Читать книгу Privatsache - Thomas Hölscher - Страница 7
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ОглавлениеSchon immer waren Börners Probleme für seinen Ex-Kollegen Volker Milewski völlig unbegreiflich gewesen. Auch nach Alcudia wäre der nie gefahren, weil da zu wenig los war, und einen gewissen Chopin hätte er bestenfalls als französischen Weichkäse identifiziert.
Außerdem fuhr Milewski überhaupt nicht mehr nach Mallorca. Dorthin war er vor 15 und mehr Jahren mal gefahren; heute traf man doch da seine Putzfrau, und damit hatte das Ganze einfach kein Niveau mehr. Milewski plante Urlaube in Kenia, Australien oder Sri Lanka. Das war natürlich auch eine Frage des Geldes, aber davon hatte Milewski genug. Er arbeitete zwar noch bei der Polizei, aber mittlerweile hatten seine Kollegen recht, wenn sie behaupteten, dort verdiene er nur ein kleines Taschengeld. Der Hof in Erkenschwick, den seine Frau vor ein paar Jahren geerbt hatte, brachte nun endlich das, was sie sich von Beginn an davon versprochen hatten: eine Menge Geld. Mittlerweile besaßen sie mehrere Tennisplätze, eine Reithalle, ein Restaurant. Es war eben alles nur eine Frage des unternehmerischen Einsatzes. Heute konnte Milewski über seine früheren Bedenken nur noch lachen: Wenn man erst mal etwas hatte, musste man investieren, und irgendwann konnte man gar nicht mehr verhindern, dass sich das Geld wie von selbst vermehrte. Fünf Angestellte konnte sein Hof mittlerweile beschäftigen; im Sommer würden sie ein paar zusätzliche Arbeitskräfte benötigen.
Im vergangenen Jahr war er gar nicht in Urlaub gefahren. Die Aufgaben eines Unternehmers hatten so etwas einfach nicht zugelassen, und außerdem hatte seine Frau vor neun Monaten das erste Kind bekommen.
Milewski war ein Hüne von Gestalt, war blond, blauäugig, und jeder Opernregisseur hätte ihn sofort als jung Siegfried engagiert, wenn er nur hätte singen können. Aber Milewski hasste jede Form von Theater und war hinreichend damit beschäftigt, er selber zu sein. Und das gelang ihm nicht zuletzt wegen seines Aussehens auch ganz gut. Vor allem bei den Frauen.
In der Länge maß er über einsneunzig, und da in dieser Richtung in seinem Alter an eine weitere Ausdehnung nicht zu denken war, ging er seit ein paar Monaten verstärkt in die Breite. Jeden Donnerstagabend war er in einem exklusiven Fitness-Studio anzutreffen, dessen Besitzer unter der Hand auch Anabolika verkaufte. Natürlich war das riskant, was die Gesundheit anbelangte, und außerdem war es illegal, was niemand besser wusste als Hauptkommissar Volker Milewski. Aber wo kein Kläger, da kein Richter, und weil das Studio keine Muckibude für Proleten war und das Zeug zudem eine tolle Wirkung zeigte, hielten alle Beteiligten den Mund. Mittlerweile brachte Milewski stolze 99 Kilo auf die Waage, und vor allem seine Hemden und Jackets waren allesamt zu eng geworden.
Nur eines konnte Milewski nicht ertragen: wenn nämlich irgendjemand zu sagen wagte, er werde langsam zu fett. Für diese Fälle hatte er immer den gleichen Spruch parat: "Fett ist da gar nix! Alles Muskeln und Samenstränge." Wollte jemand das nicht glauben oder wagte sogar zu lachen, dann ließ Milewski andere mal hinlangen: an seinen Bizeps, seine Brust, die Waden. Der Schwiegervater kniff ihn auf dem Höhepunkt einer feucht fröhlichen Familienfeier einmal sogar in die strammen Arschbacken.
Seit ein paar Tagen hatte Milewski allerdings Probleme: denn plötzlich quälte ihn die Frage, ob diese Donnerstagabende in dem Fitness-Studio nicht letztlich eine Flucht waren. Eine Flucht vor dem Familienleben zu Hause, das er ohnehin noch nie hatte ertragen können. Dieses Baby schrie fast ununterbrochen, Ingrid war nur noch gereizt, aber immer ihm und nie dem schreienden Kind gegenüber, und sogar nachts verhinderte der verdammte Balg, dass er als Ehemann auf seine Kosten kam. Natürlich holte Volker Milewski jedes Mal den ausgefallenen Spaß mit anderen Frauen nach.
In der vergangenen Woche hatte die Schwiegermutter alles auf den Punkt gebracht: Mit dem Kind stimmt doch irgendwas nicht!
Er hasste seine Schwiegermutter leidenschaftlich, weil die in ihm noch nie mehr gesehen hatte als den kleinen Proleten aus einer Bergarbeiterfamilie, der mit dem Job bei der Polizei doch schon das Äußerste erreicht hatte; dessen unendlich peinlicher Vater vor drei Monaten endlich aufgrund seiner Sauferei von der Bildfläche verschwunden war; der aber vor allem auf Kosten der Tochter eines Vorsitzenden Richters am Landgericht nach oben kommen wollte. Es gab tausend Gründe für Milewski, die Alte zu hassen; nur mit der Bemerkung über das Baby hatte sie einfach recht gehabt.
Seit ein paar Tagen lief Ingrid nun mit dem Kind von einem Arzt zum nächsten, damit herausgefunden wurde, weshalb ein neunmonatiges Baby auf gar nichts reagierte, weshalb es eigentlich gar nichts anderes tat, als 24 Stunden täglich zu schreien.
Dieses traute Familienleben war auch der Grund, aus dem Milewski auf die Arbeit bei der Polizei auf keinen Fall verzichten wollte. Finanziell war dieser Job für ihn natürlich uninteressant; aber er brauchte einfach den Kontakt zu seinen Kollegen, diese acht bis zehn Stunden jeden Tag, die er nicht zu Hause verbringen musste.
Die Kollegen sahen das mittlerweile allerdings ganz anders. Niemand von ihnen würde es bedauern, wenn Milewski den Dienst quittierte. Früher war das ganz anders gewesen, da war Milewski bei allen beliebt gewesen, ein dufter Kumpel eben, der jeden Unsinn mitmachte oder sogar ausheckte. Aber seit einem Jahr war er der stellvertretende Leiter des 1.K. der Gelsenkirchener Kripo, und vieles hatte sich seither verändert. Es geschahen sogar Dinge, die früher ganz undenkbar gewesen wären: Milewski brüllte Kollegen an und schikanierte sie, wenn die es beispielsweise nur wagten, irgendwelche Wünsche bezüglich des Dienstplanes zu haben. Und wenn es einmal Druck von oben gab, wurde der von Milewski doppelt und dreifach nach unten weitergegeben. Einige Kollegen mutmaßten auch ganz offen über die Gründe für solche Veränderungen: Milewski war der Erfolg zu Kopf gestiegen, er hatte anscheinend vergessen, wo er herkam. Sein Verhalten sei außerdem typisch für jemanden, der unsicher war, weil ihm die Aufgabe über den Kopf wuchs.
Typisch vor allen Dingen für einen Mann, behauptete immer öfter und unverschämter eine junge Frau, die erst seit ein paar Monaten bei der Kripo in Gelsenkirchen beschäftigt war. Schon nach wenigen Tagen war sie als Emanze verschrieen gewesen und mittlerweile selber davon überzeugt, dass sie hier kein Bein mehr auf den Boden bekam.
Natürlich waren all diese Meinungen Milewski selber nicht verborgen geblieben. Anfangs hatten sie ihn betroffen gemacht, mittlerweile interessierte es ihn nicht mehr, was andere über ihn dachten. Und bei der Neuen lohnte es sich seiner Meinung nach nicht einmal, dass man die mal über den Tisch zog und ihr zeigte, was typisch war für einen Mann. Die war schließlich hässlich wie die Nacht, und einer solchen Kralle würde er nicht einmal den Mund stopfen.
Wütend knallte Milewski eine Akte auf seinen Schreibtisch, öffnete sie, blätterte lustlos darin herum und schob sie dann wieder weg. Was wussten diese Klugscheißer denn schon von ihm? Gar nichts. Die konnten nur meckern und mosern, aber die Verantwortung trug schließlich er. Und diese blödsinnige Geschichte musste natürlich auch noch gerade dann passieren, wenn sein Chef Hebemann Urlaub machte.
Eigentlich war der ganze Fall zum Totlachen: In einem Altenheim in Schalke hatte ein fast 80jähriger Mann einen ungefähr gleichaltrigen Mitbewohner mit ein paar Hammerschlägen auf den Kopf ins Jenseits befördert. Es war bekannt, dass sich der Mörder - ein gewisser Wilhelm Potthoff - und sein Opfer Friedrich Wilmers schon seit Kindheit an kannten; aber das war auch so ziemlich das Einzige, was am Ende der Untersuchungen feststand. Für alle blieb diese Tat ein Rätsel, auch für die Familienangehörigen der beiden gab es nicht die Spur einer Erklärung.
Und plötzlich lachte Milewski tatsächlich. Ihm war es von Beginn an völlig gleichgültig gewesen, weshalb Potthoff diesen unglaublichen Mord begangen hatte. Wahrscheinlich hatte Wilmers ihm beim Mittagessen in die Suppe gespuckt oder dessen Zahnprothese geklaut. Man musste diese Dinge doch auch mal von der praktischen Seite sehen: Solche Spielchen im Altenheim entlasteten einfach das Sozialamt und die Krankenkasse.
Auch die Staatsanwaltschaft hatte sofort signalisiert, dass an eine wirkliche Strafverfolgung schon wegen des Gesundheitszustands des Täters gar nicht zu denken war. Man hatte auf die biologische Lösung gehofft und damit auch Erfolg gehabt: nur wenige Tage nach der Tat war Wilhelm Potthoff verstorben.
Um wenigstens irgendetwas vorweisen zu können, war man auch davon ausgegangen, dass es in diesem Fall gar kein Motiv geben musste: vielleicht war Potthoff einfach völlig senil gewesen, und die Hammerschläge hätten jeden treffen können. Diese Möglichkeit hatten sie sogar mit Nachdruck verfolgt; denn in einem solchen Fall hätte man zumindest das Pflegepersonal wegen Verletzung der Aufsichtspflicht drankriegen können und damit die Aufgabe der Polizei erfüllt. Aber leider war auch daraus nichts geworden. Potthoff war trotz seines hohen Alters geistig angeblich völlig normal gewesen.
Aber wie auch immer, die Sache wäre eigentlich erledigt gewesen. Aber leider war sie es nicht, und wenn Milewski daran dachte, wurde er stinkwütend.
Denn dann war plötzlich dieser wahnsinnige Artikel in der Boulevardpresse erschienen: "Unglaublich aber wahr - Rechnung nach 50 Jahren beglichen". Irgendein idiotischer Journalist hatte den Fall zum Anlass genommen, daraus in der Sauregurken-Zeit eine ganz verrückte Räuberpistole zu machen: Der Mörder war angeblich homosexuell gewesen und war von Wilmers erpresst worden. Sein ganzes Leben sei das der Fall gewesen, und gerade in der Nazizeit habe er als Beamter ständig in Angst und Schrecken vor einer Denunziation leben müssen. Als sich die beiden nach fast 50 Jahren in dem Altenheim wiedertrafen, habe der todkranke Mann dann die Rechnung beglichen und seinen Peiniger ermordet.
Unglaublich war die Geschichte tatsächlich gewesen, nur wahr war sie nicht. In der Behörde hatte es jedenfalls einen Riesenwirbel um diesen abstrusen Artikel gegeben. Wer hatte einen solchen Unsinn in die Öffentlichkeit gebracht? Natürlich niemand, und dafür sprach eigentlich auch schon, dass die örtliche Presse an diesem Fall gar kein besonderes Interesse gezeigt und sich auf ein paar sachlich richtige Notizen beschränkt hatte. Und neben dem Ärger hatte es eben auch zusätzliche Arbeit gegeben: Man hatte die Behauptungen als mögliches Tatmotiv ernstnehmen müssen, neue Vernehmungen waren geführt, neue Protokolle verfasst worden, und alles war ausgegangen wie das Hornberger Schießen. Hauptakteur war ein junger Mann gewesen, der bei einer Lokalzeitung als Volontär arbeitete. Dieser Kerl hatte eine Art Reportage über den Alltag in der Nazizeit verfassen wollen und wegen dieser Sache auch schon mehrfach mit Wilmers geredet. Der Kerl bestand darauf, dass Wilmers den Potthoff als Schwulen bezeichnet habe; er gab auch zu, dass er sich mit einer solchen Story gerade an diese Zeitung gewandt hatte, weil er dort irgendeine Chance gewittert habe. Aber was dann letztlich als Zeitungsartikel erschienen sei, das sei nun wirklich nicht unbedingt von ihm gewesen.
Vor allem die Frau des Mörders hatte sich über den Zeitungsartikel entsetzt gezeigt. Kein Wort davon sei wahr, und obschon der Schreiberling die Unhaltbarkeit seiner Behauptungen schließlich hatte relativieren müssen, hatte die Frau Strafanzeige gestellt.
Missmutig kramte Milewski in irgendwelchen Papieren, die er dann auf den Schreibtisch seines Kollegen warf. Schließlich kam Hebemann morgen zurück, und der faule Sack sollte auch noch etwas zu tun haben.
Ganz plötzlich glaubte Milewski den Grund für seine augenblickliche Wut genau zu kennen: bei Wörtern wie homosexuell und schwul bogen sich ihm die Fußnägel. Ein derartiger Schweinekram erinnerte ihn an seinen Ex-Kollegen Börner, und es gab eigentlich niemanden, von dem er sich so sehr wünschte, ihn nie wieder zu sehen, wie eben diesen verlotterten Typen. Ekelhaft!, dachte er und schüttelte sich.
In diesem Augenblick klopfte es an die Tür.
"Herein, wenn's kein Türke ist!", rief Milewski gereizt, und dann erschrak er selber über diesen Satz, der ihm da politisch völlig unkorrekt herausgerutscht war.
Ein junger Mann trat in das Büro und sah Milewski einigermaßen verunsichert an. Er stellte sich als Praktikant von der Polizeischule in Bochum vor, und Milewski schickte ihn ziemlich unfreundlich ins nächste Zimmer. Er konnte sich doch nicht um jeden Firlefanz kümmern!
Dann fiel ihm die Sache mit dem Türken wieder ein. Früher hatten sie so etwas oft gesagt und darüber gelacht. Aber als stellvertretender Leiter des 1.K., das musste er nun zugeben, konnte er sich so etwas natürlich nicht mehr erlauben. Denken schon, aber nicht sagen. Das war politisch nämlich nicht korrekt.
Anscheinend hatte er sich an seine neue Rolle immer noch nicht so ganz gewöhnt.