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Gegen Abend landete die Maschine in Düsseldorf, und mittlerweile störte es Börner schon, dass die Mehrzahl der Passagiere in geradezu frenetischen Beifall ausbrach, als die Räder des Flugzeugs auf der Landebahn aufsetzten. Was sollte nun auch noch dieser Unsinn! Wurde eigentlich auch gebuht, wenn solch ein Teil abstürzte? Der Pilot tat schließlich nur seine Pflicht, und weshalb sollte man ihm dafür applaudieren?

Börners Unausgeglichenheit steigerte sich zur Wut, als sich nur wenig später kaum einer der Fluggäste an die mehrfach wiederholte Aufforderung hielt, solange angeschnallt auf den Plätzen zu bleiben, bis die Maschine zum Stillstand gekommen war. Überall sprangen die Leute plötzlich wie auf ein vereinbartes Zeichen hin auf, standen sich in den schmalen Gängen gegenseitig im Weg und kramten Taschen, Jacken und andere Utensilien aus den Gepäckfächern über den Sitzreihen. Börner fand diese Leute geradezu widerwärtig; sie hatten es anscheinend nie gelernt, irgendetwas anderes zu sehen als ihre eigenen Belange. Er blieb nun erst recht sitzen und ärgerte sich anschließend darüber, dass er das Flugzeug als letzter verlassen musste.

An der Gepäckausgabe konnte er seine Wut dann kaum noch beherrschen. Das Gepäckband war ringsum von einer dichten Menschenmenge umlagert, die sich gegenseitig schubsten, an die Seite stießen und mit ihren Koffern und Taschen drangsalierten. Obschon Börner sehr schnell hinter dem Gewimmel seinen Koffer entdeckt hatte, hielt er es für besser, das Ding noch ein paar Ehrenrunden auf dem gleichgültig vorübergleitenden Gepäckband drehen zu lassen. An diesem albernen Gewühle würde er sich jedenfalls nicht beteiligen.

Endlich konnte auch er dann seinen Koffer nehmen und ihn gleich anschließend vor einem jungen Zollbeamten öffnen. Börner lachte resigniert: Er hatte es gewusst. Er hatte es einfach gewusst, dass es natürlich ihn treffen würde. Dass er dem Beamten deutlich sagte, was er von solchen Kontrollen hielt, veranlasste den jungen Mann aber offensichtlich nur dazu, nun ganz besonders intensiv zwischen dreckigen Socken, Unterwäsche und Jeans nach sonst was zu suchen.

Restlos geladen folgte Börner dann den Hinweisschildern zur S-Bahn-Station, verlief sich zweimal, und als er den Bahnsteig endlich erreichte, war der Zug gerade weggefahren. Der Zeiger der großen Stationsuhr wippte auf 20 Uhr 57, und ein Blick auf den Fahrplan machte Börner klar, dass er nun bis kurz vor halb zehn auf die nächste Bahn in Richtung Düsseldorf Hauptbahnhof warten musste.

Unruhig wanderten seine Blicke durch die S-Bahn-Station. Nichts interessierte ihn hier, überall war nur das, was man auch erwartete und ohnehin schon lange kannte: verdeckte Neonbeleuchtung, orangefarbene Fahrkartenautomaten, farbige Kacheln und riesige Plakatwände. Wer so etwas jeden Tag sah, freute sich schon auf seinen Jahresurlaub in Mallorca, nur um – dort angekommen – gleich bei seiner Ankunft das Gleiche zu sehen: verdeckte Neonbeleuchtung, Fahrkarten und Geldautomaten, farbige Kacheln und riesige Plakatwände.

Vor allem waren nirgendwo attraktive Männer zu entdecken. Die hatten heute Abend offensichtlich alle etwas Besseres vor als hier herumzusitzen. Dann hatte er die beiden Polizisten entdeckt, die mit der Rolltreppe in die Station kamen und nun langsam am Bahnsteigrand entlang gingen und sich unterhielten. Beide waren noch sehr jung, und vor allem der kleinere sah ziemlich gut aus. Als die beiden an ihm vorübergingen, fing Börner plötzlich an zu lachen. Die meisten Leute versuchten doch, aus dem letzten Hängearsch noch einen knackigen Hintern zu machen; bei der Polizei in NRW schien man sich Mühe zu geben, das Gegenteil zu bewirken. Diese Uniformen waren wirklich der letzte Schrei! Vor allem die Hose des Kleinen war etliche Nummern zu groß, der straff gezogene Gürtel ließ den Unterleib in einem großen ockerfarbenen Sack schlabbern, und der Arsch schien ungefähr in Höhe der Kniekehlen zu hängen.

Börner stand auf und warf seine Jacke über die Schulter; schon den ganzen Tag schleppte er das Ding mit sich herum, weil er alle wichtigen Papiere darin verstaut hatte. Dabei stieß die Zeitung unter sein Kinn, die immer noch in der Innentasche der Jacke steckte.

Seit Tagen hatte er sich einfach nicht dazu entschließen können, die Zeitung mit dem Bericht über den Mord im Altenheim wegzuwerfen. Nun war er froh, sich durch nochmaliges Lesen des Artikels von seiner miesen Stimmung ablenken zu können. Die ganze Sache war tatsächlich kaum zu glauben: Da legte ein Achtzigjähriger einen anderen Opa um, weil der ihn angeblich zeitlebens als Schwulen drangsaliert und erpresst hatte. Ganz recht so, dachte Börner, und dann kam ihm seine selbstzufriedene Haltung dumm vor. Wer sagte denn, dass die ganze Geschichte überhaupt der Wahrheit entsprach? Bei diesem Revolverblättchen waren Zweifel schließlich angebracht.

Aber zumindest das würde er schon herausfinden. Bereits vor Tagen hatte er sich vorgenommen, nachzuforschen, ob diese Geschichte tatsächlich so passiert war, wie sie in dem Zeitungsartikel beschrieben war. Der Tatort lag schließlich in unmittelbarer Nähe seiner Wohnung. Wie das zu tun war, das wusste er zwar noch nicht, aber nun machte es ihm Spaß, sich erste Pläne zurechtzulegen, und plötzlich schien ihm selbst eine Bahnfahrt von Düsseldorf nach Gelsenkirchen etwas zu sein, das man nicht einfach dem Zufall überlassen konnte. Er stand auf und informierte sich anhand der zahlreichen Fahrpläne. Dann war er ärgerlich; er würde erst um kurz vor halb zwölf in Gelsenkirchen ankommen.

Um kurz vor halb zwölf war er dann nicht nur ärgerlich. Lohnte sich überhaupt irgendeine Anstrengung, um letztlich hier anzukommen?

Auf den Bahnsteigen war nicht ein Mensch zu sehen. Den fast leeren Zug, der nun aus welchen Gründen auch immer noch bis Haltern weiterfuhr, hatte er als einziger verlassen. Mit der Rolltreppe fuhr er in die ebenfalls menschenleere Bahnhofshalle hinunter. Zwei türkische Jugendliche, die in diesem Augenblick von der Stadtmitte her die Halle betraten, um in die Neustadt – auch Klein-Istanbul genannt - zu gelangen, konnten selbst durch noch so lautes Gegröle kein Leben in diese städtebauliche Scheußlichkeit bringen. Ihr übermütiges Gelächter hörte sich eher an wie ein höhnischer Kommentar.

Irritiert nahm Börner seinen Koffer und ging los. Zur Haltestelle der Stadtbahn brauchte man wohl erst gar nicht zu gehen. Um diese Zeit fuhr bestimmt keine Bahn mehr. Außerdem hatte er noch etwas vor.

Er ging über die völlig ausgestorbene Bahnhofstraße. Außer Kaufhäusern gab es hier wirklich nichts. Keine Kneipe, kein Restaurant, gar nichts. Auch als er auf der Ebertstraße in Richtung Musiktheater ging, war weit und breit kein Mensch zu sehen. Nur aus einer Spielhölle kurz vor dem Theater waren Stimmen zu hören. Auch um diese Zeit saßen noch eine ganze Reihe von zumeist jungen Männern vor den blinkenden und klingelnden Automaten und versuchten das, was sie für das Glück hielten. Wenn er es in seiner weiteren Karriere tatsächlich noch zum Bombenleger bringen sollte, dachte Börner, dann würde er bei diesen Spielhöllen anfangen.

Am Theater bog er nach links. Auf dem Weg zu seiner Wohnung war das zwar ein Umweg, aber in den Grünanlagen hinter dem Theater begann der Kussweg. Noch in Düsseldorf hatte er sich vorgenommen, an dem Altenheim vorbeizugehen, auch wenn nun der Koffer immer schwerer und die Luft empfindlich kühl wurde.

Er folgte der vierspurigen Overwegstraße, weil er nicht durch die dunklen und verlassenen Anlagen laufen wollte. An der Einmündung der Grenzstraße blieb er einen Augenblick lang stehen. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite lag das Polizeipräsidium.

Hier war er fast anderthalb Jahr lang jeden Morgen treu und brav zum Dienst erschienen. Er war damals beim 1.K. gewesen, zuständig für Kapitalverbrechen, und wenn es so etwas überhaupt gab, dann war er ein guter Polizist gewesen.

Er spürte plötzlich eine tiefe Abneigung gegen diese Erinnerungen, und als er sich dann auch noch sagte, dass das alles nun schon über sechs Jahre her war, ging er schnell weiter.

Die Erinnerungen ließen sich nicht verdrängen.

Vielleicht heilte die Zeit ja tatsächlich alle Wunden. Aber dann brauchte man viel Zeit. Sehr viel Zeit.

Er dachte an seinen Kollegen Milewski und glaubte augenblicklich, dass die Zeit keine Wunden heilte.

Langsam überquerte er die Grenzstraße, passierte den Schulhof der Lessing-Realschule und stand dann vor dem Straßenschild, das er heute unbedingt noch hatte sehen wollen: Kussweg.

Börner sah auf seine Armbanduhr. Es war inzwischen zwanzig nach zwölf.

Der Kussweg sah um diese Zeit nicht sehr einladend aus. Nur wenige kleine Laternen beleuchteten den Weg. Auf der rechten Seite lag das Altenheim. Der gesamte Komplex schien wie ausgestorben; nur in der Empfangshalle, in die man durch den Hintereingang sehen konnte, brannte noch Licht. Zu sehen war niemand.

Hier war also der Tatort.

Der Klang des Wortes schien ihm plötzlich viel zu harmlos, überhaupt nicht geeignet, das auszudrücken, was er empfand. Allein das Wissen, dass genau hier ein Kapitalverbrechen verübt worden war, hatte ihn immer fasziniert.

Immer wieder ließ Börner seine Blicke über die dunkle Häuserfront streichen. Schließlich ließ er den Koffer auf dem Weg stehen und ging auf den Eingang zu. Noch einmal vergewisserte er sich, dass im Inneren des Hauses kein Mensch zu sehen war, dann drückte er die Klinke der Tür vorsichtig nach unten.

Die Tür war nicht verschlossen.

Als er Stimmen im Haus hörte, zog er die Tür schnell wieder ins Schloss, nahm seinen Koffer und ging weiter. Mehrfach blickte er sich um, weil er sich plötzlich einredete, dass ihm jemand folgte. Er war froh, als er endlich die Grillostraße erreicht hatte. Er bog nach rechts, und an der Kreuzung mit der Kurt-Schumacher-Straße blieb er stehen. Die Ampel zeigte Rot, aber weit und breit war kein Auto zu sehen.

Die Gleise der Straßenbahn auf der Berliner Brücke leuchteten matt im Neonlicht der Straßenlaternen. Irgendwo da auf der linken Seite lag der Schalker Markt, von dem nichts mehr geblieben war als seine Geschichte. Ein kleiner, verwahrloster Platz, halb unter dieser Hochstraße versteckt, die den Verkehr über ein riesiges Industriegelände führte.

Schalke brachte ihn schließlich wieder auf andere Gedanken.

In dieser Saison mussten sie die Rückkehr in die erste Liga einfach schaffen, sonst war es zu spät. Er nahm seinen Koffer und überquerte die menschenleere Straße. In der nächsten Saison kamen schließlich die Vereine aus der DDR hinzu. Wenn Schalke durch die nicht in die 1.Liga kommen sollte, dann musste man sich das mit der deutschen Einheit aber wirklich noch mal in Ruhe überlegen. Endlich hatte er die Leipziger Straße erreicht und stand vor seiner Wohnungstür.

Die Ankunft war dann genau so, wie er sich das auch vorgestellt hatte: Die eigene Wohnung, die er in den vergangenen drei Wochen oft genug vermisst hatte, machte ihn sofort verrückt. Wohin er auch kam, Richard Börner war anscheinend immer schon da! In weiser Voraussicht hatte er vor über drei Wochen einen Kasten Bier gekauft, den er nun gleich zur Hälfte niedermachte. Dabei blätterte er immer und immer wieder die vor seiner Wohnung gestapelten Tageszeitungen durch, als müsse ihm schon längst ein wichtiges Detail entgangen sein.

Das Ergebnis blieb aber enttäuschend. Nun wusste er zwar, dass der Mord im Altenheim tatsächlich am 20.April geschehen war, aber der ganze Rest der Geschichte stimmte anscheinend nicht. Vor allem wurde mit keinem Wort erwähnt, was ihn von Beginn an an dieser Sache interessiert hatte. Da war überhaupt nur diese dürre, fast lächerlich wirkende Notiz im Lokalteil vom 23. April: Am vergangenen Freitag kam es im Altenheim an der Schalker Straße zu einem außergewöhnlichen Mordfall. Ein 80jähriger Bewohner tötete einen ungefähr gleichaltrigen Mitbewohner mit einem Hammer. Die Polizei steht, was das Motiv der Tat betrifft, vor einem Rätsel.

Als Börner endlich völlig betrunken in sein Bett fiel, war es bereits fast sechs Uhr. Draußen war es längst hell geworden, und ein Maitag hatte begonnen, wie man ihn sich schöner nicht vorstellen konnte.

Morgen würde er den ganzen Fall schon auflösen, dachte Börner.

Er fiel in einen nur oberflächlichen Schlaf. Mehrfach wurde er wach und fragte sich jedes Mal, ob er tatsächlich geträumt hatte von dem, was an seinem letzten Abend auf Mallorca angeblich passiert war.

Er war in sein Hotelzimmer zurückgekehrt und hatte sich mit allen noch verfügbaren Resten betrunken. Dann war er in das Hotel an der Cala Ferrara gegangen, war dort zunächst wahllos durch das riesige Gebäude gelaufen, bis endlich Bewohner das Personal an der Rezeption auf einen etwa 30 bis 40 Jahre alten Mann aufmerksam gemacht hatten, der anscheinend völlig betrunken durch das Haus lief und sich an allen Türen des Gebäudes zu schaffen machte: Mittelgroß, schlank, dunkle Haare, Oberlippenbart. Das Personal hatte den Mann schließlich aufgegriffen und zur Rede gestellt: Seinen Freund suche er, hatte der Mann gesagt und diesen Freund auch beschreiben können: Mittelgroß, schlank, dunkle Haare, Oberlippenbart. Sogar den Namen hatte er nennen können: Tim heiße der. Tim Neubauer.

Und bei jedem Erwachen wusste Börner wieder, dass alles das nicht angeblich passiert war: Nie würde er den Augenblick vergessen, als zwei Angestellte ihn schließlich mit Gewalt aus dem Haus geworfen hatten. Vor allem nicht die teils mitleidigen, zumeist aber höhnischen Blicke der Hotelgäste, für die sein Auftritt ganz sicherlich das Highlight ihres Urlaubs gewesen war.

Er hasste solche Leute.

Vielleicht war es dennoch nur die Scham gewesen, die ihn schließlich veranlasst hatte, auch das eigene Hotelzimmer bereits Stunden vor der Abfahrt des Busses zum Flughafen zu verlassen. Mit seinem Gepäck hatte er in aller Herrgottsfrühe am Strand der Cala Ferrara gesessen und stundenlang das Hotel beobachtet, auf dessen Balkon er den Mann gestern gesehen hatte. Erst als er hatte befürchten müssen, den Bus zum Flughafen zu verpassen, hatte er sich mit seinem Gepäck auf den Weg gemacht.

Mit blauer Sprühfarbe musste in der vergangenen Nacht jemand auf die zum Ort führenden Treppenstufen etwas geschrieben haben; er glaubte mit Sicherheit sagen zu können, dass das Geschreibsel am vergangenen Abend dort noch nicht gewesen war: Es wäre ihm auf jeden Fall aufgefallen:

Cada momento es unico

No hay instantes vacias

Y las horas pasan

Como minutos a tu lada

Auch mit großem Latinum war ihm nicht gänzlich klar, was dieser Text bedeutete; er würde auf jeden Fall in einem spanischen Wörterbuch nachschlagen.

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