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5. Kapitel: Vernunft und Wissenschaft

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Beim Rechnen sucht man durch Addition der Teile entweder das Ganze, oder durch Subtraktion des einen Teils von dem anderen den Rest. Geschieht dies nun mit Worten, so tun wir nichts anderes, als daß wir die Benennung eines einzelnen Teiles mit der des Ganzen vergleichen, oder die Benennungen des Ganzen und des Einzelnen mit der des übrigen Teiles, und bilden uns aus der Folgerung einen Begriff. Obgleich es aber bei der Rechenkunst außer dem Addieren und Subtrahieren auch noch andere Verrichtungen gibt, wie z.B. das Multiplizieren und Dividieren, so sind sie doch im Grunde einerlei; denn beim Multiplizieren werden gleiche Teile zusammengezählt, und beim Dividieren wird eins und dasselbe so oft abgezogen, als es sich tun läßt. Dies läßt sich auch auf mehreres anwenden, da diese Verrichtungen nicht nur bei der Rechenkunst vorkommen, sondern bei allem, was addiert und subtrahiert werden kann. Wie nämlich die Arithmetiker bei den Zahlen zusammenzählen und abziehen, so wollen es die Mathematiker auch gemacht wissen mit den Linien, Figuren, Winkeln, Verhältnissen, Bestimmungen der Zeit, Graden der Geschwindigkeit, der Kraft, der Stärke usw. Auf dieselbe Weise verfahren die Logiker bei den Schlüssen; durch Zusammensetzung zweier Wörter bilden sie einen Satz, zwei Sätze veranlassen ihren Schluß; durch mehrere Schlüsse entsteht der Beweis und von der Schlußfolge ziehen sie, wie von einer Summe, einen Satz ab zur Auffindung eines neuen. Setzen doch auch die Politiker mehrere Verträge zusammen, um die Obliegenheiten der Menschen dadurch zu bestimmen, so wie die Rechtsgelehrten Gesetze und Handlungen, wenn sie das Recht und Unrecht in den Handlungen einzelner Menschen gegeneinander ausfindig machen wollen. Wo also Addition und Subtraktion stattfindet, da ist auch immer die Vernunft anwendbar, und im Gegenteil bleibt sie unanwendbar, wenn jenes wegfällt.

Aus dem bisher Gesagten läßt sich die Vernunft erklären, d.h. die Bestimmung dieses Wortes angeben, insoweit man darunter ein Vermögen des Geistes versteht. In diesem Sinn genommen ist Vernunft eine Art von Rechnen; man mag dabei allgemeine Begriffe zusammensetzen oder abziehen, und diese mögen nun dazu dienen, daß wir unsere eigenen Gedanken ordnen oder anderen vorlegen: ich sage: ordnen , das geschieht, wenn wir nur für uns denken, vorlegen aber, wenn wir andere davon überzeugen wollen.

Wie aber ein Rechenmeister aus Mangel an Übung zuweilen falsch rechnet, so können auch sonst wohl die erfahrensten, geübtesten und aufmerksamsten Denker sich irren und falsche Schlüsse ziehen, und zwar nicht darum, als ob die Vernunft selbst zuweilen unrichtig führe, welches sie so wenig wie die Rechenkunst an und für sich tut; sondern weil die Gewißheit durch die Vernunft eines Einzelnen, ja sogar Vieler zusammen so wenig erhöht werden kann, wie eine übrigens richtig geführte Rechnung es dadurch noch mehr werden müßte, weil mehrere sie als richtig befunden haben. Bei einer jeden in dieser Rücksicht entstandenen Streitigkeit müssen daher die Parteien statt der gesunden Vernunft, sich freiwillig der Vernunft eines gewählten Schiedsrichters unterwerfen, weil sonst ihr Streit auf keine andere als gewalttätige Weise entschieden werden kann, da uns die Natur mit keiner richtigen (rectae rationis) Vernunft ausgestattet hat. Dies gilt von jedem anderen Streit. Denn wenn selbstsüchtige Menschen sich weiser als alle anderen dünken und sich überlaut auf die Entscheidung der echten Vernunft berufen, so wollen sie eigentlich nur, daß man den Ausspruch ihrer eigenen Vernunft gelten lasse. Dies würde aber in der menschlichen Gesellschaft ebenso lästig sein, wie wenn jemand beim Kartenspiel diejenige Farbe zum Trumpf machen wollte, von der er gerade die meisten Blätter hat. Diejenigen, welche nun ihre herrschenden Leidenschaften bei ihren eigenen Streitigkeiten zur echten Vernunft erheben wollen, machen sie es nicht ebenso, und geben sie nicht selbst durch eine solche Forderung zu erkennen, daß ihnen die echte (oder richtige) Vernunft fehlt? Die Vernunft wurde uns nicht dazu gegeben, daß wir nur eine und die andere Wahrheit aus den anfänglichen Definitionen der Begriffe durch mehrere Schlüsse folgern sollen. Hat sie mit solchen Definitionen den Anfang gemacht, so leitet sie daraus immer neue und neue Definitionen her; doch bleibt die letzte Folgerung ungewiß, wenn nicht die bejahenden und verneinenden Sätze, woraus sie hergeleitet wurde, ihre gehörige Gewißheit haben. Wenn sich ein Hauswirt die Rechnungen seines Verwalters geben läßt und sich damit begnügen wollte, nachzusehen, ob die einzelnen und kleinen Summen, in den verschiedenen Rubriken zusammengerechnet, die Hauptsumme ergeben, ohne jedoch zuvor zu untersuchen, ob die kleinen Summen von dem Rechnungsführer auch richtig aufgeführt sind: so würde er besser tun, wenn er, voll Vertrauen auf die Geschicklichkeit und Treue seines Verwalters, sich lieber gar keine Rechnungen vorlegen ließe. Ein gleiches gilt von einem jeglichen Gegenstand vernünftiger Überlegungen; wer sich dabei nur auf andere verläßt, deren Urteil blindlings annimmt und nicht aus einzelnen Begriffen selbst entwickelt, der tut so viel als nichts; er weiß nichts, sondern glaubt nur.

Wenn jemand außerdem in einzelnen Fällen schließen und urteilen will, was bei dem, welches er sieht, wahrscheinlich entweder vorangegangen sei, oder darauf folgen werde, und das, was ihm wahrscheinlich dünkt, nicht zutrifft: so ist dies, in dieser Hinsicht, ein Irrtum , und der Gefahr des Irrtums ist auch der Klügste ausgesetzt! — Wenn wir aber mit allgemeinen Sätzen zu tun haben, und eine allgemeine Folgerung herausbringen, die falsch ist, so ist dies, wenn es gleich gemeinhin Irrtum genannt wird, dennoch in der Tat eine Unsinnigkeit oder Widerspruch. Beim Irrtum findet nur eine Täuschung in der Vermutung über daß Vergangene und Zukünftige statt; traf dieselbe auch gleich nicht ein, so war sie doch möglich. Bei einer allgemeinen Schlußfolge aber macht der Mangel der Wahrheit sie auch unbegreiflich. Die Wörter nun, welche außer dem Schall nichts in sich fassen, nennt man bedeutungslos und widersinnig , wie z.B. e in Viereck ist rund; Substanzen sind ohne Materie; der Untergebene ist frei . Spräche jemand dergleichen, so würde man von ihm nicht sagen: er irrt , sondern man erklärt es für Unsinn .

Zu den Vorzügen des Menschen vor den Tieren rechnete ich vorhin die Fähigkeit, daß er nach angestellter reiflicher Überlegung sowohl die Folgen, als den für ihn möglichen Nutzen einer Sache ausfindig machen kann. Dieser Vorzug wird noch dadurch erhöht, daß er imstande ist, sich allgemeine Regeln zu entwerfen, welche Lehrsätze und Einsichten heißen; oder mit anderen Worten: er kann seine Vernunft nicht allein bei Zahlen, sondern auch bei allen übrigen Dingen, die vermehrt oder vermindert werden können, gebrauchen.

Dieser ausschließliche Vorzug wird aber durch etwas anderweitiges, gleichfalls Eigentümliches geschmälert, da der Mensch, und sonst keine andere Kreatur, nur allein des Unsinnes fähig ist, und diesem sind die sogenannten Philosophen am meisten ausgesetzt. Cicero sagt sehr wahr: es wäre nichts so widersinnig, daß es nicht in den Schriften der Philosophen gefunden werden sollte. Die Ursache hiervon ist leicht einzusehen; denn bei allen fängt der Gang ihrer Gedanken mit der Auslegung und Definition derjenigen Worte an, die sie gebrauchen wollen; eine Lehrart, die sonst den Geometrikern eigentümlich ist.

Trifft man dergleichen Widerspruch in irgend einer anderen Wissenschaft an, so liegt der Grund davon in der fehlerhaften Lehrart, weil man dabei nicht von der Definition der Wörter ausgeht. Es ist ebenso, als wenn jemand zählen wollte, ohne sich zuvor den Wert der Zahlwörter bekannt gemacht zu haben. Die jetzt angegebene Ursache hiervon ist eine allgemeine.

Weil aber (wie schon im vorhergehenden Abschnitt erwähnt worden ist) körperliche Dinge in verschiedener Hinsicht Gegenstände vernünftiger Betrachtungen werden können, so entstehen auch hier viele Widersprüche daraus, daß diese Hinsichten nicht genugsam unterschieden werden; welches alsdann veranlaßt, daß man sich vermittelst einer unrichtigen Verbindung der Wörter seine Sätze schafft.

Zuerst gehört dahin, wenn man den Eigenschaften Benennungen beilegt, die nur Körpern zukommen, und so umgekehrt. Wenn man z.B. sagt: der Glaube werde eingegossen oder eingeblasen, welches beides doch nur von körperlichen Dingen gesagt werden kann; oder auch, wenn behauptet wird: Ausdehnung sei ein Körper und Erscheinung (phantasma) sei ein Geist usw.

Zweitens, wenn man Benennungen der Eigenschaften fremder Körper den Eigenschaften unserer eigenen Körper beilegt, wie z.B. die Farbe sei im Gegenstand, der Schall in der Luft usw.

Drittens, wenn man die Benennungen der Körper auf Benennungen unserer Begriffe anwendet; z.B. es gibt allgemeine Dinge, oder Tier ist eine Art.

Viertens, wenn die Benennungen der Eigenschaften von den Benennungen unserer Begriffe gebraucht werden, z.B. die Erklärung sei die Natur eines Dings, oder jemandes Befehl sei sein Wille.

Fünftens, wenn man sich statt der eigentlichen Benennungen metaphorischer oder anderer bildlicher Ausdrücke bedient; denn wenn man auch im gemeinen Leben z.B. wohl sagt: der Weg geht, oder führt hier- oder dorthin; ferner das Sprichwort will das oder jenes sagen; so darf sich doch der, welcher nach Wahrheit strebt, dergleichen Ausdrücke eigentlich nicht erlauben.

Sechstens, wenn man ohne Grund eingeführte und nichtssagende Wörter hören läßt, wie z.B. Wesenswandlung (transsubstantiatio), Mitwesenheit (consubstantiatio), ewiges Jetzt (nune stans) und andere scholastische Wörter. Wer diese Klippen vermeidet, wird nicht leicht in Gefahr geraten, Unsinn zu sagen, es müßte denn etwa bei einer sehr langen Reihe von Schlüssen geschehen. Denn wie leicht kann man nicht einen gleich anfangs angenommenen Satz außer acht lassen; geht man aber von wahren und deutlichen Grundsätzen aus, so wird man auch von selbst nicht anders als gleich und richtig schließen. Gerät in der Geometrie jemand auf einen Irrtum und wird dieser ihm gezeigt, so muß derselbe von äußerst beschränkten Begriffen sein, wenn er ihn nicht sogleich einsieht.

Hieraus wird klar, daß die Vernunft uns nicht so angeboren ist, wie Empfindung und Gedächtnis, und daß sie nicht durch bloße Erfahrung wie die Klugheit, sondern durch anhaltenden Fleiß erworben werden muß. Zuvörderst gebraucht man nämlich passende Benennungen, dann schreitet man auf eine richtige Art von den einzelnen Begriffen zu Sätzen und von diesen zu Schlüssen, bis man endlich alles, was zur Wissenschaft gehört, durch Folgerungen herausgebracht hat. Empfindung und Gedächtnis haben es mit einzelnen Tatsachen zu tun, Wissenschaft hingegen mit Verbindung derselben untereinander. Durch wissenschaftliche Kenntnis wird man in den Stand gesetzt, das, was man einmal getan, nach Gefallen zu jeder anderen Zeit zu wiederholen; denn so oft wir sehen, woher, woraus und wodurch gewisse Wirkungen entstehen, lernen wir auch, durch ähnliche Ursachen, insofern sie in unserer Gewalt stehen, ähnliche Wirkungen hervorzubringen.

Solange Kinder nicht sprechen können, haben sie auch noch keine wirkliche Vernunft, und sie werden nur wegen der Anlagen dazu vernünftige Geschöpfe genannt. Viele Menschen haben den Gebrauch der Vernunft und sie wenden dieselbe auch hier und da, wie z.B. beim Rechnen, an; fürs gemeine Leben aber lassen sie dieselbe ganz unbenutzt, wo sich einige besser, andere schlechter führen, je nachdem sie sich durch Erfahrung, Gedächtnis oder Neigung voneinander unterscheiden, und vor allem, wie sie durch Glück oder Unglück und einer durch den anderen irregeleitet werden. Wissenschaft und feste Grundsätze sind ihnen so fremd, daß sie außer ihren Begierden keine anderen Lebensregeln kennen. Die Geometrie hat mancher für eine Zauberkunst gehalten. In Hinsicht der übrigen Wissenschaften verhalten sich diejenigen, welche mit den Anfangsgründen derselben entweder ganz unbekannt geblieben oder doch nicht so weit darin gekommen sind, daß sie einsehen, wie und wodurch man dazu gelangt, gegen dieselben ebenso wie ein Kind bei der Kenntnis von der Erzeugung des Menschen; es glaubt seiner Wärterin, welche ihm weismacht, daß seine Geschwister nicht geboren, sondern im Garten gefunden worden wären.

Doch sind diejenigen, welche, mit aller Wissenschaft unbekannt, bloß aus einer Art von natürlicher Klugheit handeln, besser dran als solche, welche entweder durch selbstgemachte oder durch angenommene unrichtige Schlüsse auf allgemeine, aber falsche und widersinnige Regeln verfallen; denn aus der Unbekanntschaft mit den wahren Ursachen und Regeln entspringen nicht so grobe Irrtümer, wie aus unrichtig angenommenen Ursachen und Regeln.

Eine deutliche, durch richtige Erklärungen gehörig bestimmte und von allen Zweideutigkeiten gesäuberte Art des Vortrags ist gleichsam das Licht des menschlichen Geistes; die Vernunft macht die Fortschritte , Regeln machen den Weg zur Wissenschaft aus, und Wissenschaft hat das Wohl der Menschen zum Ziel. Metaphern aber und nichtssagende oder zweideutige Worte sind Irrlichter, bei deren Schimmer man von einem Unsinn zum andern übergeht, und endlich, zu Streitsucht und Aufruhr verleitet, in Verachtung gerät.

Wie eine lange Erfahrung Klugheit gibt, so entsteht durch eine ausgebreitete Wissenschaft Weisheit . Damit aber der Unterschied zwischen beiden sichtbarer werde, so wollen wir uns zwei verschiedene Menschen denken. Der eine davon besitze von Natur eine außerordentliche Geschicklichkeit im Fechten; dem anderen aber sei außer dieser natürlichen Geschicklichkeit noch überdies die erlernte Kenntnis der Regeln eigen: wie, wo und in welcher Lage man dem Feind beikommen oder selbst von ihm verletzt werden könne. Beide verhalten sich nun gegeneinander wie Klugheit und Weisheit; beide sind nützlich, die letztere aber unfehlbar. Wer nur in Schriften gefundenen Entscheidungen traut, gleicht einem Blinden, der sich von anderen Blinden führen läßt; oder dem, welcher im Vertrauen auf die falschen Regeln eines Fechtmeisters einen wohlgeübten Feind angreift und entweder getötet oder entwaffnet wird.

Wissenschaft hat ihre Kennzeichen: einige davon sind gewiß und unfehlbar, andere unzulässig . Zu den ersten gehört: wenn jemand das, was er zu wissen vorgibt, andere lehren und es als wahr beweisen kann; zu den zweiten aber, wenn das, was er für Wahrheit ausgibt nur in einigen, nicht aber in allen Fällen dafür anerkannt werden kann. Deshalb sind die Kennzeichen der Klugheit allzumal unsicher. Denn keiner ist imstande, von alledem, was er gesehen und erlebt hat, die jedesmal zum Erfolg erforderlichen Umstände zu bemerken und sich derselben nachher zu erinnern. Das ist aber gewiß nichts weniger als Klugheit, wenn man in solchen Fällen, wo keine unfehlbare Wissenschaft leitet, voll Mißtrauen auf sein eigenes Urteil sich nur der Leitung berühmter Schriften überläßt. Unter denen, die in Staatsversammlungen so gern ihre ausgebreiteten Kenntnisse in der Regierungskunst und der Geschichte zu Tage legen, werden nur wenige, sobald die Rede von ihren eigenen Angelegenheiten ist, sich dieser Lieblingsneigung überlassen; weil jedweder bei seinen eigenen Angelegenheiten die nötige Klugheit anwendet. Bei öffentlichen Geschäften hingegen denkt man gewöhnlich mehr an den zu erlangenden Nutzen als an das Geschäft selbst.

Leviathan | Deutsche Übersetzung der Original-Ausgabe von 1651

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