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Und auf einmal bist du Vater

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Dieses Lebensgefühl trat beispielsweise ein, als ich zum ersten Mal Vater wurde. Wie hatte ich mich darauf gefreut! Wenige Jahre zuvor noch trug ich die diffuse Befürchtung in mir, ich könnte unerwartet früh sterben – in einem plötzlichen Krieg, bei einem Unfall, einer Katastrophe. Damals sagte ich zu Gott: „Lass mich wenigstens noch erleben, was es heißt, eine Frau zu lieben und Kinder zu haben.“ Offensichtlich befürchtete ich, dass der Himmel nichts zu bieten haben könnte, was an diese beiden Lebenserfahrungen heranreichte.

Und nun war ich Vater geworden! Zwei Jahre später erneut – und dann noch ein drittes Mal. Die Geburten meiner Kinder waren eine überwältigende Erfahrung. Es überkamen mich unbeschreibliche Glücksgefühle. Ich fühlte mich, wie sich Bilbo Beutlin und seine Gefährten in Der kleine Hobbit vermutlich fühlen, als große Adler sie in einer gefährlichen Situation aus einem brennenden Wald retten. Die Riesenvögel steigen herab, umfassen Bilbo und seine Freunde sanft mit ihren großen Krallen und tragen sie hinauf in die endlosen Höhen des Himmels. Sicher bringen sie die Freunde an einen geschützten Ort. Die Geburt unserer Kinder war für mich wie vergleichbares Hinaufgetragenwerden in Höhen, die mir bisher verwehrt geblieben waren.

Nun, es blieb nicht dabei. Nach unserem zweiten Kind folgte etwas anderes: die Einsicht, dass ich die Sache mit dem Nachwuchs gewaltig unterschätzt hatte. Es war mir nicht bewusst, wie sehr kleine Kinder unser Leben auf den Kopf stellen. Meine Gefühle, meine Sicht des Lebens, mein Alltag, meine Prioritäten – alles war davon betroffen. Einiges fühlte sich auch richtig gut an. Dank meiner Kinder lernte ich die Vaterliebe Gottes erst richtig begreifen. Die neue Situation brachte mich aber auch an Grenzen. Kinderkrankheiten und schlaflose Nächte zehrten an unseren Kräften. Nicht nur unsere Kinder, auch ich kam auf die Welt! Ich war mit der Illusion in das Abenteuer der Vaterschaft eingestiegen, ich könne genauso weiterleben und -arbeiten wie vorher. Diese Torheit führte zu einigen schmerzhaften Bruchlandungen. Langsam gelangte ich zur selben Schlussfolgerung wie der gerade erwähnte Auswanderer: „Alles ist ganz anders hier!“ Anders als das, was ich bisher kannte und mir vorgestellt hatte. Die alten Lebensmuster griffen nicht mehr. Bisherige Alltagsstrategien waren überholt. Ich musste mich neu sortieren und orientieren. Vieles neu ordnen. Andere Prioritäten setzen. Entscheidungen treffen. Meine Kräfte neu einteilen. Mich anpassen.

Jedes Ereignis, das uns herausfordert, hat das Potenzial, aus uns bessere oder schlechtere Menschen zu machen. Deshalb bezeichne ich Elternschaft gerne als Nachfolge-Training. Hier wird mein Leben ständig hinterfragt, und ich habe unzählige Möglichkeiten, es neu auszurichten!

Wenn unser Erleben auf einmal in diesem Satz mündet: „Alles ist ganz anders hier!“, dann stehen wir an einem entscheidenden Punkt. Entweder fliehen wir aus den irritierenden Umständen – wie die Auswanderer, die nach kurzer Zeit frustriert nach Europa zurückkehrten. Oder wir finden einen Weg, das Ungewohnte auf gute Weise zu meistern. Für mich war Vaterwerden ein solcher Moment.

Von der Kunst, sich selbst zu führen

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