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Schwester Elisabeths Gewissensbisse waren in der Tat völlig gegenstandslos. Mit Gott hatte Opa Wilmers schon lange nichts mehr am Hut, und auch mit der Welt von einem Tag zum anderen weniger.

Schon seit fast zwei Stunden beschäftigte ihn die Frage, ob er das hinter seinem Bett befindliche Sauerstoffgerät abschalten sollte oder nicht. Er glaubte zwar, dass er auf das Gas verzichten konnte, das durch einen dünnen Plastikschlauch unter seine Nasenlöcher geblasen wurde; aber das leise Zischeln und Brodeln der Apparatur beruhigte. Vor allem lenkte es ab vom Zischen und Brodeln der eigenen Lunge, das sich unweigerlich zu einer neuen Explosion steigern musste, wenn er sich auch nur geringfügig bewegte. Und diese entsetzlichen Hustenanfälle waren das einzige, das ihn noch in Angst versetzen konnte. Mit dem Tod hatte er sich längst abgefunden; aber an das Sterben konnte man sich nicht gewöhnen.

Außerdem war sein Spucknapf wieder bis zum Rand voll. Vielleicht hatten sie es wirklich nur vergessen, das Ding zu leeren. Vielleicht auch nicht, und auch das konnte man keinem übelnehmen. Bis vor ein paar Wochen noch hatte er das selber machen können. Für einen fremden Menschen musste es einfach eine Zumutung sein.

Er hörte, wie die Balkontür im Aufenthaltsraum geschlossen wurde. Die roten Ziffern seines Radioweckers standen auf 21 Uhr 48. Schwester Elisabeth hatte also ihre letzte Zigarettenpause am heutigen Tag beendet. Sie würde gleich noch einmal in sein Zimmer kommen, wie sie es jeden Abend tat, und wie jedes Mal würde er sich schlafend stellen, damit sie endlich mit gutem Gewissen nach Hause zu ihrer Familie gehen konnte. Er hörte ihre Schritte auf dem Flur näher kommen; dann wurde die Tür leise geöffnet. Ein breiter Lichtstrahl fiel in das dunkle Zimmer, und er schloss die Augen. Er hörte, wie die Frau vorsichtig durch das Zimmer schlich und sich hier und da zu schaffen machte, spürte, dass sie eine Zeit lang regungslos neben seinem Bett stand und ihn ansah. Es war ihm einfach peinlich, für sie fast überdeutlich den Lebenden zu spielen, wo ihm doch das Totsein keine Angst mehr machen konnte. Zumindest glaubte er das, und dann entfernten sich ihre Schritte, das Licht verschwand, die Tür wurde behutsam ins Schloss gezogen.

Er verspürte plötzlich eine tiefe Enttäuschung. Gerade noch hatte er die Chance gehabt, ein paar Worte mit einem Menschen zu wechseln, jetzt war es zu spät, nun lagen mindestens acht unerträglich lange Stunden vor ihm. Es würde langweilig, fürchterlich langweilig werden, und das war überhaupt das Schlimmste: diese entsetzliche Langeweile, die man nicht einmal zugeben konnte, wenn man die anderen nicht enttäuschen wollte. Die gaben sich schließlich alle Mühe, um selbst das Sterben erträglich zu machen. Er hörte, wie Schwester Elisabeth die Station verließ und in das oberste Stockwerk ging, wo sich das Personal umkleidete. Gleich würde sie wieder zurückkommen, die Station über das Treppenhaus verlassen, um sich bei der Nachtwache abzumelden, die immer im untersten Stockwerk saß.

Es ist einfach Zeit, dachte Friedrich Wilmers. Du fällst den anderen nur noch zur Last, sie ekeln sich vor dir, und wenn sie es geschickt verbergen, ist es nur noch schlimmer. Er wollte sich nun einreden, dass es sein innigster Wunsch sei, endlich tot zu sein.

Das fiel ihm nicht schwer.

Zuerst kam der stechende Schmerz unter den Hacken wieder. Er versuchte, ihn einfach nicht wahrzunehmen, scheuerte dann aber doch mit den Füßen über das raue Bettlaken, obschon er wusste, dass er genau das nicht machen sollte. Er hatte sich an einigen Körperstellen schon wundgelegen, sie hatten es ihm gesagt, etwas dagegen getan, und zunächst hatte er das alles nicht so ernst genommen, sogar noch Witzchen darüber gemacht. Aber in den letzten Nächten war es dann unerträglich geworden, vor allem an den Füßen.

Sein Blick ging zum Fenster. Wie mochte es nun draußen aussehen? Nass natürlich und ungemütlich. Trotz der bodenlangen weißen Gardine konnte er sehen, dass sie das Fenster verschlossen hatten, und er wusste, dass er nun das Sauerstoffgerät auf keinen Fall ausschalten konnte. Alleine der Gedanke, in einem völlig abgeschlossenen Raum zu sein, ließ ihn plötzlich nach Luft schnappen. Er musste sich zusammenreißen.

Vor einer Woche hatte sie seine Frau zu ihm gebracht. Sie war selber schwer herzkrank, lebte aber noch in ihrer Wohnung, weil der Arzt sich geweigert hatte, sie pflegebedürftig zu schreiben. Wenn sie Glück hatte, kam sie ins Krankenhaus, bis sie endlich ein Pflegefall war. Aber so lange konnte er nicht mehr warten und wollte es auch gar nicht. Er wollte plötzlich lachen: Schließlich hatte er jetzt zum erstenmal in seinem Leben ein Einzelzimmer, und er würde es mit niemandem mehr teilen. Ein Einzelzimmer, das das Sozialamt bezahlte; denn wer konnte schon die dreieinhalbtausend Mark im Monat selber aufbringen? Das konnte auch niemand ernsthaft wollen. Für die, die hier wohnten, hatte das Geld seine Bedeutung weitgehend verloren.

Nachts schien das Haus von einem sonderbaren Leben erfüllt. Es waren Geräusche zu hören, die tagsüber von der sinnlosen Hektik des Betriebs übertönt wurden, und in den endlosen Nächten hatte er mittlerweile eine wahre Meisterschaft darin entwickelt, die verschiedenen Geräusche zu identifizieren: Das leichte Glucksen in der Heizung, wenn die Pumpen das heiße Wasser durch die Röhren drückten, das Öffnen und Schließen verschiedener Türen, das leise Summen im Schwesternzimmer, wenn jemand die Nachtwache rufen wollte.

Die Schmerzen in den Füßen wurden plötzlich bohrender, und nun begann auch das Zwicken im Rücken wieder. Vorgestern hatten sie ihn darauf aufmerksam gemacht, dass er nun auch am Steißbein eine wunde Stelle hatte, sie hatten Salbe darauf geschmiert und ihm angeraten, sich möglichst oft auf die Seite zu drehen. Er hatte plötzlich Angst, die Geduld zu verlieren: Man konnte es ertragen, wenn eine Stelle des Körpers schmerzte. Wenn es überall zugleich wehtat, würde er es nicht länger aushalten. Und jeder noch so kleine Versuch, sich selber zu irgendeiner Seite zu drehen, würde augenblicklich den brodelnden Vulkan in seiner Lunge zum Ausbruch bringen. Den Tod konnte er sich mittlerweile sogar als einen guten Freund vorstellen; das Sterben aber nicht: die Vorstellung, eines Nachts völlig hilflos an seinem eigenen Schleim qualvoll ersticken zu müssen, war ihm immer noch ein Horror.

Irgendwann fiel ihm dann der Journalist wieder ein, der morgen wiederkommen wollte, und mit aller Macht klammerte er sich nun an diesen Gedanken. Je stechender der Schmerz wurde, desto mehr versuchte er sich auf den jungen Mann zu konzentrieren, der morgen noch einmal kommen wollte. Vielleicht schafften sie es morgen erneut, ein paar Stunden gemeinsam zu verbringen. Er würde jedenfalls alles daran setzen.

Obschon, was wollte dieser junge Mann eigentlich noch? Ursprünglich hatte der ihm gesagt, mit Hilfe von Zeitzeugen eine längere Reportage über die Nazizeit für die Zeitung schreiben zu wollen, und er hatte ihn stundenlang ausgefragt. Von fehlender Vergangenheitsbewältigung hatte der Mann geredet, als könne er sich wirklich ein Urteil darüber erlauben, und davon, dass die letzten Zeitzeugen langsam aber sicher verstarben. Es hatte ihm wirklich Spaß gemacht, sich mit dem Mann zu unterhalten, aber aus irgendeinem Grund hatte er alles das von Beginn an nicht ernst nehmen können. Sie hatten über Dinge geredet, die ja doch jeder kannte, über die Machtergreifung, die Zerstörung der Arbeiterorganisationen, Verfolgung, Versuche des Widerstands. Über all das hatte er dem jungen Mann aus der Perspektive eines einfachen Bergmanns auf der Zeche Consol berichtet. Und ihm selber war dabei eines immer klarer geworden: Das alles kannte doch jedermann seit Jahrzehnten, zumindest wenn jedermann es wissen wollte. Das Thema war ausgequetscht wie eine Orange, über die eine Dampfwalze hinweggerollt war. Und was man erzählen konnte, war ohnehin nie das, was wirklich passiert war. Das nahm man mit. Das letzte Hemd hatte zwar keine Taschen; aber das galt nur für das Geld.

Wirklich erzählt hatte er dem jungen Mann letztendlich ohnehin etwas ganz anderes, und die Erinnerung daran erfüllte ihn plötzlich mit einer tiefen Zufriedenheit. Irgendwann war Opa Wilmers dann eingedöst.

Es waren immer nur kurze, traumlose Phasen, in denen sich sein Bewusstsein plötzlich abschaltete, zu kurz sogar, um beim verhassten Erwachen die Orientierung verloren zu haben. Jedes Mal war alles schlagartig wieder präsent: der Schmerz, die Angst, dieser Raum, das Gurgeln des Sauerstoffgerätes, die Geräusche des Hauses.

Und doch hatte sich nun etwas verändert.

Die Tür war einen Spalt breit geöffnet, das Licht aus dem Flur lief in einem spitzen Winkel über die Zimmerdecke, die Gardine vor dem Fenster bewegte sich leicht. Irritiert sah Wilmers auf die Leuchtanzeige seines Weckers. Es war kurz nach Mitternacht.

Warum war er plötzlich so aufgeregt? Fast wollte er es genießen, dass er plötzlich so aufgeregt war, aber das gelang ihm nicht. Und dann blieb es dabei: Es hatte sich irgendetwas verändert.

Die Nachtwache hatte in den letzten Tagen immer erst gegen Morgen nach ihm gesehen. Natürlich nur aus einem einzigen Grund: Sie hatte sehen wollen, ob er noch lebte oder schon tot war. Sie würde wohl Ärger bekommen, wenn erst die Frühschicht den Tod eines Bewohners bemerkte. Es war aber erst kurz nach Mitternacht.

Nervös drehte er den Kopf nach links und rechts, der Sauerstoffschlauch rutschte unter seiner Nase weg, schien sich plötzlich um seinen Hals zu schlingen und den dringend benötigten Sauerstoff aufzuhalten. "Wer ist denn da?", brachte er mit Mühe heraus, und schon ließ der erste Hustenreiz den Körper verkrampfen.

Dann war klar, dass sich etwas verändert hatte: Die Schnabeltasse mit Tee, die der Zivildienstleistende ihm jeden Abend auf den Nachtschrank stellte, war umgestoßen worden, und noch immer war das Tropfen der Flüssigkeit auf dem Boden zu hören. "Da ist doch jemand!", rief Wilmers energisch, dann kam der nächste Hustenreiz, und augenblicklich war sein Mund voller Schleim. Es war ein Vulkan, der urplötzlich aus seinem brodelnden Inneren den aufgestauten Schleim nach oben presste und das Atmen unmöglich machte. Er musste die Nachtwache rufen und fingerte nach der Schelle, die irgendwo auf seiner Bettdecke liegen musste.

Wilmers sah noch die abrupte Bewegung neben seinem Bett, dann war sein sehnlichster Wunsch mit einem Schlag erfüllt.

Er war tot.

Um viertel nach zwölf erschien im Schwesternzimmer des untersten Stockwerks ein alter Mann bei der Nachtwache, der behauptete, gerade einen Mitbewohner getötet zu haben. Schwester Ingrid - auch sie war examinierte Krankenschwester und hatte jahrelang in der Psychiatrie gearbeitet - lachte lauthals und überlegte sofort, welches pharmazeutische Mittel dem alten Mann wohl am besten verabreicht werden könnte, um ihn zu sedieren. So sagte man immer, wenn man wollte, dass jemand endlich den Mund hielt und schlief.

Der Alte bestand aber hartnäckig darauf, dass die Schwester augenblicklich mit ihm in den dritten Stock fuhr und sich selber überzeugte. Da sie den alten Mann ohnehin wieder ins Bett bringen musste und außerdem aus Erfahrung wusste, dass man verwirrten alten Menschen nicht widersprechen sollte, redete sie nur beruhigend auf den alten Mann ein, nahm von dem Alten unbemerkt ein Röhrchen Valium aus dem Medikamentenschrank, setzte ihn schließlich in einen Rollstuhl und fuhr mit ihm in den dritten Stock.

Sekunden später fand Schwester Ingrid gar nichts mehr zum Lachen.

In der folgenden halben Stunde erwachte das Haus zu einem für die Tageszeit völlig ungewohnten Leben: Die Besatzungen zweier Streifenwagen erschienen als erste, die Kollegen von der Kripo nur wenig später. Schwester Ingrid informierte auch die Stationsschwester, dann die Heimleitung, und gegen kurz vor eins glich die Station im dritten Stock des Seniorenzentrums am Kussweg einem Tollhaus.

Es ging drunter und drüber, es wurde ein unglaublicher Lärm gemacht. Und letztlich verband doch alle Anwesenden auch etwas in diesem Chaos: Niemand konnte fassen, was da geschehen war.

Ein 80jähriger Mann, der seit fast zwei Jahren schon zusammen mit seiner Frau in dem Pflegeheim wohnte, hatte den 79jährigen Mitbewohner Friedrich Wilmers durch mehrere Hammerschläge auf den Kopf getötet. Er gab lediglich an, durch diese Tat eine uralte Rechnung beglichen zu haben. Und das Motiv war nur eines der vielen Details, die an diesem Abend im unklaren bleiben sollten. Es war schon kaum zu erklären, wie der als bettlägerig geltende Mann den Weg von seinem Zimmer bis zu seinem Opfer zurückgelegt haben konnte.

Und schließlich wusste niemand mehr weiter. Konnte man einen solchen Mann überhaupt festnehmen? Und wenn ja, wie? Mitsamt Krankenbett ins Präsidium rollen? Hauptkommissar Hebemann, erst seit einem knappen Jahr Leiter der Gelsenkirchener Mordkommission, war jedenfalls am Ende mit seinem Latein. Der anwesende Arzt überflog die Krankenakte des Mannes, wechselte ein paar Worte mit der Stationsschwester und lachte dann: "Ich glaube kaum, dass hier eine Fluchtgefahr besteht. Der haut Ihnen nicht mehr ab. Höchstens nach oben."

Hauptkommissar Hebemann verstand nicht und bestand irritiert auf einer exakteren Klärung.

"Dieser Mann ist todkrank. Er wird in den nächsten Tagen oder Wochen sterben", präzisierte der Arzt.

"Dass die aber auch nicht warten können, bis sie dran sind!", sagte ein anderer Kripobeamter, ein riesiger blonder Kerl, der schon die ganze Zeit sehr offensichtlich mehr Interesse für Schwester Ingrid als für diesen ungewöhnlichen Fall gezeigt hatte. Aber auch über dieses Scherzchen konnte niemand lachen.

Erst nach über zwei Stunden fiel das Haus wieder in die gewohnte Ruhe zurück; nur an Schlaf konnte kein Mensch denken.

Die Bewohner ohnehin nicht. Sie waren nur ruhig, weil das von ihnen erwartet wurde. Es war schließlich immer so, wenn einer starb: Sie wollten verhindern, dass die anderen es mitbekamen, und weil sie sich dabei so anstrengen mussten, bekam man es natürlich immer mit.

Aber in dieser Nacht war es tatsächlich ungewöhnlich laut gewesen.

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