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ОглавлениеCan Picafort war wirklich das Letzte!
Börner hatte den Leihwagen an der breiten Hauptstraße nach Alcudia abgestellt, war durch ein schachbrettartig angeordnetes Sammelsurium nichtssagender Gebäude zur Abwicklung von Massentourismus gelaufen und ging nun die Strandpromenade entlang. Vor ihm lag der weite Bogen der Bucht von Alcudia, links und rechts umschlossen von hohen Bergen, deren Ausläufer weit ins Meer hinausragten und sich im Dunst verloren; strahlend blauer Himmel, türkisfarbenes Wasser, und das einzige, was störte, war dieses Can Picafort. Aber das tat es massiv.
Der Strand war nur wenige Meter breit und soweit man sehen konnte mit sonnenhungrigen Touristen belegt. Eine kaum kniehohe Mauer trennte den Strand von der Promenade, die fast überall durch die Terrassen der zumeist riesigen, direkt ans Meer gebauten Hotels verstellt war. Scharen halbnackter Menschen saßen an kleinen Tischchen, tranken irgendetwas oder stopften in der Mittagshitze Berge von Essen in sich hinein und schauten dösig und gelangweilt in die wunderschöne Gegend. Aus den zum Meer hin offenen Bars und Restaurants dröhnten hemmungslos die Schlager der Saison und mischten sich auf der Promenade zu einem kaum erträglichen Lärm. Auf großen Schildern wurde auf deutsch und englisch angepriesen, was noch gegessen, getrunken und unbedingt noch erlebt werden musste. Gelegentliche Hinweise in der Landessprache gaben der Szenerie etwas Exotisches und sollten den Menschen wahrscheinlich nur das Gefühl vermitteln, tatsächlich Urlaub im Ausland zu machen.
Nach nur wenigen Minuten wollte Börner weg. Egal wohin, nur weg hier.
Er lief zum Wagen zurück, konnte aber wegen der unglaublichen Hitze darin nicht sofort einsteigen, sondern musste einen Augenblick beide Türen aufsperren, dann fuhr er los.
Weshalb war er überhaupt nach Mallorca gekommen? Ihn musste der Teufel geritten haben! Er hatte zu allem Überfluss auch noch eines der angeblichen Sonderangebote der Vorsaison gebucht: zwei Wochen zahlen, drei Wochen bleiben. Wütend sah er auf den Kalender seiner Armbanduhr, aber der hatte sich seit heute morgen, als Börner das letzte Mal ungeduldig auf das Datum geschaut hatte, noch kein Stück bewegt: Noch immer war es Montag, der 30.April 1990, und keinen Tag später. Eine Woche musste er noch aushalten, obschon es ihm mittlerweile lieber wäre, diese eine Woche zu bezahlen und dafür sofort nach Hause fliegen zu dürfen.
Er trat energisch auf das Gaspedal, und der lahm gefahrene Leihwagen, ein Corsa mit leicht verbeulter Motorhaube, beschleunigte langsam auf fast 120. Links und rechts der Straße zogen bald ausgedehnte Kiefernwälder vorbei, auf der rechten Seite waren in dem lichten Grün hohe Sanddünen zu erkennen. Er verringerte die Geschwindigkeit wieder. Es tat gut, diese hässliche Ansammlung von Hotels, Bars und voll gefressenen Menschen nicht mehr zu sehen.
Bereits nach ein paar Tagen seines sogenannten Urlaubs hatte ihn der Mechanismus eingeholt, der ihn auch zu Hause kaputt machte: Er nahm sich vor, sich zu ändern, bewusster zu leben, sinnvolle Dinge zu tun, aber es dauerte nie lange, und alles schlug um in die Beliebigkeit, war plötzlich völliger Unsinn. Er hatte sich sogar Bücher über Mallorca gekauft, sich informiert, Pläne gehabt: auf organisierten Rundfahrten hatte er sich erzählen lassen, wann welcher Ort von wem und warum gegründet worden war, weshalb hier Steineichen und Pinien, dort aber Mandelbäume, Oliven und Johannisbrotbäume wuchsen, Antworten auf Fragen erhalten, die er sich noch nie gestellt hatte. Und jedes Mal hatte er es ganz plötzlich satt gehabt. Sollten sie doch hier anbauen, was sie wollten, er wusste doch nicht mal, wie diese blöden Dinger überhaupt aussahen, und es interessierte ihn auch nicht die Bohne. Den idyllischen Zufluchtsort von Chopin und seiner Geliebten, der Schriftstellerin George Sand, hatte er ebenfalls mit dem Leihwagen besucht, aber schon auf dem Weg nach Valldemosa hatte er nicht mehr gewusst, was er da eigentlich sollte. Sein Verhalten war ihm schließlich völlig idiotisch vorgekommen, weil er so krampfhaft nach Sinn suchte, wo doch alles Firlefanz war. Nach Geschichte, wo alles so unübersehbar und unausweichlich ein aufgeblasenes und völlig überflüssiges Heute war.
Insgeheim wusste er auch schon, dass er heute nicht mehr wie geplant nach Alcudia fahren würde. Und dann mussten auch nur noch die ersten Häuser der stark zersiedelten Umgebung von Port de Alcudia auftauchen, und Börner kehrte um. Er hatte es satt und wollte zurück nach Cala d'Or. Der Ort lag im Südosten der Insel, die Fahrt würde sicherlich eine Stunde in Anspruch nehmen. Vor ein paar Wochen hatte ein starkes Unwetter die Insel heimgesucht und auch einige Straßen unpassierbar gemacht.
Nur sein Hotelzimmer hatte ihn überrascht. Da ließ es sich aushalten. Von seinem Balkon im zehnten Stock konnte er sogar das Meer sehen. Gebucht hatte er Übernachtung und Frühstück, auf das er aber jeden Tag verzichtete. Ihm waren die Leute einfach zuwider, die sich auf das Büffet stürzten, als hätten sie wochenlang nichts zu essen bekommen. Außerdem hatte er Angst, die anderen Gäste würden seine Fahne bemerken, die er morgens immer hatte. Er nahm sich zwar jeden Tag vor, heute mal ausessen zu gehen, aber er tat es nie. Jeden Tag ging er in einen anderen der zahlreichen Supermärkte und deckte sich mit reichlich Alkohol für die langen Abende ein, die er ausnahmslos auf seinem Balkon im zehnten Stock verbrachte, wo er sich dann einredete, der Urlaub tue ihm wirklich gut. Nur ab und zu hasste er die vielen Menschen, deren ausgelassener Lärm meist bis weit nach Mitternacht aus dem Ort zu ihm drang.
Am schlimmsten war es am vergangenen Donnerstag gewesen; da hatte er im Suff seinen 34.Geburtstag gefeiert, die Leute ringsum ganz besonders verachtet und sich bis zum frühen Morgen seinem Weltschmerz hingegeben.
Cala d'Or war dazu angetan, Börners Suche nach irgendeiner sinnvollen Beschäftigung zu fördern. Der Ort war in den letzten Jahren aus dem Boden gestampft worden, und noch immer deuteten wie planlos in den rostroten Boden gestanzte Straßen darauf hin, dass die Bauwut noch lange keine Ende gefunden hatte. Die Küste war hier felsig und fiel fast senkrecht ins Meer; nur in den engen Buchten waren kleine Sandstrände aufgeschüttet worden. Obschon es erst Ende April war und die Saison kaum begonnen hatte, waren diese Sandkästen für Sonnenhungrige schon am Morgen überfüllt.
Börner saß jeden Tag auf den Klippen und sah stundenlang aufs Meer. Der harte und von der Witterung zerfressene Felsen hatte seine Turnschuhe bereits völlig ruiniert. Manchmal döste er auch kurz ein, wenn er sich nur lange genug von dem Rhythmus der Brandung hatte einlullen lassen. Vor allem hatten es ihm die Geräusche der Wellen angetan, die in die Auswaschungen der Felsen schlugen, keinen Platz mehr fanden und mit prasselndem Geräusch wieder aufs Meer zurückgeworfen wurden. Nur wirklich schlafen konnte er nie.
Und dass man die Zeit vergessen konnte, glaubte Börner ohnehin nicht.
Dabei war gerade das letzte Jahr dazu angetan, so schnell wie möglich aus der Erinnerung gestrichen zu werden. In diesem Monat bekam er zum letzten Mal sein Arbeitslosengeld, und was dann kam, das wusste er einfach nicht. Die Leute vom Arbeitsamt natürlich auch nicht. Aber was sollten die denn für ihn auch finden? Was sollte man machen mit jemandem, der anscheinend ohne jeden Grund vor sechs Jahren den Dienst bei der Kripo verlassen hatte? Der anschließend in einem Anwaltsbüro in Essen gearbeitet hatte und dort wegen Arbeitsverweigerung rausgeflogen war?
Gar nichts konnte man mit so einem machen.
Nicht zu vermitteln.
Vielleicht einen Strick schenken.
Mittlerweile war er eine arme Sau. Das hatte ausnahmsweise nichts mit Selbstmitleid zu tun, es war einfach so. Die Reise nach Mallorca hatte er sich nur antun können, weil er seinen Wagen verkauft hatte. Ein Mann aus der gerade zerfallenden DDR war ganz heiß gewesen auf den alten Golf-Diesel und hatte viel zu viel für den Schrotthaufen bezahlt. Der Rest des Geldes reichte vielleicht noch für zwei Monate.
Und dann? Es war ihm völlig schleierhaft.
Vielleicht konnte er sich ja als Stricher ein paar Mark verdienen. Natürlich war diese Idee verrückt, und doch hatte er sich in den letzten Tagen immer öfter im Spiegel betrachtet und seinen Marktwert bei anderen Schwulen taxiert. Trotz seiner Sauferei sah er eigentlich noch ganz gut aus. Aber mit 34 würde es für einen fulltime-Job in dieser Branche ohnehin nicht mehr reichen. Höchstens zur Aufbesserung des Taschengeldes.
Das Ortsschild von Cala d'Or tauchte auf, und Börner sah auf seine Uhr. Es war kurz nach drei. Er konnte den Wagen also noch nicht zurückbringen, das Büro war um diese Zeit geschlossen. Er stellte den Wagen mitten im Ort ab und stieg aus.
Er stand direkt vor einem unglaublichen Angebot von Tageszeitungen. Es gab hier einfach alles: englische, deutsche, französische, niederländische, italienische Zeitungen, und schon mehrfach hatte er sich gefragt, wie dieser ganze Kram so schnell hier sein konnte. Börner durchwühlte mürrisch das Angebot und blätterte in verschiedenen Zeitungen, obschon Schilder in fehlerhaftem Deutsch und Englisch darauf hinwiesen, dass man genau das nicht tun sollte. Schließlich kaufte er eine WILD-Zeitung.
Gerade in den letzten Tagen war dieses Revolverblatt endgültig peinlich geworden. Die Annexion der DDR war bereits beschlossene Sache, im Juni sollte die D-Mark auch dort eingeführt werden, und wegen derartiger nationalen Großereignisse brachte WILD seine Schlagzeilen fast nur noch in schwarz-rot-gold. Schon mehrfach hatte Börner das Gefühl gehabt, dass Ausländer diese Schlagzeilen skeptisch angesehen hatten.
Im Aufzug zu seinem Balkon im zehnten Stock vergaß Börner die erste Seite; sie war schwarz-rot-gold und interessierte ihn überhaupt nicht. Was ging es ihn schließlich an, wieviel D-Mark die DDR-Bürger bekommen sollten? Dass er vom nächsten Monat an keine mehr bekam, machte ihm viel mehr Sorgen. Wenn ihn in diesem Zusammenhang überhaupt etwas interessierte, dann war es die stets mit einem mulmigen Gefühl verbundene Frage, wie lange diese Gesellschaft noch fähig und willens war, sich einen Paradiesvogel wie ihn zu leisten; es gab für ihn keinen Zweifel daran, dass das Klima schon in allernächster Zukunft rauer würde. Und kälter. Die Einverleibung der DDR würde schließlich vor allem ein Heer neuer Arbeitsloser bedeuten und die Toleranz gegenüber solchen Leuten noch weiter reduzieren. Auf der vierten Seite seiner Lektüre blieb der Aufzug stehen.
Und dann wollte Börner seinen Augen nicht trauen: Gelsenkirchen in der WILD-Zeitung, das gab es auch nicht alle Tage! Und als er den Artikel "Unglaublich aber wahr - Rechnung nach 50 Jahren beglichen" überflogen hatte, begannen seine Hände zu zittern: Das Altenheim, in dem dieser angeblich unglaubliche Mord geschehen war, lag nur wenige Straßen von seiner Wohnung in Schalke entfernt.
Er wollte nach Hause. Jetzt erst recht.
Am letzten Tag, das hatte er sich bereits seit Tagen vorgenommen, wollte er auf keinen Fall trinken. Der Bus zum Flughafen würde ihn bereits um fünf Uhr morgens abholen und er hatte eine panische Angst davor zu verschlafen. Außerdem wollte er in einem bis auf den letzten Platz ausgebuchten Ferienbomber keine Alkoholfahne haben, selbst wenn das wegen der zu erwartenden großen Zahl an Ballermann-Touristen wohl nicht sonderlich auffallen würde. Um müde zu werden, lief er den ganzen Tag durch den kleinen Ort, bis er selber davon überzeugt war, es könne nun keinen einzigen Stein in diesem Kaff geben, an dem er nicht mindestens zweimal bereits vorbeigelaufen war. Am Morgen und in der prallen Sonne des Mittags waren die Straßen kaum belebt, aber bereits am späten Nachmittag gingen ihm die Massen von zumeist halbnackten und schamlosen Proleten auf den Geist, wie sie in aller Regel lärmend durch diese alberne und billige Glitzerwelt liefen und auf den zu dieser Zeit noch kaum besetzten Terrassen der zahlreichen Bars Alkohol tranken und grölten, während auf riesigen Fernsehern in einer irrsinnigen Lautstärke Fußballspiele der englischen Premier League gezeigt wurden. Am frühen Abend setzte er sich außerhalb des Ortes in einer schmalen Bucht auf die Klippen und war wütend überzeugt davon, dass es tausendmal besser war, arrogant zu wirken, als sich mit einem solchen Mob zu beschäftigen.
Cala Ferrara hatte auf einem Hinweisschild neben der steilen Treppe gestanden, die zu dem kleinen Strand der von zerklüfteten Felsen eingefassten Bucht führte. Es waren kaum noch Menschen auf dem Strand, und der Lärm des Ortes war hier so gedämpft, dass er selbst gegen das leise Plätschern der Wellen keine Chance hatte. Von seinem Platz aus blickte er auf einen riesigen Hotelkomplex auf der gegenüber liegenden Seite der Cala, der aus den frühen 70er Jahren stammen musste und mittlerweile einen etwas heruntergekommenen Eindruck machte. Der Betonkoloss verschandelte natürlich die wunderschöne Badebucht und trotzdem kam ihm die Kulisse urplötzlich vor wie aus einer anderen Welt. Aus den Augenwinkeln glaubte er schließlich sogar auf einem der zahllosen Balkons einen attraktiven Mann gesehen zu haben, der zu ihm hergeschaut hatte, aber als er genauer hinschaute, war dort nichts und niemand zu sehen. Außerdem war die Tür zum Balkon verschlossen und die Jalousien vor dem Fenster ließen keinen Blick zu in das dahinterliegende Zimmer.
Der Mann hatte Ähnlichkeit mit ihm selber gehabt, das wusste er noch. Und sofort war ihm der Gedanke peinlich.
Man müsste, dachte er plötzlich, sich eine Geschichte ausdenken, in der ein Schwuler in eine solche Situation kommt: Er steht genau hier und sieht auf einem der Balkons des Hotels auf der anderen Seite einen Mann, der ihm sehr ähnlich sieht. Der dort eigentlich gar nicht hinpasst. Der Sehnsucht macht, schon weil er dort eigentlich gar nicht hinpasst. Und weil er plötzlich verschwunden ist und die Zeit immer schon viel zu kurz war, von dem Mann irgendetwas wirklich in Erfahrung zu bringen. Der Schwule wird alles tun, um diesen Mann zu finden, unbeirrbar wird er sich im Hotel nach diesem Mann in diesem Zimmer erkundigen, und wenn man ihm schließlich sagt, dass dort überhaupt kein Gast wohne, das Zimmer schon seit Wochen nicht belegt sei, wird er es erst recht nicht glauben, weil es einfacher ist, allen anderen Oberflächlichkeit oder sogar dreiste Lügen zu unterstellen, als sich mit einer Realität abzufinden, in der die Fakten für die eigene Sehnsucht ohne jeden Zweifel einfach nicht existent sind: Die platonische Vorstellung der Liebe, man sei im Grunde das ganze Leben nur auf der Suche nach der anderen, vor aller Zeit von einem getrennten Hälfte seiner selbst, war eben nur eine Geschichte. Ein Mythos.
Vielleicht nicht einmal ein besonders angenehmer; aber immerhin beschrieb er etwas, das sonst schon aus Scham einfach nicht sagbar war.
Dass das alles so nicht stimmte, dachte er plötzlich und war selber erstaunt, wie aggressiv und zugleich bedrückt und verzweifelt ihn dieser Gedanke machte. Vor mittlerweile über 4 Jahren war seine eigene andere Hälfte in seinem Leben aufgetaucht. Und das nicht als Sinnestäuschung.
Ganz konkret verfaulten die Überreste dieser anderen Hälfte seit über vier Jahren irgendwo auf einem Friedhof im Bochumer Norden.
Irritiert und verlegen drehte er an dem Ring, den er seit über vier Jahren an der rechten Hand trug.
Dann war ihm seine Rührseligkeit peinlich.