Читать книгу Leviathan | Deutsche Übersetzung der Original-Ausgabe von 1651 - Thomas Hobbes - Страница 5
EINLEITUNG
ОглавлениеDie Natur oder die Weisheit, welche Gott in der Hervorbringung und Erhaltung der Welt darlegt, ahmt die menschliche Kunst so erfolgreich nach, daß sie unter anderen Werken auch ein solches liefern kann, welches ein künstliches Tier genannt werden muß. Denn da Leben doch nichts anderes ist als eine solche Bewegung der Glieder, die sich innerlich auf irgend einen vorzüglichen Teil im Körper gründet, warum sollte man nicht sagen können, daß alle Automaten oder Maschinen, welche wie z.B. die Uhren durch Federn oder durch ein im Innern angebrachtes Räderwerk in Bewegung gesetzt werden, gleichfalls ein künstliches Leben haben? Ist das Herz nicht als Springfeder anzusehen? Sind nicht die Nerven ein Netzwerk und der Gliederbau eine Menge von Rädern, die im Körper diejenigen Bewegungen hervorbringen, welche der Künstler beabsichtigte? Doch die Kunst schränkt sich nicht nur auf die Nachahmung der eigentlichen Tiere ein, auch das edelste darunter, den Menschen, bildet sie nach. Der große Leviathan (so nennen wir den Staat) ist ein Kunstwerk oder ein künstlicher Mensch, — obgleich an Umfang und Kraft weit größer als der natürliche Mensch, welcher dadurch geschützt und glücklich gemacht werden soll. Bei dem Leviathan ist derjenige, welcher die höchste Gewalt besitzt, gleichsam die Seele, welche den ganzen Körper belebt und in Bewegung setzt; die Obrigkeiten und Beamten stellen die künstlichen Glieder vor; die von der höchsten Gewalt abhängenden Belohnungen und Bestrafungen, wodurch jeder einzelne zur Erfüllung seiner Obliegenheiten angehalten wird, vertreten die Stelle der Nerven; das Vermögen einzelner Personen ist hier die Kraft, so wie das Glück des Volkes das allgemeine Geschäft; die Staatsmänner, von welchen die nötigen Kenntnisse erwartet werden, sind das Gedächtnis; Billigkeit und Recht eine künstliche Vernunft; Einigkeit ist gesunder, Aufruhr hingegen kranker Zustand und Bürgerkrieg der Tod. Die Verträge endlich, welche die Teile dieses Staatskörpers verbinden, sind jenem bei Erschaffung der Welt von Gott gebrauchtem Machtworte gleich: Es werde oder laßt uns Menschen machen.
Um die Natur dieses künstlichen Menschen näher zu beschreiben, muß betrachtet werden:
1) Der natürliche Mensch, der dessen Inhalt und Künstler zugleich ist. 2) Wie und durch welche Verträge jener entstanden, welche Rechte, welche Gewalt und Macht er habe, und wem die höchste Gewalt zukomme.
3) Was ein christlicher Staat sei.
4) Und schließlich: Was daß Reich der Finsternis genannt werden müsse.
Im Betreff des Ersteren behaupten zwar viele, man könne die Weisheit nicht sowohl aus Büchern als aus dem Umgang mit dem Menschen selbst erlangen; und natürlich pflichten dieser Meinung diejenigen bei, die von ihrer Weisheit leider keinen anderen Beweis geben können, als daß sie mit vielem Selbstbehagen durch lieblose Urteile über ihre Mitmenschen sichtbar machen, wie wenig sie aus diesem Umgang gelernt haben. Es gibt aber eine andere bewährtere Anweisung, die sie, wenn sie wollten, zu einer gründlicheren Kenntnis anderer Menschen führen könnte; und diese liegt in den Worten: Lerne dich selbst kennen. Die hierin enthaltene Lehre spricht dem übermütigen Stolz Höherer gegen Geringere, der der ungesitteten Frechheit Geringerer gegen Höhere ganz und gar nicht, wie einige wähnen, das Wort, sondern sie will sagen: die Gesinnungen und Leidenschaften der Menschen, so verschieden sie auch immer sein mögen, haben dennoch eine so große Ähnlichkeit untereinander, daß, sobald jeder über sich nachdenkt und findet, wie und aus welchen Gründen er selbst handelt, wenn er denkt, urteilt, schließt, hofft, fürchtet usw., er auch eben dadurch aller anderen Menschen Gesinnungen und Leidenschaften, die aus ähnlichen Quellen entstehen, deutlich kennen lernt; ähnliche Leidenschaften also, nicht aber ähnliche Gegenstände der Leidenschaften; denn diese sind, wegen der innerlichen Beschaffenheit und der Erziehung einzelner Menschen so mannigfaltig und versteckt, daß der wahre Zustand ihres Herzens, welcher durch Verstellung und Irrtümer einem unleserlichen und verworrenen schriftlichen Aufsatz ähnlich geworden ist, nur dem Herzenskundigen allein verständlich bleibt. Wenn wir auch zuweilen aus den Handlungen der Menschen ihre wahren Gedanken zu erraten im Stand sind, so ist dies doch sehr schwer, wenn wir, teils nicht dabei zugleich auf das achten, was in uns selbst vorgeht, teils nicht auf die verschiedenen Nebenumstände Rücksicht nehmen, welche eine Sache sehr verändern können. Kann wohl jemand einen fremden Aufsatz in unbekannten Chiffren lesen, wenn er den Schlüssel dazu nicht hat? Gerade so werden wir auch entweder aus Leichtgläubigkeit oder aus übertriebenem Mißtrauen, je nachdem wir gut- oder schlechtdenkend sind, andere falsch beurteilen.
Auch der Hellsehendste kann nur seine vertrauten Freunde, deren es immer nur wenige gibt, recht kennenlernen. Wer hingegen eine ganze Nation leiten will, der muß aus sich selbst, nicht diesen und jenen Menschen, sondern die ganze Menschheit kennenlernen. Freilich ist dies schwer, schwerer als die Erlernung einer neuen Sprache oder jeder anderen Wissenschaft; gelingt es mir aber, meine Gedanken hierüber geordnet und deutlich auseinanderzusetzen, so wird es anderen desto leichter werden: da sie nur bloß prüfen dürfen, ob das, was ich sage, ihren Gedanken entspreche. Denn auf keine andere Weise ist hierin eine überzeugende Erkenntnis möglich.