bleibe – ich muss nur Bescheid geben.“

„Ah“, erwiderte Jacques. „Wohin geht die Reise noch mal?“

„Hat das irgendeinen Einfluss auf deine Antwort?“

Er lachte. „Nein.“

„Wir fliegen nach La Coruña. Also?“

„Ich wusste doch, irgendwas im Norden. Gib mir noch einen Tag, dann kann ich es dir sagen.“

Selina zeigte auf die drei Kleidungsstücke auf dem Bett. „Dein Termin?“

Jacques fixierte seine Tochter. „Du machst mich nervös.“

Doch das Mädchen ließ nicht locker. „Überlegst du, welche von den dreien die schäbigste ist? Da kann ich dir einen Tipp geben.“

„Ach ja? Und der wäre?“

„Kannst dir die Mühe sparen, sind alle gleich grauenhaft.“

„Das war ausgesprochen hilfreich. Noch etwas?“

„Isabel ist noch nicht hier.“

Isabel war die „Babysitterin“. Sie war nett, hilfsbereit und genoss sein absolutes Vertrauen. Jacques hätte ihr schon nach der ersten Begegnung direkt den Schlüssel zu seinem Haus gegeben, ohne recht zu wissen, warum. Ein mächtiges Bauchgefühl, von Anfang an. Pünktlichkeit war allerdings nicht ihre Stärke. Dafür schaute sie auch nicht auf die Uhr, wenn es um das Ende ihrer Arbeitszeit ging wie manche andere, wenige kohärente Zeitgenossen.

„Wird schon kommen. Sollte ich nicht mehr da sein, kannst du ihr sagen, dass ich sie morgen bezahlen werde – in der Bar.“

In diesem Moment hörten sie ein Fahrzeug vor dem Haus parken.

„Das ist nicht Isabel“, rief Selina aus, während sie aus dem Zimmer stürmte. „Der Wagen klingt viel zu teuer!“

Jacques blieb im Zimmer und betrachtete die drei Kleidungsstücke. Die Lederjacke wäre lächerlich, entschied er. Damit würde er wirken, als wollte er wie ein alter Detektiv aussehen. Mit der Jeansjacke hingegen würde er den Hippie auf eine Weise herauskehren, die genauso plump rüberkam. Es reichte ja, was er darunter und darüber trug. Blieb nur der dunkelblaue Pullover mit dem Reißverschluss, das einzige normale Kleidungsstück. Damit wiederum würde er einen innerlichen Kniefall vor einer möglichen Kundin vollführen, was sich nicht mit seiner rebellischen Grundmentalität vertrug. Andererseits: Farblich passte der Pullover so schlecht zur granatroten Pluderhose, dass er vielleicht doch als rebellisch durchging.

Um mehrere Ecken hörte er die Stimme Alcássers. Er wechselte einige Worte mit Selina. Unglaublich, dachte Jacques, wie selbstbewusst und reif die Sechzehnjährige schon war. Er durchlebte einen dieser Stolzer-Vater-Momente, allerdings gefolgt von einem Stich im Magen. Das soeben geführte Gespräch ging ihm nahe. Selinas Hemmungen, die Klassenreise anzusprechen. Diese Resignation jedes Mal, wenn es um „Stutz“ ging. Um „pasta“, wie die Spanier sagten, oder um „doblers“, wie es die Ibizenker zum Geld sagten.

Jacques streifte den Pullover über und trat auf den mit Bruchsteinen ausgelegten Platz vor dem Haus, wo ein glänzender schwarzer Mercedes-Geländewagen stand. An diesem lehnte Selina und plauderte durch das geöffnete Fahrerfenster mit Alcásser. Die beiden jüngeren Töchter standen unter dem Vordach und starrten den Wagen an, als wäre er ein Raumschiff. Besuch aus einer anderen Welt, der Welt der kerzengeraden Karrieren, der vierzehn Monatsgehälter, der Privatversicherungen, der wöchentlichen Autoreinigung.

„Vorsicht mit meiner Tochter, die holt alles aus Ihnen raus!“, rief Jacques dem Detektiv zu und gab Timna und Tanit einen Kuss. „Seid lieb zu Isabel!“

„Ich habe dichtgehalten“, sagte Alcásser, womit er auf Jacques‘ Bitte zu Diskretion anspielte, und verabschiedete sich kühl von Selina.

Die kickte einen Stein und erwiderte: „Ihr könnt mich nicht täuschen. Wenn du so lange darüber nachdenkst, wie scheußlich du dich anziehen willst, bedeutet das, du wirst jemand sehr Wichtiges sehen. Habe ich recht?“

„Du hast immer recht“, sagte Jacques. „Küsschen. Seid brav, bis Isabel hier ist. Und nachher natürlich auch! Bis zehn seid ihr alle im Bett, ist das klar?“

„Klar, du geheimnisvoller, wichtiger Mann!“

Jacques knuffte seine Älteste. Dann stieg er in die Geländelimousine ein und hatte das Gefühl, dass in diesem Moment eine Geschichte begann, über die er nur schwer die Kontrolle bewahren konnte.

Nach all den Jahren war der Instinkt des „brillanten jungen Steuerfahnders“ noch immer voll funktionsfähig. Auch diesmal sollte er nicht trügen.

Alcásser, gekleidet in grauen Nadelstreif, tat sein Bestes, um die Stimmung im Fahrzeug auf den Gefrierpunkt zu senken. Die ersten fünfzehn Minuten der Fahrt schwieg er, wie Jacques empfand, in aggressiver Weise, und Jacques antwortete darauf mit gelegentlichem Gehüstel, dem er einen ironischen Tonfall zu verleihen versuchte. Kein leichtes Unterfangen, denn wie soziologische Studien belegen, ist mehr als die Hälfte der Bevölkerung außerstande, Ironie zu verstehen. Zu dieser Hälfte gehörte wohl auch Alcásser.

Der Geländewagen brummte nobel über Landstraßen und gelegentlich durch ein Dorf oder einen Häuserhaufen. Plötzlich vollführte Alcásser eine Vollbremsung, weil ein Hund die Straße überquerte. Wohl um Jacques‘ Aufmerksamkeit von dieser Zurschaustellung einer menschlichen Regung abzulenken, fragte der Profidetektiv betont schroff: „Dossier gelesen?“

Jacques verzog sein Gesicht zu einem verlegenen Grinsen.

Alcásser seufzte. „Habe ich mir gedacht. Dann fasse ich mal zusammen, damit wir ein konstruktives Tischgespräch führen können.“

„Tun Sie das“, sagte Jacques, noch immer grinsend.

„Jonathan Waldrum“, rezitierte Alcásser. „Schwede, neunundzwanzig Jahre alt. Beruf: Erbe. Ecstasy im Körper, Blutergüsse am Körper und malträtierter Schädel, wahrscheinlich mit einem Stein. Dabei ist ihm offenbar ein Ohr abgerissen worden, das leider nicht gefunden werden konnte – wir schließen nicht aus, dass eine der Katzen des Hauses den Körperteil verspeist hat. Todesursache waren jedoch nicht die Kopfwunden. Der Gerichtsmediziner sagt, er sei vorher stranguliert worden. Todeszeitpunkt: Etwa fünf Uhr morgens. Die einzige Person, die zwischen fünf Uhr morgens und dem Auffinden der Leiche das Anwesen von außen betreten hat, ist ein Hilfsgärtner namens Arnau Vives. Aber der kam mit einem Moped und transportierte offensichtlich keinen Kadaver, das wäre den beiden Sicherheitsleuten am Eingang selbst im betrunkenen Zustand aufgefallen. Vives hat den Kadaver dann auch entdeckt. Was beim ersten Hinschauen bedeutet, dass Waldrum auf der Finca umgebracht worden sein muss. Das Problem: In der Nacht vom 31. Januar auf den 1. Februar waren in Can Raoul angeblich keine Gäste einquartiert. Das wiederum bedeutet, dass irgendjemand lügt oder Jonathan irgendwo versteckt war. Denn es scheint ausgeschlossen, dass jemand unkontrolliert auf das Gelände kommt. Die Sicherheit ist exzellent, das Gelände ist von einer Sperranlage umgeben. Am Tag nach dem Mord wurde das gesamte Anwesen durchkämmt, ohne jede Spur. Damit ergibt sich schon eine erste Frage.“

„Genau. Wissen Sie, wann Ecstasy erfunden wurde?“

Alcásser ließ ein Weilchen verstreichen, bevor er zurückfragte: „Ist das für unseren Fall von Belang?“

„Wahrscheinlich nicht, aber es ist interessant.“

„Wäre es nicht noch interessanter zu erfahren, ob Jonathan Waldrum mit irgendeinem der Bewohner von Can Raoul ein engeres Verhältnis pflegte?“

Jacques starrte geradeaus. Natürlich hatte er das Dossier gelesen, und darin stand, dass praktisch alle Bewohner von Can Raoul den Schweden kannten. In dem Bericht war sogar angedeutet, dass Mia Shortcut den Ermordeten besser gekannt hatte als sie in den ersten Befragungen gegenüber der Polizei hatte zugeben wollen. Von E-Mails mit explizitem Inhalt war die Rede. Das war einer der Gründe, warum die Lady nun mitsamt ihrer Entourage auf Ibiza festsaß.

Doch Jacques verspürte keine Lust, Alcásser mit einer Musterschüler-Nummer zu verblüffen. Er verspürte Lust, die Vorurteile des High-Society-Detektivs zu nähren. Er wollte Columbo spielen und auf diese Weise ein wenig Spaß haben, denn auf andere Weise schien das mit Alcásser aussichtslos.

Also sagte er: „Das ist beinahe beängstigend, wie methodisch Sie vorgehen. Irgendwann wird eine Krimiserie nach Ihnen benannt.“

„Hören Sie zu, Ibiza-Jacques. Ich will Sie nicht belehren, aber ein paar Hinweise muss ich loswerden. Wir sind heute Abend bei der Tochter eines der bekanntesten und reichsten Musiker der Welt eingeladen. Die Dame des Hauses in Person wird für uns kochen, sie hat darauf bestanden. Mia Shortcut ist sehr stolz auf ihre Kochkünste, und sie ist eine Liebhaberin des naturnahen Lebens, damit haben Sie schon mal ein Gesprächsthema. Und natürlich werden wir nach dem Essen über den Fall sprechen. Haben Sie das mitgekriegt, Jacques? Wir werden nicht bei grünem Salat und Bio-Käse über einen schwedischen Kadaver mit Blutergüssen konversieren. Und noch etwas.“ Alcásser schien unschlüssig, wie er sein Anliegen vortragen sollte. Dann gab er sich einen Ruck: „Ich weiß nicht, wie Sie zur Musik der Freakers stehen, aber ich würde empfehlen, dass wir dieses Thema ebenfalls komplett aussparen. Einverstanden?“

Jacques nickte. „Solange sie keine Platte von ihrem Papi auflegt, werde ich schweigen wie ein Schwede.“

„Sehr witzig.“ Alcásser drückte einen Knopf und ein Telefonsignal erklang. Der Detektiv führte mit einem José eine knappe Konversation darüber, ob „Augen in den Büschen“ waren.

„Augen in den Büschen?“, fragte Jacques.

„Journalisten“, erklärte Alcásser. „Die Polizei war diskret, aber irgendwann ist ein Heini vom Diario de Ibiza dahintergekommen, dass die im Polizeibericht über den Mordfall angegebene Postadresse des wahrscheinlichen Tatorts mit der von Can Raoul übereinstimmte. Ein paar Tage lang waren hier die Büsche voller Fotoreporter. Aber zum Glück sind das alles Freiberufler, und für die lohnt sich der Job nicht – die Finca ist so groß, dass man von nirgendwo das Haus fotografieren kann.“

„Außer vom Meer.“

„Richtig. Dafür muss man ein Boot mieten, und nachdem das Ganze einen Monat her ist, dürfte den Paparazzi wohl die Lust vergangen sein. Ich stelle mir das auch sehr unangenehm vor – im Winter ist das Meer unruhig, länger als zwei, drei Stunden hat das selbst in den ersten Tagen keiner ausgehalten. Und das alles für ein Foto von Mia Shortcuts Villa, auf dem im besten Fall der Hilfsgärtner zu sehen ist. Gelegentlich bezieht einer dieser Presse-Idioten in der Nähe der Einfahrt Stellung. Darum habe ich angerufen. Haben Sie Ihren Ausweis dabei?“

„Natürlich nicht.“

„Dachte ich mir.“

Jacques lachte. „Die lassen uns ohne Ausweis nicht rein? Wer sich dieses Sicherheitssystem ausgedacht hat, muss schön bekloppt gewesen sein.“

Es war eine Weile still im Wagen. Sie durchfuhren einen Kiefernwald. Am Ende einer geraden Strecke wurde das Tor zum Anwesen mit dem steinernen Wachhäuschen sichtbar.

Jacques fixierte Alcásser. „Lassen Sie mich Ihr expressives Mienenspiel interpretieren. Das war Ihr Büro! Sie haben das Sicherheitskonzept für Can Raoul entworfen!“

Der Detektiv schnitt eine Grimasse.

„Gottfried Stutz!“, rief Jacques aus. „Was bin ich für ein Chaibalöli! Noch nicht angekommen, und schon in den ersten Fettnapf gehüpft. Mit beiden Beinen. Das tut mir jetzt leid, mein Freund.“

„Klar.“ Alcásser bremste den Wagen vor dem Tor abrupt ab. „Einen Moment, ich muss die Personalienfrage klären.“

„Ich lasse mich sehr gerne abtasten“, rief Jacques ihm nach.

Alcásser stieg aus und rief zurück: „Daran zweifle ich keine Sekunde“. Dann wandte er sich an den Wachmann, der hinter dem Tor aus dem Häuschen getreten war. Die beiden machten zuerst Problem-Gesten, dann Lösungs-Gesten, dann ging das Tor auf und der Wachmann grüßte, wobei er Jacques einen langen, stechenden Sicherheitsblick zuwarf.

Alcásser setzte sich wieder ins Auto. „Geklärt.“

„Auch Leute von euch?“, fragte Jacques.

„Den Wachdienst haben wir ausgelagert“, erwiderte Alcásser.

Jacques hob die Augenbrauen und brummte: „Sehr verdächtig, mein lieber Watson.“

Alcásser schien ehrlich froh, dass die Fahrt vorbei war.

Ibiza-Jacques und der Tote im Kräutergarten

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