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1. Dezember Alle Jahre wieder (K)

Mila lag im Bett und hatte ihr liebstes Kuscheltier im Arm. Sie hatte Bello, den kleinen braunen Hund mit den langen Schlappohren, zu ihrer Geburt bekommen und seitdem jede Nacht mit ihm zusammen verbracht. Zuerst hatte er bei ihr am Fußende der Wiege gelegen, dann in ihrer Nähe. Seit sie in ihrem eigenen Bett schlief, früher mit Gitterstäben, die natürlich schon längst abgebaut waren, kuschelte sie meistens auch mit ihm beim Einschlafen.

Bello war ein guter Zuhörer. Er konnte hervorragend trösten und kuscheln und er meckerte nie, wenn sie ihn viel zu fest an sich drückte oder auf seinem Ohr liegend einschlief. Und er schien immer zu wissen, wie es ihr ging, manchmal sogar, noch bevor sie es sich selber eingestehen konnte.

„Na, bist du zu aufgeregt zum Schlafen?“ Bello stupste sie freundlich in die Seite.

Mila nickte. „Ist doch auch kein Wunder“, flüsterte sie zurück. „Mama hat heute den Adventskalender aufgehängt, und sie hat gesagt, dass in der Nacht die Wichtelmännchen kommen und die Geschenke dranhängen.“

„Und du würdest sie gern sehen?“

„Du doch auch!“

„Hmmmm …“, brummte Bello zustimmend. „Aber woher weißt du, dass sie diese Nacht unterwegs sind?“

„Noch ein Mal schlafen und dann darf ich doch schon das erste Päckchen aufmachen. Also müssen sie diese Nacht die Geschenke anbringen. Sonst kann ich morgen doch gar nichts aufmachen!“

„Da ist was Wahres dran …“ Bello überlegte. „Aber was ist, wenn sie nur kommen, wenn du schläfst?“

„Dann müssen wir einfach ganz leise sein, damit sie uns nicht hören. Und so tun, als ob wir schlafen.“

Mila legte sich auf die Seite, kuschelte sich in die Decke, achtete aber darauf, dass beide Ohren frei blieben. Sie dachte an den Wandbehang an der Küchentür, der mit vielen kleinen Wichtelmännchen und vierundzwanzig Zahlen bestickt war. Bei jeder Zahl war ein Ring angenäht, an dem dann ein Geschenk hängen würde. Mama hatte den Kalender gestaltet, als Mila damals in ihrem Bauch gewesen war. Und jedes Jahr holte sie ihn einen Tag vor dem 1. Dezember heraus. Heute schon zum sechsten Mal. An die ersten Jahre konnte Mila sich natürlich nicht erinnern, aber es gab Fotos, auf denen sie sich nach Geschenken streckte und versuchte, dabei nicht umzufallen.

Bello schnarchte leise vor sich hin. Mila lächelte. Und gähnte. Ihre Augen fingen auch schon an zu brennen. Wenn sie sie nur einmal kurz schließen würde …

„Pass doch auf!“, zischte eine Stimme. „Du bist mir schon wieder in die Hacken gelaufen!“

„Das kann überhaupt nicht sein“, brummte eine zweite Stimme zurück. „Ich bin weit hinter dir. So lang sind meine Beine überhaupt nicht. Außerdem könntest du mir mit dem Koffer ruhig mal helfen!“

„Ich trage dafür die Bänder. Und wer hat die ganzen Geschenke überhaupt erst eingepackt und in den Koffer gesteckt?“

„Geht das schon wieder los?“, beschwerte sich die zweite Stimme. „Du hast doch Poldi gehört. Wir arbeiten alle zusammen und versuchen, uns zu unterstützen, um den Menschen eine schöne Adventszeit zu gestalten. Dabei kommt es auf das Ergebnis an und nicht darauf, wer wie viel gemacht hat.“

Du willst doch, dass ich dir mit dem Koffer helfe!“, wunderte sich die erste Stimme.

„Um Hilfe zu bitten, sollte ja wohl auch noch erlaubt sein, vor allem, weil ich …“ Der Rest des Satzes ging in einem Poltern mit leisen Schreien unter.

Mila kletterte aus dem Bett und schlich zur Tür. Die Stimmen waren jetzt viel schwächer zu hören als vorher.

„Jetzt ist der Koffer aufgegangen, und wir sind mit allen Geschenken die Treppe hinuntergepurzelt“, beschwerte sich die zweite Stimme.

„Und hier am Bein bekomme ich bestimmt wieder einen blauen Fleck“, jammerte die erste Stimme. „Ich bin böse gefallen, weil ich mich in den Bändern verheddert habe. Es schwillt bestimmt auch an. Ganz sicher. Ich merke das schon …“

„Ja, ja, ich weiß. Du bist ganz schwer verletzt. Wie damals, als du dachtest, dass du nie wieder laufen könntest, nur weil dir ein Kuscheltier-Elefant auf den Fuß gestiegen war. Aber das können wir morgen klären. Jetzt hilf mir bitte erst mal mit den Geschenken. Wir müssen sie einsammeln und aufhängen, bevor noch jemand mitbekommt, dass wir hier sind.“

Mila hörte geschäftiges Trippeln, Schieben, Rascheln und Schleifen. Sie versuchte, durch das Schlüsselloch zu gucken, doch der untere Treppenabsatz lag nicht in ihrem Blickfeld. Außerdem war der Flur dunkel.

Sollte sie die Tür vorsichtig öffnen? Aber wenn sie dadurch die Wesen verscheuchte? Sie presste das Ohr an die Tür.

„So, geschafft!“ Der Koffer wurde mit einem Klicken verschlossen.

„Warte, ich helfe dir“, meldete sich die erste Stimme.

„Ach, jetzt doch auf einmal? Du willst wohl nicht ein zweites Mal hinfallen?“, spöttelte die zweite Stimme.

„Ist doch egal, freu dich doch! Außerdem hab’ ich Hunger. Ich habe noch überhaupt nichts gefrühstückt, weil du so gedrängelt hast.“

Mila hörte ein paar letzte Trippelschritte, die Flurtür öffnete und schloss sich, und dann war wieder Ruhe.

Vorsichtig drückte sie ihre Türklinke hinunter. Es war still im Haus. Der Flur lag dunkel vor ihr, nur spärlich erhellt durch das Mondlicht, das durch ein kleines Fenster im Treppenhaus fiel. Niemand war zu sehen.

Mila schloss die Tür und schlich wieder ins Bett zurück.

Am nächsten Morgen rannte sie mit Bello direkt zum Adventskalender. An jedem Ring hing ein kleines Geschenk, fein säuberlich befestigt mit einem roten Band. Manche Päckchen sahen allerdings ein bisschen zerknautscht aus, hatten eingedrückte Ecken oder leicht zerknittertes Papier.

Mila lächelte und flüsterte Bello zu: „Ich muss dir gleich unbedingt was erzählen. Das glaubst du nie!“

Geschichten aus dem Koffer

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