Читать книгу Geschichten aus dem Koffer - Thomas Fuhrmann - Страница 16
Оглавление3. Dezember: #NachrichtamBaum (J&E)
So sah es hier jetzt also aus …
Dominik bog in die Fußgängerzone ein und blieb erstaunt stehen. Eigentlich war es nur eine einzige lange Straße, die den Kern seines kleinen Ortes bildete. Hier fand man alles, was man zum Leben brauchte. Mehrere Bäcker, eine Drogerie, einen Buchladen, einen Zeitungskiosk, einen Getränkemarkt, Schuh- und Bekleidungsläden, Friseure, Cafés, Restaurants, Schnellimbisse, Sparkasse und Post. Selbst ein Eiscafé war vor ein paar Jahren dazugekommen, das allerdings jetzt im Winter geschlossen war. Nur die Lebensmittelläden hatten sich inzwischen am viel befahrenen Ring angesiedelt, der wie eine neuzeitliche Stadtmauer den Ortskern begrenzte.
Von einer Seite der Fußgängerzone zur anderen waren Lichterketten gespannt, mal mit Rentieren und Sternen, mal in der Form von Weihnachtskränzen, und leuchteten in der beginnenden Dämmerung. Natürlich, die Adventszeit hatte inzwischen schon angefangen. Er war lange nicht mehr draußen gewesen. Ihm wurde jetzt erst bewusst, wie viel Zeit vergangen war, wie sehr sich alles verändert hatte. Auch die paar Holzbuden mit Glühwein, gebrannten Mandeln, Crêpes und Bratwürsten standen schon auf dem Platz vor der Kirche, deren Turmspitze an der nächsten Querstraße die Häuser überragte. Zu einem richtigen Weihnachtsmarkt hatte es bei ihnen im Ort nie gereicht. Aber ein bisschen Adventsstimmung konnte so auch aufkommen.
Wobei, wohl nicht bei allen. Ein Mann mit Aktenkoffer hetzte an ihm vorbei. Ein anderer trat dort vorne aus einer Haustür und balancierte drei Pakete auf dem Arm, während er versuchte, mit der anderen Hand den Schlüssel in das Schloss zu stecken, um die Tür von außen abzuschließen. Aus der Ferne war ein Presslufthammer zu hören, dazu das Quietschen eines einfahrenden Zuges.
Geräusche, so viele, so laut. Dominik schüttelte den Kopf. Er war wohl doch noch nicht ganz über den Berg. Drei Wochen lang hatte er die Wohnung nicht verlassen. Er war allein gewesen, die ganze Zeit. Niemand hatte ihn besuchen können. Die Ansteckungsgefahr wäre zu groß gewesen. Er hatte sich wohl an die Ruhe gewöhnt.
Alles wirkte so schnell, so laut, wie im Zeitraffer mit Klangverstärkung. Das Klacken der Schuhe auf dem Pflaster, ein Stein, der, von einer Fußspitze getroffen, wegsprang, ein bellender Hund, dazu Musik aus einem Wohnhaus. War er der einzige, dem das auffiel? Wobei, früher hatte er es ja auch nicht bemerkt, hatte kaum darauf geachtet, was um ihn herum geschah. Meist war er in Gedanken bei der Arbeit oder im Gespräch mit Freunden vertieft. Oder er hatte Musik gehört. Stimmt. Wo waren eigentlich seine Kopfhörer?
Wie oft war er wie der Mann mit Aktenkoffer hier durch die Straße gehetzt, weil er wieder mal in letzter Minute das Haus verlassen hatte? Wie oft war er noch seine Notizen im Kopf durchgegangen? Ohne einen Blick für seine Umgebung? Und wie lange hatte er sich nichts dabei gedacht?
Er sah zur Seite. Dort stand ein Baum. Was war es? Eine Eiche? Eine Kastanie? Eine Buche? Jetzt, ohne Blätter, hatte er keine Chance, es zu erkennen. Schon im Sommer tat er sich schwer damit, Bäume richtig zu benennen. Im Winter waren es für ihn nur halbtote Gerippe, die ihre Arme anklagend in die Luft streckten.
Da hing doch etwas am Baum! Kein Blatt, aber es schwankte trotzdem leicht im Wind. Neugierig ging er näher. Warum hing denn eine leere Tüte am Baum? Super soft, dreilagig, las er. Den oberen Teil konnte er nicht erkennen, da dieser mit einer Schnur zusammengebunden war, mit der die Folie an einem Zweig hing.
Er nahm das merkwürdige Objekt in die Hand und schaute es sich genauer an. Ganz leer war es doch nicht. In der Toilettenpapierverpackung war ein Zettel, oder eher eine Karte. Sie war beschriftet, handschriftlich, so sauber und ordentlich, wie er es nie schaffen würde, selbst wenn er sich ganz viel Zeit dafür nehmen würde. Er zog die Folie glatt, um die Nachricht lesen zu können.
Mach weiter!
Alles normal!
WAS IST NORMAL???
Die Karte hatte ein Loch oben links in der Ecke. Wofür war das gedacht? Und wer hatte die Karte in die Tüte gepackt und an den Baum gehängt?
Vorsichtig löste Dominik den Knoten, mit dem die Verpackung an einem Ast befestigt worden war, nahm die Folie mit der innen liegenden Karte in die Hand und ging weiter. Es war eigentlich nichts Besonderes, und doch hatte es seine Aufmerksamkeit geweckt.
Zu Hause legte Dominik sein Mitbringsel auf den Tisch, holte die Karte aus der Folie und wusch sich danach erst einmal gründlich die Hände. Die Karte war aus fester Pappe, weiß, ohne einen Aufdruck. Er drehte sie um. Die Rückseite war leer. Nur ein Teil eines Schuhabdrucks war darauf zu sehen. Und auf der Vorderseite gab es die drei handschriftlichen Sätze, die er vorher schon durch die Folie hatte entziffern können.
Was hatte er da gefunden? Hatte die Nachricht an einer Schnur gehangen? Vielleicht befestigt an einem Luftballon? Aber für wen war sie gedacht? Und warum erwartete der Absender keine Antwort?
Was faszinierte ihn so daran? Dominik konnte es nicht sagen. Er ging zum Sofa, nahm sein Handy aus der Tasche, machte ein Foto von der Karte und postete es. #NachrichtamBaum
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Dominik blinzelte. Er musste wohl eingeschlafen sein. Draußen war es bereits dunkel. Dass ihn ein kleiner Spaziergang immer noch so anstrengte … Früher war er sportlich gewesen, war gern und regelmäßig gejoggt. Wann würde er dafür wieder die Kraft finden?
Er griff nach seinem Handy, um nach der Uhrzeit zu schauen. Sein Sperrbildschirm war gefüllt von Nachrichten:
Du wurdest in einer Nachricht markiert.
Dein Beitrag wurde geteilt.
Du wurdest in einem Beitrag erwähnt.
Du wurdest in einem Kommentar erwähnt.
Du hast 423 neue „Gefällt mir“-Angaben.
423 „Gefällt-mir“-Angaben??? Wie lange hatte er geschlafen?
Er öffnete seinen Account. Sein letzter Post war geteilt, kommentiert und mit ganz vielen Herzen versehen worden. Innerhalb von nur etwas mehr als einer Stunde. Und dort: Ein weiteres Bild eines anderen Users, ebenfalls mit seinem Hashtag #NachrichtamBaum. Auch dort war eine weiße Karte zu sehen, ebenfalls beschriftet:
Wieder frei. Endlich. Oder zu früh?
Weg und doch noch da …
WAS IST RICHTIG???
Dominik nahm seine Karte in die Hand und verglich sie mit dem Foto. Es schien die gleiche Handschrift zu sein. Sollte die #NachrichtamBaum etwa von der gleichen Person stammen? Gab es vielleicht noch mehr Nachrichten?
Ja, ganz offensichtlich, denn gerade vermeldete sein Handy den Eingang einer weiteren Nachricht. Es war wieder ein Foto einer weißen Karte, wieder mit einem Loch oben links in der Ecke und wieder mit einem handschriftlichen Eintrag, der dieses Mal allerdings nur aus zwei Zeilen bestand:
So viele und doch allein!
WAS STIMMT NICHT MIT MIR???
Worauf war er da gestoßen? An wen waren die Nachrichten gerichtet? Und von wem stammten sie?
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Jetzt hatte sich sogar ein Reporter des ortsansässigen Käseblattes bei ihm gemeldet und um ein Gespräch gebeten. Dominik sah zu dem leeren Stuhl hinüber, auf dem sein Interviewer noch vor kurzem gesessen hatte. Was hatte er alles wissen wollen!
Ob er die Person kannte oder zumindest eine Vermutung hätte, wer es sei. – Nein, leider nicht.
Ob es ein großer Fake sei, eine Promotion irgendeines Produkts. – Wofür denn???
Ob es ein Hilfeschrei sei. – Könnte sein.
Ob er die Person jemals finden würde. – Wenn er das mal wüsste …
Schließlich war der Reporter mitsamt seinem Diktiergerät wieder verschwunden und hatte ihn allein in der Bäckerei zurückgelassen. Er hatte enttäuscht gewirkt, als hätte er sich mehr von dem Interview versprochen. Eine Liebesgeschichte. Oder eine Story über Helden des Alltags. Doch das konnte Dominik ihm nicht liefern. Oder hätte er sich etwas ausdenken sollen?
Er schüttelte den Kopf und trank den letzten Schluck seines inzwischen kalt gewordenen Kaffees, schob den Stuhl zurück, schlüpfte in seine Jacke und wickelte sich den Schal um den Hals. In der Tür nickte er seinem Freund Matthias, dem die Bäckerei mit kleiner Caféecke gehörte, zum Abschied zu.
Vor der Tür blieb er stehen. Er könnte ja noch einmal beim Baum vorbeischauen. An der Kastanie, die auf dem Hof der Bäckerei stand, hing ein Briefkasten, den er mit Matthias zusammen angebracht hatte. Matthias hatte die Idee gehabt, als #NachrichtamBaum immer beliebter geworden war. Seitdem waren viele Zettel mit Fragen, Anregungen, Nöten, aber auch guten Zusprüchen in dem Kasten gelandet, der für jedermann zugänglich war, zum Einwerfen aber auch zum Beantworten. Völlig fremde Menschen sprachen sich Mut zu, fanden einen Ansprechpartner oder hatten einfach nur das Gefühl, dass ihre Sorgen Gehör fanden. Es war aber keineswegs so, dass nur traurige Botschaften geteilt wurden. Dominik lächelte, als er an den Bericht eines Vaters dachte, der von der Freude seines kleinen Kindes berichtete, als dieses zum ersten Mal Schnee gesehen hatte. Kein Thema, das noch nicht vorgekommen wäre. Hier in dem Kasten ihrer kleinen Stadt, aber auch weiterhin online unter #NachrichtamBaum. Sein Hashtag hatte sich zum Austausch der eigenen Gedanken entwickelt.
Dominik griff nach dem Schloss und zuckte zurück. Das Metall war ja noch kälter als beim letzten Mal. Und bewegen ließ sich der Verschluss auch nicht. Seufzend hauchte er dagegen, probierte, hauchte weiter. Wie oft hatte er früher, als er noch regelmäßig Fahrrad gefahren war, sein Schloss genauso behandeln müssen, damit sich der Schlüssel wieder ins Schloss stecken ließ? Und hier war noch nicht einmal ein Schlüssel notwendig. Schließlich sollte es die Möglichkeit des Austausches für alle geben. Matthias hatte wegen der Romantik ein altes Kofferschloss daran befestigt.
„Ist doch schöner als nur ein Haken, damit die Tür nicht vom Wind aufgeht“, hatte er gesagt. Jetzt ging sie gar nicht auf. Auch nicht besonders romantisch. Zum Glück gab es wenigstens den Briefschlitz oben, wie bei einem normalen Briefkasten.
Dominik hauchte weiter. Endlich sprang das Schloss auf. Er öffnete die Tür und zog einen Haufen heraus: Karten, zusammengefaltete Zettel und einen gelben Briefumschlag. Dominik sah darauf und sog die Luft ein. Das war die Schrift. Die Schrift der ersten Karte. Für Dominik - #NachrichtamBaum stand darauf.
Würde er endlich Antworten bekommen? Er stieß die Luft aus und wog den Brief in der Hand. Er fühlte sich schwer an. Würde er endlich erfahren, wer der Absender der Karten war?
Er hatte sich immer eine Frau vorgestellt, die mit großen traurigen Augen an einem Schreibtisch am Fenster saß, allein in einer Dachwohnung vielleicht. Der beim Schreiben immer wieder eine Haarsträhne ins Gesicht fiel, die sie sich zurückstrich, um dann bewusst und langsam weiterzuschreiben.
Dieser Kontrast aus verzweifelten Fragen und der unglaublich ordentlichen Schrift hatte ihn seit Beginn fasziniert. Sollte er jetzt endlich erfahren, ob die Wirklichkeit mit seiner Fantasie übereinstimmte? Wollte er es überhaupt wissen?
Doch, definitiv. Aber nicht hier. Er würde sich Zeit nehmen, so wie der Schreiber sich Zeit ließ für das Beschriften der Karten. Er würde den Brief lesen. Irgendwann. In Ruhe. Was wohl darinnen stand?