Читать книгу Ibiza-Jacques und der Tote im Kräutergarten - Thomas Fitzner - Страница 7
2. Kapitel
Оглавление„En martes, ni te cases ni te embarques.“
(Heirate nie und besteige nie ein Schiff an einem Dienstag)
Spanisches Sprichwort
Es war ein regnerischer Dienstag, und damit begann das Problem: Schnecken. Wann immer es über Nacht regnete oder die Feuchtigkeit der Februarnächte den Garten von Can Raoul mit Tau überzog, krochen sie aus ihren Verstecken. Einmal mehr wurde klar, dass diesen Blattsalatkillern nur mit schmutzigen Tricks beizukommen war. Es sei denn, man konnte es sich leisten, und dafür musste man über ein großzügiges Zeit- oder Geldbudget verfügen, zwei Anforderungen, die generell nur von Aussteigern (Zeit) oder Millionären (Geld) erfüllt wurden.
Wie jeden Morgen bestieg der Hilfsgärtner Arnau Vives vor Sonnenaufgang sein Moped und trat den Weg zur Luxusvilla der Rockstar-Tochter Mia Shortcut an, um rechtzeitig zur Schneckeninvasion einzutreffen und das nötige Massaker im umweltfreundlichen Stil vorzunehmen: per Hand.
Heute war er früher als gewohnt angekommen. Arnau liebte es, seine Arbeit in gemächlichem Tempo zu verrichten. Lieber fügte er vor und nach seinen vertraglich festgelegten sechs Stunden eine Viertelstunde an, oder auch eine halbe, als den strafenden Blick der Französin zu riskieren, die es irgendwie verstand, ihre Untergebenen anzubrüllen, ohne dabei laut zu werden. Mit Anaïs Bonnay war nicht zu spaßen. Arnau navigierte daher lieber auf der sicheren Seite. Fünfzehn zusätzliche Minuten, um sicherzustellen, dass die Französin keine Schnecke in den Salatbeeten oder zwischen den Kräutern fand.
Arnau gelangte zum Wachhäuschen, wo die beiden Diensthabenden kurz aufblickten und grüßten. Lautlos rollte das elektrische Tor zur Seite und gab den Weg frei. Um keinen Lärm zu machen, schob Arnau das Moped den ganzen Weg bis zum Hauptgebäude und stellte es hinter einer Mauer auf dem abgeschirmten Parkplatz für das Dienstpersonal ab. Dann ging er direkt zum Kräutergarten, schaltete dessen matte Beleuchtung ein und begann, was er die „Schneckenpatrouille“ nannte.
Seit mehreren Monaten versuchte Arnau, sich den Blick der Französin anzutrainieren. Nicht den strafenden, dafür fehlte ihm neben dem Charakter auch die Position, er war der kleine Angestellte, sie die rechte Hand der Hausherrin. Nein, den suchenden Blick wollte er lernen, diesen Scan-Blick, der binnen Sekunden alles offenbarte, was nicht perfekt erledigt war. Und möglicherweise war der junge Ibizenker drauf und dran, das Geheimnis des Anaïs-Blicks zu ergründen, denn schon auf den ersten Metern, im Halbdunkel eines herandämmernden Morgens voller Regenwolken und einem Getröpfel, das immer intensiver wurde, nahm er etwas wahr, das nicht in den Garten passte: Zwei Schuhe lugten aus den Büschen hervor.
Kurz erwog Arnau die Möglichkeit, dass vielleicht eine Fiesta oder eine „Performance“ stattgefunden hatte, die von der Terrasse in den Garten übergeschwappt war. Can Raoul wurde von merkwürdigen Menschen bewohnt und auch besucht, da lagen schon mal merkwürdige Dinge herum. In seinem Arbeitsvertrag waren drei Seiten den Bestimmungen darüber gewidmet, was er wem alles nicht erzählen durfte, und was ihm blühte, wenn er es doch tat. Selbst ihm, einem schlicht veranlagten Gemüt, erschien es kurios, wie streng alles geregelt war im Haus einer Frau, deren Vater Millionen verdient hatte mit Liedern wie „Do what you want“.
Nein, „Tu was du willst“ war definitiv nicht die Devise in Can Raoul. Dafür sorgte schon die bildschöne Französin, deren Lächeln ihm manchmal einen kalten Schauer den Rücken herunterjagte.
Und der Garten war Off-Limits. Daran hielt sich sogar Mias Papa, vollkommen unabhängig davon, dass alles, was sich seine Tochter kaufen konnte, mit Alben wie „Tender Rebellion“ bezahlt wurde. Wenn es um den Gemüse- und Kräutergarten ging, wurde Mia Shortcut zur Spießerin und Sean Shortcut zum braven Bürger.
Deshalb meinte Arnau, dass die Schuhe vielleicht die Reste des Atrezzo einer außer Kontrolle geratenen spontanen Show darstellten und als solche übers Geländer der Terrasse in den tiefer gelegenen Garten geflogen waren. Beinahe war der Hilfsgärtner stolz darauf, wie schnell er diese Fremdkörper entdeckt hatte, und er näherte sich heiteren Mutes der Stelle, als das Rätsel plötzlich eine neue Dimension annahm.
Arnaus Rechte begann nach etwas zu suchen, um sich festzuhalten.
Wie er nun erkannte, waren die Schuhe, die Fremdkörper, mit einem fremden Körper verbunden, der leblos zwischen den Kamille- und Dillpflanzen und einer Trockensteinmauer lag. Der Kopf ruhte in einem dunklen Etwas, von dem der Hilfsgärtner wusste, dass es kein frisch aufgetragener Kompost war, denn er, Arnau, trug den Kompost auf, und genau das hatte er hier schon seit Längerem nicht getan.
Damit konnte das Dunkle, das sich auch über den angrenzenden Steinweg erstreckte, nur eine Blutlache sein.
Wie angefroren blieb Arnau stehen. Mit einem Mal war die Umgebung voller Geräusche, die er ansonsten ausgeblendet hätte. Der Hilfsgärtner tat sein Bestes, nicht in Panik auszubrechen, und überlegte sich nun jeden Schritt genau, während er das Umfeld des Hauses nach Signalen der Bedrohung absuchte. Hatte sich beim Haus nicht gerade etwas bewegt, dort, zwischen dem Granatapfelbaum und der Bougainvillea? Arnau zwang sich zur Ruhe. Wahrscheinlich, sagte er sich, waren das nur seine überreizten Sinne. Wenn da wirklich jemand wäre ... er sah lieber nicht hin.
Im Bemühen, die Kontrolle zu bewahren, bewegte er sich nur langsam und fühlte sich beinahe gelähmt, wie in diesen Träumen, in denen man laufen will und nicht von der Stelle kommt. Sein Instinkt riet ihm, sich möglichst weit von dem Toten zu entfernen. Somit war es praktisch, dass das Steinhäuschen der Wachleute fast einen halben Kilometer entfernt lag, am Eingang zu diesem riesigen Anwesen namens Can Raoul. Als er dort endlich ankam, war es beinahe schon hell. Arnau – noch immer im Zeitlupen-Modus – schaute den beiden Wachleuten eine Weile von draußen zu, wie sie gelangweilt fernsahen, bis einer von ihnen den Kopf wandte und am Gesichtsausdruck des Hilfsgärtners erkannte, dass etwas Schreckliches geschehen sein musste.
Von da an beschleunigte der Tag.
Anaïs Bonnay, die leise Frau mit den schreienden Augen, würde ihn später fragen, warum er nicht Alarm geschlagen habe. Genau dafür habe man doch überall, sogar im Kräutergarten, die „Panik-Buttons“ installiert. Dicke rote Knöpfe, mit denen man binnen Sekunden das Sicherheitspersonal mobilisieren und zu einem präzisen Bereich des Anwesens lenken konnte. In einer seltenen Anwandlung von Eloquenz würde Arnau erwidern, dass Panik zu genau jener Art von Zustand führte, in dem man „Panik-Buttons“ nicht mehr wahrnahm.
Bis zum Eintreffen der Polizei wurde Arnau in der Werkstatt festgesetzt und bewacht, als wäre er der Hauptverdächtige. Schlagartig wimmelte es auf dem Anwesen von privaten Sicherheitsleuten, und mit einiger Verzögerung dann auch von Polizisten. Später kamen noch zwei Männer im Sakko und mit Aktentaschen und Sonnenbrillen hinzu, offensichtlich Anwälte, die sofort einen unsichtbaren Schutzwall zwischen der Polizei und der Hausherrin aufbauten. Das allgemeine Personal blieb klar außerhalb dieser virtuellen Schutzzone. Im Gegenteil, Arnau hatte den Eindruck, dass er, der Hilfsgärtner, Susanna, die Köchin, und Maribel, das Hausmädchen, der Polizei quasi zum Fraß hingeworfen wurden, um die Hausherrin vor dem Zugriff der Gesetzeshüter zu schützen.
Stunden vergingen, bis er endlich vernommen wurde. Die Fragen erschienen dem Hilfsgärtner derart idiotisch, dass er eine Weile den Verdacht hegte, die Polizei wolle ihn der Einfachheit halber und aus purer Bequemlichkeit direkt als Mörder mitnehmen. Akte geschlossen, zurück ins Büro, am Abend ist Fußball im Fernsehen. Den Schatten, den er sich wahrscheinlich eingebildet hatte, erwähnte er nicht. Etwas sagte ihm, dass die Polizei dies nur als plumpen Versuch interpretieren würde, sich selbst zu entlasten, indem er den Verdacht auf ein formloses und daher unbeschreibbares Wesen lenkte.
Man zwang ihn sogar, sich das Gesicht des Toten anzusehen, bevor man diesen in einer langen grauen Limousine wegbrachte, ein junger Mann mit einem „Giri-Gesicht“, Ausländer aus dem Norden, zumindest dem Anschein nach. Wobei die Blässe wohl auch dem Umstand zuschulden war, dass der Mann tot war, wie Arnau anmerkte, um etwas Nützliches zu den Ermittlungen beizutragen. Die Bemerkung war kein großer Publikumserfolg.
Mia Shortcut, die Königin dieses kleinen Reiches an der Nordwestküste Ibizas, bekam Arnau nur einmal kurz zu sehen, als Silhouette, die Hände an den Kopf gelegt, in einer Geste der Erschütterung oder Ratlosigkeit. Mit der Ruhe in Can Raoul war es vorbei. Bloß die Französin bewahrte genau das, nämlich Ruhe, und sah ihn nur einmal an. Es war der berüchtigte Anaïs-Blick, der sagte: Was hast du nun wieder verbockt?
Als Arnau am Abend endlich nach Hause kam, sagte er zu seiner Frau Neus: “Ich habe keine Ahnung, ob sie mich heute rausgeschmissen haben. Was würdest du tun?”
Neus dachte nach. Dann erwiderte sie mit dem markant bodenständigen Hausverstand der balearischen Frauen: “Morgen rufst du an und fragst.”
Can Jacques, „das Haus von Jacques“, war ein kleiner Gebäudekomplex wie alle traditionellen ibizenkischen Häuser: organisch gewachsen, Zimmer um Zimmer, Anbau um Anbau, mit Kalk geweißelt und der Inbegriff mediterraner Wohnkultur. So perfekt war dieses Konzept entwickelt worden, dass ein katalanischer Avantgarde-Architekt Anfang des 20. Jahrhunderts buchstäblich unter Schock von einer Reise nach Ibiza zurückkehrte, dieser damals so vergessenen, urtümlichen, ja rückständigen Insel. Mit seinen Kollegen hatte er jahrelang über den Aufbruch zu einem revolutionären modernen Wohnbau diskutiert, doch musste er ihnen mitteilen: Leute, das revolutionäre moderne Wohnhaus, wie wir es erdenken wollen, ist bereits erfunden, und zwar von den rückständigen Bauern auf Ibiza.
Als Jacques von seinem Taxidienst zur Bushaltestelle zurückkehrte, saß Tanit im geometrischen Mittelpunkt des Wohnzimmers auf dem Boden und machte das traurigste Gesicht, zu dem sie fähig war. Er dachte noch: welch erstaunlicher Instinkt! Das Wohnzimmer war bestimmt das Zentrum des Gebäudes, und die Neunjährige saß im Mittelpunkt des Zentrums wie auf einer Bühne, alle mentalen Scheinwerfer auf sie gerichtet, und zeigte deutlich, was sie davon hielt, dass ihr Vater sie in dem Anwesen alleine gelassen hatte.
„Trainierst du für die Bezirksmeisterschaft im Traurigschauen?“, raunte er der Kleinen zu. „Jetzt mal ehrlich: Ein klein wenig Schauspielerei ist doch dabei, du! Hm?“ Zärtlich stupste er sie an. „Hmmmm?“
Aber obwohl Tanit – auch sie schwarzhaarig wie ihre Mutter Asu – gelegentlich verräterische Seitenblicke warf, um zu prüfen, ob Papi ihr nun endlich die gediegene Aufmerksamkeit widmete und angemessen zerknirscht war, wurde Jacques natürlich weich. Sie war ein so hübsches Kind, und wer kann so viel hübsche Traurigkeit sehen, ohne zu zerfließen? Er setzte sich zu ihr, umarmte sie und begann sie zu wiegen. „Ta-niiiiit, Ta-niiiit, ist ja gut, meine Kleine. Papi war mal wieder grausam zu dir. Dummer Papi, jetzt darfst du ihn zur Strafe hauen. Los, fest!“
Ein paar Backpfeifen auf Papis Wangen und Tanit lachte wieder. Das entsprach zwar nicht den erzieherischen Prinzipien der Gewaltlosigkeit, doch wenn es darum ging, einen Strom von Kindertränen einzudämmen, waren alle Mittel erlaubt.
Jacques holte das Müsli aus dem gasbetriebenen Kühlschrank, damit auch Tanit ihren Schweizer Moment erlebte. Er küsste sie auf die Stirn und sagte: „Papi geht kurz die Tiere füttern, ja?“
Die Kleine nickte und begann zu löffeln.
Jacques nahm den Kübel mit den Küchenabfällen vom Vortag und trat hinaus in den Patio, über dem an einem Metallgestänge die nackten Rebstöcke verliefen. Im Spätsommer hingen hier die Trauben vom Himmel und sorgten für jene Paradiesmomente, die alle Opfer rechtfertigten.
Es tröpfelte wieder. Jacques zog sich die Kapuze seiner Regenjacke über den Kopf und schlüpfte in die Gartenklopper. Mit den klobigen, offenen Schuhen stapfte er zuerst zu den Beeten mit dem Wintergemüse, um die Schnecken einzusammeln, die sich mal wieder über den Blattsalat hermachten. Leckerbissen für den Landvogt und seinen Harem. Die Nacktschnecken kamen in einen gesonderten Behälter, sie waren der Snack für die Gänse. Hinter der Gartenhütte marschierte er dann vorbei an einigen Orangen- und Zitronenbäumen zum Johannisbrotbaum, um ein paar Schoten für Francisco José zu pflücken.
Francisco José war trotz gelegentlicher Temperamentausbrüche und der Konkurrenz einiger gleichermaßen charakterstarken Ziegen der populärste Bewohner von Can Jacques. Selina hatte den Esel auf diesen Namen getauft, um ihren Vater zu ärgern. Mit teuflischer Präzision bearbeitete das Mädchen die Schwachstellen in Jacques‘ Lebensgebäude. Sie wusste, dass unter der Oberfläche des Ibiza-Spät-Hippies noch immer ein stolzer Eidgenosse schlummerte. Als sie in der Schule über den Habsburger-Kaiser Franz Josef – auf Spanisch Francisco José – erfuhr, erinnerte sie sich der gelegentlichen Lektionen ihres Vaters über die Schweiz, von Käsekunde über Skifahren bis zur Geschichte der Eidgenossenschaft. Dabei kamen die Habsburger, „diese Unterdrücker“, naturgemäß nicht gut davon. Kurze Absprache mit ihren beiden Komplizinnen Timna und Tanit, und der Name des Esels war beschlossen. Dass es sich eigentlich um eine Eselin handelte, konnte das Tier nicht retten – sein Name war Francisco José.
Den Landvogt Gessler sparte sich Jacques für den letzten Teil seiner Morgenrunde auf. Der Hahn war ein Tyrann. Wer in das großzügig angelegte Gehege eindrang, tat gut daran, den genau dafür neben der Tür aufgehängten Prügel an sich zu nehmen. Der Landvogt trug wohl die Gene eines Kampfhahns in sich. Jede Bedrohung seines territorialen Monopols versetzte das Tier in hochaggressive Stimmung. Jacques bewaffnete sich und trat ein. Landvogt Gessler stand auf dem Hühnerhäuschen und überblickte die Lage. Blöd war er nicht, darum wartete er mit seinem Angriff, bis sich Jacques auf der Suche nach Eiern hinunterbeugte. Der Hahn attackierte direkt die vier Buchstaben des Hausherrn. „Blödes Viech!“, schrie Jacques und schwang den Prügel, während ein Dutzend Hühner mit aufgeregtem Gackern in Deckung ging.
Jacques verließ das Gehege und pflückte eine Handvoll Klee, den er über den Maschendrahtzaun warf. Keine Eier, dafür ein schmerzender Hintern – der Tagesanbruch war ein umfassender Fehlschlag. Jacques sah sich als prügelschwingenden, fluchenden Haciendero und damit weit vom Ideal des innerlich ausgeglichenen Weisen entfernt, der mit seiner Umwelt in Frieden und Harmonie lebte.
Auf dem Weg zurück zum Haus stoppte er kurz bei der alten Eiche. In einem Spalt auf einer Höhe, die für seine Töchter nicht sichtbar und auch nicht erreichbar war, hielt er dort in einer Plastikhülle ein paar Gramm Marihuana versteckt. Damit drehte er sich zu besonderen Momenten – und wenn er absolut sicher war, dass die Kleinen ihn nicht ertappen konnten – einen Joint. Heute hätte er eine Portion Gras nötig, fand er, entschied jedoch dagegen. Tanit erwartete ihn. Zudem hatte er sich seit Asus Tod geschworen, dieses Zeug von seinen Töchtern fernzuhalten, solange sie minderjährig waren. Man musste damit umgehen können, um nicht in einen Teufelskreis zu geraten. Das war Asus Verhängnis gewesen. Sie hatte damit nicht umgehen können.
Jacques marschierte weiter. Er nahm sich vor, den Rest des Tages zu einem Triumphzug seiner Ideale zu gestalten. Und erinnerte sich gerade rechtzeitig, dass er nun vor der Wahl stand, mit Tanit den Feldweg bis zur Straße und dann noch bis zum Dorf zu gehen, mehr als drei Kilometer insgesamt, oder aber seine Tochter im VW-Bus hinzubringen.
Widerwillig blickte er auf die Uhr. Wenn sie zu Fuß gehen wollten, mussten sie jetzt aufbrechen. „Papi“, unterbrach Tanit den Gedankengang ihres Vaters. „Für Handarbeiten muss heute jeder zwei große Plastikflaschen mitbringen.“
„Tanit“, sagte Papi und atmete tief durch, um die mühsam errungene innere Ruhe zu bewahren. „Warum hast du mir das nicht gestern schon gesagt? Du weißt doch, dass wir in unserem Haus nur sehr wenig Plastik haben, weil im Plastik oft giftige Stoffe stecken und Plastik die Meere verseucht und ...“
„Habe ich dir gesagt, aber du hörst ja nie zu.“
„Tatsächlich?“
Tanit nickte. „Du hast das Foto angeschaut.“
„Welches?“
„Das von Orell.“
Tja. Möglicherweise hatte sie recht. Wenn er „das Foto“ anschaute, war er in der Regel nicht ansprechbar. Das Foto seines Bruders Orell Reinhauser. Oder war das wieder einer dieser Tricks von Tanit, um ihr eigenes Vergessen zu vertuschen? Sie wusste genau, dass sich seine Gedanken verloren, wenn er Orells Foto betrachtete. Ein winziges Foto, das zwischen Schnappschüssen der Familie und abgerissenen Zetteln mit Notizen wie „Korb mit Orangen für Luisa!!!“ an einer Korkplatte in der Küche befestigt war. In letzter Zeit hatte sie in solchen Situationen verdächtig oft behauptet, er habe „das Foto angeschaut“ und ihr deshalb nicht zugehört, als sie etwas „ganz Wichtiges und Dringendes“ mitteilte.
Jacques seufzte. „Dann müssen wir auf dem Weg jemanden fragen, ob er ein paar Plastikflaschen für uns übrig hat.“
„Habe ich schon gemacht.“ Tanit hielt ein Smartphone in die Höhe. „Stanley hat welche und kann sie mir borgen.“
Jacques‘ Augen verengten sich zu Schlitzen. „Was zum Teufel machst du mit dem Telefon deiner Schwester?“
„Hat sie mir für heute geborgt, weil du nicht zugehört hast. Damit ich die Plastikflaschen organisiere.“
„Und du kannst damit umgehen?“
„Besser als du.“
Jacques sank in sich zusammen. Klar war sie darin besser, er hatte kein Smartphone, er hatte gar kein Handy, er wollte sich diesen Teil seines Utopias bewahren. Ein wenig gehörte es auch zur Imagepflege. Die Leute fanden es „sowas von cool“, wenn er fallen ließ, dass er kein Handy hatte. „Na gut. Aber du weißt ja, wo Stanley wohnt.“
Tanit sah ihrem Vater unbewegt in die Augen und sagte: „Zum Glück haben wir ein Auto.“
Die Rettung der Welt durch integral-ökologische Lebensweise musste auf einen späteren Moment des Tages verschoben werden. Jacques gab Tanit mit dem Kopf ein Zeichen und dachte nur: Elektromotor. Der VW-Bus brauchte einen Elektromotor. Und eine Sonnentankstelle. Und dafür brauchte er „Stutz“.
„Was ist jetzt wieder?“, fragte Tanit, als sie es sich auf dem Beifahrersitz gemütlich machte. „Warum machst du dauernd ‚hach‘?“
Jacques drehte den Zündschlüssel um und erwiderte in das Knattern des startenden Motors hinein: „Weil die Welt so unrund ist.“
„Da kann ich doch nichts dafür.“
„Hast ja recht. Komm, setz dich auf den Kindersitz, sonst krieg ich eine Strafe aufgebrummt und die Welt wird noch mal ein Stückchen unrunder.“
„Okeeeee.“