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ОглавлениеDer Kussweg läuft vom Musiktheater am Rande der Innenstadt zielstrebig auf das Gelände der Zeche Consol in Schalke zu. Wegen dieser Zeche soll der Weg im Volksmund auch oft als Rußweg bezeichnet worden sein. Fest steht nur, dass er nach dem Willen der Stadtverordneten ursprünglich schlicht Fußweg genannt worden war. Über die Umbenennung in den 20er Jahren wissen ältere Bürger eine ganze Reihe von Anekdoten und Dönekes zu erzählen.
Biegt man heutzutage in Höhe der Lessing-Realschule von der Grenzstraße in diesen Weg, liegen auf der linken Seite ein paar Schrebergärten, auf der rechten Seite grenzt die Rückfront des Seniorenzentrums der Arbeiter-Wohlfahrt an den Kussweg. Dem flachen Verwaltungstrakt folgt ein Appartementhaus für betuchtere Alte, ein Restaurant mit Kegelbahnen, ein Saal für verschiedenste Veranstaltungen, am Ende das dreigeschossige Gebäude des Pflegeheims, im Zynikerjargon Zwischenlager genannt.
Die Architekten des 1984 fertiggestellten Komplexes haben sich allerdings alle Mühe gegeben, eine solche Vorstellung von Altenheim gar nicht erst aufkommen zu lassen. Selbst im Pflegeheim gibt es keine Patienten, es gibt nur Bewohner. Sie bewohnen jeweils zu zweit ein Krankenzimmer, und im Rahmen des Möglichen ist es gestattet, persönliche Dinge mitzubringen: ein Bild, einen Stuhl, einen Tisch. Manchmal sogar einen ganzen Wohnzimmerschrank. Die Krankenhausbetten sind mit Rücksicht auf die Arbeit des Personals allerdings obligatorisch.
Selbst für Ehepaare, bei denen der Mann es einmal schaffen sollte, genauso alt und pflegebedürftig zu werden wie seine Frau. Solche Ehepaare können sich hier weiter treu bleiben, bis dass der Tod sie endlich scheidet. Eigentlich kann jeder Bewohner sich hier sogar einbilden, privilegiert zu sein; denn in städtischen Heimen – so wird in den Fluren und Aufenthaltsräumen gemunkelt - wird die Belegung des Hauses meist schon am Nachmittag für die Nacht zurecht gemacht. Es gibt zu wenig Personal, und wer von den alten Menschen nach 18 Uhr noch ein menschliches Bedürfnis verspürt, der kann nur hoffen, dass man ihn am nächsten Morgen als ersten aus der Scheiße zieht.
Auch das Personal des AWO-Seniorenzentrums am Kussweg gibt sich alle Mühe.
Die sogenannte späte Spätschicht ist die schlimmste Mühe. Man arbeitet von 15 bis 22 Uhr, in der letzten Stunde oft alleine, weil dann ja angeblich nichts mehr zu tun ist. Aber auch nur angeblich nicht. Denn nun mussten die alten Leute davon überzeugt werden, dass das abendliche Fernsehprogramm blödsinnig und ausgiebiges Waschen am Abend generell völliger Unsinn war. Alle Leute mussten plötzlich noch mal aufs Klo. Dann waren die Urinbeutel der Leute zu leeren, die nicht mehr aufs Klo mussten, und schließlich wurden noch die Bettgitter bei den unruhigen Bewohnern hochgezogen. Es kann für das Pflegepersonal nämlich sehr unangenehme Folgen haben, wenn diese Leute es auch nur schaffen, aus dem Bett zu fallen.
Und dann war der schlimmste Teil des späten Spätdienstes fällig: das Verteilen der Tabletten. Gegen kurz nach halb zehn, als der Zivildienstleistende endlich hatte nach Hause gehen können, warf Schwester Elisabeth das Tablett mit den vielen bunten Pillen auf den Arbeitstisch im sogenannten Schwesternzimmer.
Sie war übrigens wirklich Schwester, das heißt, sie hatte im Gegensatz zu den meisten ihrer Kollegen und Kolleginnen die dreijährige Ausbildung zur Krankenschwester absolviert. Vor ein paar Jahren war sie aus dem katholischen Krankenhaus im Stadtteil Horst geflogen, weil sie paketeweise Valium hatte mitgehen lassen.
Sie hatte das damals gebraucht. Ihr Mann hatte die Anstellung in einem Eisen verarbeitenden Betrieb verloren und eine Umschulung machen müssen, die Kinder waren ein und drei Jahre alt gewesen, das Geld knapp, noch knapper als jetzt, wo der Mann doch wieder bei einer Schlachterei einen Job bekommen hatte. Dann wollte Schwester Elisabeth an all das gar nicht mehr denken. Mit 36 Jahren konnte man doch nicht mal als Frau zu alt sein, und wenn sie sich abends manchmal im Spiegel betrachtete, kam es oft vor, dass sie sich eigentlich noch ganz attraktiv fand und überzeugt davon war, es werde noch irgendetwas Aufregendes in ihrem Leben geschehen. Auf gar keinen Fall konnte es das schon gewesen sein.
Sie hasste diese farbigen Pillen, die da vor ihr auf dem Tisch lagen oder auf den Boden gefallen waren. Nun musste sie das ganze Zeug wieder aufheben und je nach Farbe in die richtigen Schachteln schieben. Sie tat ihr Bestes und warf den verbleibenden Rest kurzerhand in den Papierkorb.
Schuld an allem waren doch nur die Ärzte! Was waren die heute noch anders als Vertreter irgendwelcher Chemiekonzerne? Keinen der Bewohner störte es anscheinend, stundenlang im Aufenthaltsraum vor sich hin zu dösen oder auf den Abtransport ins Bett oder aufs Klo warten zu müssen, weil das Personal vor allem am Wochenende völlig überlastet war. Aber wenn nur eine dieser verdammten Pillen beim abendlichen Verteilen fehlte, dann war ganz schnell die Hölle los.
Gereizt sah Schwester Elisabeth auf die große Stationsuhr, deren langer Sekundenzeiger unendlich schwerfällig über die schwarzen Zahlen und Striche wippte. Es war 20 vor 10, und nun begann der allerschwierigste Teil des Dienstes: das Warten auf die Ablösung durch die Nachtwache. Es war jeden Abend das gleiche Warten: Je näher die Uhr auf die zehn zuging, desto mehr hoffte man, dass nun nichts mehr geschah. Dass vor allem niemand mehr schellte. Dieses rhythmische Getute konnte die schlimmsten Hassreaktionen hervorrufen. Da waren die Bewohner dann nämlich keine alten Menschen mehr, die auf einen Klingelknopf drückten, weil sie Hilfe brauchten; da war nur noch ein großer Moloch, der einen mit seinen immer neuen Wünschen und Pingeligkeiten auffraß. Es hatte gar keinen Sinn, Mitleid zu haben. Nach ein paar Jahren in diesem Beruf merkte jeder, dass zuviel Idealismus Selbstmord war. Mitleid konnte man da nur mit sich selber haben. Schwester Elisabeth wollte einfach nach Hause. Dieser Freitag war der letzte Tag der Spätschicht; morgen früh musste sie bereits um 6 Uhr wieder beginnen, und irgendwann in den nächsten acht Stunden würde sie noch Hausfrau und Mutter spielen und vielleicht auch noch schlafen.
Sie öffnete die Balkontür des Aufenthaltsraumes, und die nasskalte Aprilluft strömte herein. Sie wollte auf dem Balkon noch eine Zigarette rauchen. Je stiller sie sich außerdem auf der Station verhielt, desto geringer war die Chance, dass sich noch jemand mit irgendwelchen Wünschen meldete.
Vom dritten Stock sah sie auf den Kussweg. Um diese Zeit war der Hinterausgang längst verschlossen, es war einfach nicht ratsam, nach Einbruch der Dunkelheit diesen Ausgang zu benutzen. Vor allem für Frauen nicht. Und dann musste sie plötzlich lachen. Nach Einbruch der Dunkelheit? War es am heutigen Tag eigentlich schon einmal hell gewesen? Den ganzen Tag hatten dichte tiefe Wolken alles Licht verschluckt, es war kalt und nass gewesen, eine Nässe, die einfach in der Luft hing und überall hinkroch. Auch jetzt trieb der Wind dichte Wasserschleier vor dem Licht der wenigen Laternen vorbei. Es sollte endlich Sommer werden. Noch immer waren die Tage so kurz, und was davon vielleicht noch verwertbar gewesen wäre, wurde fast ganz von der Arbeitszeit aufgefressen.
Dann fiel ihr Opa Wilmers plötzlich ein. Bei dem musste sie unbedingt noch vorbei. Opa Wilmers war eigentlich ein ganz lieber Kerl, pflegeleicht und außerdem wirklich ein armes Schwein. Vor allem aber konnte man es sich nicht erlauben, den Tod eines Bewohners nicht bemerkt zu haben.
Und Opa Wilmers musste bald sterben. Deshalb hatten sie ihn vor zwei Wochen schon auf ein Einzelzimmer gelegt. Der alte Mann glaubte immer noch an seine Silikose, seine Steinstaublunge, von der er erzählen konnte, als handele es sich dabei um einen Orden, den man für 40 Jahre Arbeit im Pütt bekam. Dabei hatte er schon lange Lungenkrebs und saß überhaupt voller Metastasen. Natürlich hatte ihm das niemand gesagt. Und warum auch? Sollte er als Bergmann sterben. Bei fast Achtzigjährigen war es ohnehin egal, woran sie starben.
Sie ging zurück ins Schwesternzimmer und nahm Wilmers Krankenakte, nur um noch einmal zu erfahren, was sie ohnehin schon lange wusste, weil sie es in den vergangenen Tagen immer wieder nachgesehen hatte. In der Rubrik Konfession stand römisch-katholisch, was ja an und für sich noch kein Beinbruch war, aber sie war in diesem Punkt durch ihre frühere Arbeit im katholischen Krankenhaus in Horst einfach vorbelastet: Wenn man dort in solchen Fällen versäumt hatte, den Geistlichen zu rufen, hatte es jedes Mal einen höllischen Ärger gegeben. Im Zweifelsfall ließ man besser auch mal einen Türken mit der letzten Ölung vor Allah erscheinen als einen Katholiken so ganz ohne vor dem katholischen Gott.
Dann warf Schwester Elisabeth die Akte wieder zurück auf den Tisch. Es war schließlich nicht ihr Problem. Der Mann hatte selber noch nie den Wunsch geäußert, und auch seine Frau, die nur noch selten kommen konnte, weil sie selber schwer krank war, hatte noch nie etwas in dieser Richtung gesagt. Außerdem konnten die Geistlichen ja auch etwas aktiver werden! Den Pfarrer der katholischen Gemeinde hatte sie hier überhaupt nur dreimal gesehen. In ein Heim der Arbeiter-Wohlfahrt kam ein katholischer Geistlicher anscheinend nicht so gern. Und wenn, dann bewegte er sich hier wie ein Späher auf feindlichem Gebiet.
Sollen sie sich doch um die Leute kümmern, wenn sie noch leben, dachte Schwester Elisabeth in selbstgefälliger Zufriedenheit. Nicht wenn sie schon so gut wie tot sind.