Читать книгу Privatsache - Thomas Hölscher - Страница 8
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ОглавлениеEr erwachte erst gegen Mittag und hatte fürchterliche Kopfschmerzen. Dennoch stand er auf und zog die Jalousien vor den Fenstern hoch. Was sollten die Nachbarn schließlich denken!
Nachdem er das Kaffeewasser aufgesetzt hatte, sah er nach der Post. Sein Briefkasten quoll über, Reklame, Rechnungen und ein Brief vom Arbeitsamt. Er überflog das Schreiben. Die Förderdauer war beendet, er sollte sich zu einem Gespräch einfinden, eine Umschulungsmaßnahme wurde in Aussicht gestellt. Wütend warf er das Papier auf den Stapel der übrigen Briefe. Umschulung! Wer bestimmte hier eigentlich, welche Arbeit sinnvoll war und welche nicht? Wofür man bezahlt wurde und wofür nicht? Natürlich würde er nicht zu diesem Gespräch erscheinen, die sollten ihn doch mal kreuzweise.
Nach dem Frühstück musste er raus. Da stand zwar noch der Koffer voll dreckiger Wäsche, aber er musste nun einfach raus, und zwar sofort. Sonst würde er die Wohnung anstecken.
Es war bereits kurz nach fünf, als er wieder zurückkehrte, ohne noch sagen zu können, was er eigentlich den ganzen Tag gemacht hatte. Sofort öffnete er den Koffer, sortierte die Wäsche, und dann glaubte er, die so entstandene Unordnung in seiner Wohnung keine Sekunde ertragen zu können. Als die Waschmaschine schon lief, ärgerte es ihn, dass er nun mindestens eine Stunde lang das Haus nicht verlassen konnte. Er schaltete den Fernseher ein, sprang von einem Programm ins nächste, nur um bestätigt zu bekommen, dass ihn das alles ohnehin nicht interessierte. Der Bierkasten fiel ihm wieder ein, der musste schließlich noch halb voll sein. Wegen seiner nächtlichen Sauferei war ihm zwar noch übel, aber nach den ersten Flaschen würde es schon wieder gehen. Natürlich war das alles beschissen, aber was sollte man machen?
Nach der zweiten Flasche begann die Maschine mit dem Spülgang, nach der vierten wurde die Wäsche geschleudert, und schließlich hatte Börner die Waschmaschine vergessen, sah sich zum zweiten- oder drittenmal die Nachrichten des Tages an und stierte auf den Bildschirm, als könne man dort etwas Wichtiges verpassen. Dabei gab es auch für das Fernsehen anscheinend nur noch die DDR, die bevorstehende deutsche Vereinigung, und der Rest der Welt fand offensichtlich gar nicht mehr statt.
Nach dem Wetterbericht der 20 Uhr-Nachrichten ging er aus dem Haus. Noch immer schien die Sonne, und es war angenehm warm. Er freute sich auf den Sommer, die langen Abende, an denen man sich irgendwo ins Freie setzen und beobachten konnte. Einfach nur beobachten und so tun, als gäbe es die eigene Person überhaupt nicht. Wahrscheinlich war das die einzige Möglichkeit, das Leben zu ertragen.
An der Grenzstraße bog er nach rechts, überquerte die Kurt-Schumacher-Straße und hatte schließlich den Kussweg erreicht. Er zögerte einen Augenblick, dann betrat er den Weg und setzte sich auf eine der Bänke, von wo aus er die gesamte Rückfront des Altenheims überblicken konnte.
Es herrschte noch reger Betrieb. Leute führten ihre Hunde aus, andere standen zusammen und plauderten. Auf der Nachbarbank saßen zwei heruntergekommen aussehende junge Männer, die billigstes Dosenbier in sich hineinschütteten und die leeren Aluminiumdosen kurzerhand hinter sich ins Gebüsch warfen. Börner rutschte ein Stück von den beiden weg; die suchten doch nur Streit, und sich in der Öffentlichkeit zu besaufen, war allein schon ekelhaft.
Auf einigen der Balkons des Wohnheims saßen alte Menschen, sahen von dort auf das Wirrwarr der angrenzenden Schrebergärten, unterhielten sich oder genossen einfach die Strahlen der mittlerweile tief über den Häusern stehenden Sonne. Auch auf dem obersten Balkon des Pflegeheims saßen ein paar alte Menschen, zumeist in Rollstühlen. In ihrer Mitte stand ein junger Mann in weißer Pflegekleidung, den Börner augenblicklich mehr als nur attraktiv fand.
Typisch deutsches Idyll, dachte er und grinste. Es gab immer mehr alte Leute, alles starb, weil die Leute keine Kinder mehr haben wollten oder konnten. Das Geld war einfach wichtiger. Bald musste die Welt hier aus lauter Opas und Omas bestehen. Eine schreckliche Vorstellung. Das Leben würde sich nicht mehr lohnen.
Er sah auf den jungen Mann, und plötzlich war es eine beklemmende Vorstellung, dass so viele solcher Jungen wegen irgendwelcher Bausparverträge, unbedingt noch anzuschaffender Einbauküchen, Wohnzimmerschränke und Renommierkarossen in irgendwelchen dubiosen Kliniken bereits in den Mülleimer geworfen worden waren.
Er tippte auf einen Zivildienstleistenden. Und darauf, dass dieser Junge schwul war. Schließlich waren doch alle Pfleger schwul. Weil sie wegen ihres Schwulseins ein schlechtes Gewissen hatten und dem Helfersyndrom auf den Leim gingen. Börner grinste über seinen dämlichen Einfall. Zumindest ein Schwuler passte auf keinen Fall in dieses Weltbild: er selber. Er mochte ja an allem möglichen leiden, aber daran ...
Er ließ seine Blicke wieder über die Balkons des Wohnheims schweifen, und plötzlich sah er, dass eine alte Dame ihm zuwinkte und offensichtlich etwas sagen wollte. Er stand auf und ging weiter. Er wollte jetzt nicht gestört werden. Weshalb war er überhaupt hierher gekommen?
Die ganze vergangene Nacht hatte ihn der Zeitungsartikel über den Mord in diesem Altenheim beschäftigt, und mit jeder Flasche Bier war alles noch interessanter, unbegreiflicher, mysteriöser geworden. Dass in der regionalen Presse nur ein paar belanglose Fakten zu diesem Fall erwähnt worden waren, hatte er schließlich auf die Provinzialität dieser Zeitung zurückführen wollen.
Jetzt sah die Sache natürlich ganz anderes aus. Wahrscheinlich hatte die WAZ recht, der Mord war natürlich ungewöhnlich, aber mehr auch nicht. Und in dem Revolverblättchen hatte man einfach noch etwas hinzuerfunden, damit die Sache reißerischer wurde und die Leute sie überhaupt zur Kenntnis nahmen.
Bei ihm hatte diese Masche ja anscheinend auch geklappt.
Er hatte die Grillostraße erreicht und zögerte einen Augenblick. Noch immer stand die Sonne dicht über den Dächern der Häuser an der Overwegstraße, und er wusste sofort, dass er noch nicht nach Hause gehen konnte.
Hat man die vierspurige Overwegstraße erst überquert, wird die Gegend ruhig wie ein vergessenes Abstellgleis. Zumindest was den Verkehr betrifft. Zur linken ein Schulgebäude, das mit seinen hellen Kacheln und immer schmutzigen Alufenstern aussieht wie die meisten deutschen Schulen: eine gemeine Mischung aus Gemeinschaftsdusche und Bahnhofsklo. Auf der rechten Straßenseite eine Häuserzeile, ein Sammelsurium von Koloniehäusern aus rotem Backstein und Mietshäusern im Stil der Gründerzeit.
Die Erinnerung an vergangene Zeiten war aber weitgehend schon herunter gekommen. Die ursprünglichen Konturen der Fassaden waren meist nur noch zu erahnen, überall platzte der Putz ab, die roten Ziegel waren schon lange schwarz, der Zement dazwischen tief ausgewaschen. Die hölzernen Fensterrahmen zeigten oft nur noch Spurenelemente der Lackfarbe, die irgendjemand irgendwann einmal darauf gestrichen hatte. Gardinen und Fensterschmuck hatten, wenn überhaupt vorhanden, den Charme der frühen 50er Jahre.
Aber hier herrschte Leben. Vor den zumeist offen stehenden Haustüren standen die Leute und unterhielten sich, eine Unmenge von Kindern tobte auf der Straße. Es waren unübersehbar Ausländer.
Typisch undeutsches Idyll, dachte Börner. Jedem mittelprächtigen deutschen Spießbürger würde bei diesem proletenhaften Lärm augenblicklich die Galle platzen.
Er war inzwischen müde, setzte sich auf die Stufen des Schuleingangs und sah den Kindern zu, die auf dem Bürgersteig und der Straße herumtobten und sich um die Erwachsenen ganz offensichtlich einen Scheißdreck kümmerten.
Und dann ging alles blitzschnell.
Wegen der quietschenden Reifen hatte er zunächst an einen Unfall in der Kreuzung oder einen jugendlichen Raser geglaubt, aber dann hielt der Wagen auch schon dicht vor ihm, irgendein alter großer Opel, cremefarben, schon stark verrostet. Mehrere Männer saßen darin, die Beifahrertür wurde aufgerissen, ein wahrscheinlich junger, vermummter Mann stürzte heraus, warf irgendetwas in Richtung des gegenüberliegenden Hauses und lief sofort zum Wagen zurück. Das Splittern von Fensterscheiben war zu hören, und plötzlich schlugen riesige Flammen aus der Wohnung im Untergeschoss. Börner sprang entsetzt auf, und in diesem Augenblick raste der Wagen mit quietschenden Reifen los. Das Fahrzeug hatte keine Kennzeichen.
Mit einem Schlag war die Idylle zerstört. Plötzlich schrieen die Menschen, Schaulustige kamen von überall her angerannt. Wie angewurzelt stand Börner auf dem Bürgersteig und sah auf das zerstörte Fenster, aus dem nun dichter Rauch quoll und nur noch vereinzelt Flammen züngelten.
Dann wollte er nur noch weg.
Ganz plötzlich war diese Idee in seinem Kopf gewesen: er durfte auf keinen Fall hier stehen bleiben. Es war klar, was nun geschehen musste: In ein paar Minuten mussten Polizei und Feuerwehr erscheinen, man würde vor allem nach Zeugen des Anschlags suchen. Wenn man einmal seine Personalien angegeben hatte, musste man auch mit einer Vorladung ins Präsidium rechnen.
Und da wollte er auf keinen Fall hin. Er wollte die ehemaligen Kollegen nicht wiedersehen. Keinen einzigen. Vor allem sollten die ihn nicht mehr sehen. Und angetrunken schon gar nicht. Sie würden natürlich Fragen stellen: Na, was machst du denn jetzt eigentlich? Was sollte er sagen? Und was hatte er schließlich mit den Problemen von Türken zu tun?
Er wünschte sich nur, dass es keine Neonazis war. Diese Knallcharge mit Glatze und Springerstiefeln hasste er wie die Pest. Dass er die Türken besonders in sein Herz geschlossen hätte, konnte er allerdings auch nicht gerade behaupten. Vor allem machte ihn das Geschwätz irgendwelcher sich progressiv gebender Deutscher wütend, die so taten, als handele es sich bei denen um so etwas wie eine aussterbende Spezies, die man unter Naturschutz stellen musste. Das Gegenteil war ganz offensichtlich der Fall. Und vielleicht war es ja so, dass die ersten gekommen waren, um die Arbeiten zu machen, die die Deutschen nicht mehr hatten machen wollen; aber von deren Kindern und Kindeskindern konnte man das nicht mehr unbedingt behaupten. Die verursachten vor allem Probleme. Du redest ja selber schon wie ein Nazi, hatte ihm vor kurzem irgendeine exaltierte Tunte in einer Schwulenkneipe in Essen ganz entsetzt vorgeworfen, und er war vor Wut fast explodiert: Hast du dir eigentlich schon mal überlegt, was die mit so Toleranz-Homoletten wie dir machen würden, wenn sie das Sagen hätten? Die Schwuchtel hatte sich empört von ihm abgewandt; vor allem aber hatte sie über eine Antwort auf seine Frage wohl noch nie nachgedacht.
Über die Grillostraße ging er zügig zu seiner Wohnung zurück. Bereits an der Einmündung des Kusswegs hörte er die Sirenen der Feuerwehr, dann raste ein Polizeiwagen mit Blaulicht an ihm vorüber.
Er konnte seine Nervosität kaum noch ertragen. Wenn ihn nun jemand dort hatte sitzen sehen? Ihn als verdächtige Person beschrieb oder sogar gekannt hatte? Es war nicht auszudenken. Vielleicht wäre es doch besser gewesen, am Tatort zu bleiben. Er glaubte, jeden Augenblick zu zerplatzen.
Als er wenige Minuten später nach Hause kam, hatte der Schlauch seiner Waschmaschine genau das schon längst getan. Die ganze Wohnung war unter Wasser gesetzt worden.
Die Nachbarn hatten die Tür zu seiner Wohnung von der Feuerwehr aufbrechen lassen. Einige von ihnen standen immer noch im Hausflur zusammen und ereiferten sich über die Ungeheuerlichkeit, die dieser undurchschaubare und letztlich fast unheimliche Mitbewohner da angerichtet hatte. In ziemlich barschem Ton klärte ein älterer Mann ihn über das auf, was passiert war, und Börner nickte nur. "Na bitte!", hörte er die zischelnde Stimme einer Frau. "Der ist doch schon wieder besoffen."
Er fühlte eine irrsinnige Wut in sich hochsteigen. "Leckt mich doch alle mal am Arsch!", wollte er schreien und die Wohnungstür mit einem lauten Knall hinter sich zuschlagen.
Beides ließ er bleiben. Es hätte ohnehin niemand geleckt, und außerdem war das Türschloss von der Feuerwehr aufgebrochen worden.
Das konnte ja heiter werden.