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Die Reise zur ersten Glocke beginnt

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Zwei zarte Wesen, sich gegenseitig an der Hand haltend, schreiten durch eine sternenklare Nacht, die nur ganz zaghaft die Konturen der Landschaft zeigt, um sie nicht aus ihrem Schlaf zu wecken. Schritte so leicht, dass kaum Spuren zu sehen waren. Gongina hatte noch nie ihren Wald verlassen. Nach den ersten Schritten drehte sie sich noch einmal kurz um. Dann fragte sie den Kleinen Schatz, ob sie jemals wieder an diesen Ort zurückkehren wird.

„Du liebst diesen Wald, Deine Heimat, so, wie er Dich liebt! Wenn es auch so aussehen mag, als gingen wir, so ist es doch immer so, dass wir immer in dem sind, was wir lieben! Ich kann Dir nicht sagen, ob Du jemals wieder diesen Wald betreten wirst, weil unsere Reise lang sein wird, und sich vieles verändert. Du wirst Dich verändern und der Wald verändert sich. Und doch bleibst Du die, die Du immer schon warst, so, wie auch der Wald bleiben wird, was er ist.“, sagte der Kleine Schatz.

„Aber, wenn ich schon alles das bin, was ich jemals glaubte, sein zu können, wozu muss ich dann diese Reise mit dir machen?“, fragte Gongina.

„Du musst diese Reise nicht machen, wenn Du nicht willst! Wir alle sind auf der Reise, weil sich alles verändert. Wenige leben diese Reise mit jedem Atemzug, mit jedem Schlag ihres Herzens. Die wenigen Wanderer, die es gibt, tragen das, was sie brauchen bei und in sich. Die meisten aber sind zu Hütern ihres Gepäckes geworden, weil sie mehr haben, als sie zu tragen imstande sind. Ich habe einmal eine Geschichte von einem Roshi gehört, der eines Tages einen Besuch bekam. Als der Besucher die Kammer betrat, staunte er nur. Außer einem Tisch mit einem Stuhl und einem Bett fand sich nur ein kleines Regal mit ein paar Büchern darin. „Aber Roshi, wo sind denn all Eure Möbel?“, fragte dieser. „Und wo sind Deine Möbel?“, fragte der Roshi zurück. „Meine? Ich bin doch nur auf der Durchreise!“, antworte der Besucher. „Ich auch! Ich auch!“, entgegnete der Roshi. Grenofil liebt Dich! Wusstest Du das? Er liebt Dich so sehr, dass er Dich zu seiner Nachfolgerin machen wollte, traute sich aber nicht, mit der Tradition zu brechen. Er liebt Dich so, wie ein Vater seine Tochter liebt. Unter all den lachenden Dadafus hörte er nur das Deinige heraus. Dein Lachen. Dein Glück. Es wäre ein leichtes für ihn gewesen, Dir zu folgen, als Du fortgelaufen bist. Doch er entschied sich, zu bleiben, weil …“

„Weil was?“, fragte Gongina.

„Er liebt Dich!“, entgegnete der Kleine Schatz.

„Das ist doch nicht die Antwort auf meine Frage! Was ist weil …? Bitte, sag es mir!“

„Jede große Reise beginnt mit dem ersten Schritt. Jeder Schritt trägt in sich das Risiko, hinzufallen, weil wir dann für kurze Zeit nur auf einem Fuß stehen. Jeder Schritt ist eine Aufgabe … eine Aufgabe dessen, was wir geglaubt haben, erreicht zu haben! Grenofil liebt Dich! Er blieb auf seinem Stein sitzen, wissend, einen großen Schritt getan zu haben! Er hätte Dich und mich verraten, wäre er Dir gefolgt. Als Du vorhin das Gefühl hattest, dass ein Licht erlischt, ließ Grenofil es zu, von Argamon umarmt zu werden!“

Gongina wusste, was das „weil“ bedeutet, traute sich aber nicht, das zu glauben. Auch hatte sie Angst vor den Worten, die der Kleine Schatz sprechen würde, weil sie genau das aussprechen würden, was sie ohnehin schon zu wissen glaubte. Sodann begann sie zu weinen, weil sie zu begreifen schien, was Grenofil getan hatte. Und Ja! Sie lachte immer und war glücklich, weil sie wollte, das Grenofil glücklich ist, und … weil auch sie ihn liebte, sich aber nie traute, es ihm zu zeigen.

Während Gongina so stand und weinte, wischte sie sich ihre Tränen aus den Augen. Sodann stampfte sie voller wütender Entschlossenheit mit ihrem linken Fuß auf den Boden:

„Ich werde wiederkommen! Und Gnade Dir, Argamon, wenn wir uns begegnen sollten!“

Als hätte sie mit dem Auftreten ihres Fußes den Wind aus seinem Schlaf geweckt, zauste er ihren Pelz durcheinander und bildete kleine Wirbel, mit denen er Gongina und den Kleinen Schatz wie eine Spinne einzuhüllen versuchte. Dann begann er, den einzigen Fußabtritt so sorgsam mit Sand zu bedecken, als würde dieser die Ordnung stören. Dann wurde es bitterkalt, während am fernen Horizont ein Faden aus Licht aufblitzte. Die Nacht machte dem Tag Platz und hinterließ eine Front aus Kälte, die sich der aufgehenden Sonne entgegenzustellen versuchte. Die Sonne freute sich über diesen Empfang, denn lachend stieg sie empor und schaute neugierig über den Horizont ins Land.

Die Landschaft, in der sich Gongina und der Kleine Schatz fanden, war voller sachter Hügel, bewachsen mit einzelnen Bäumen. Die Kargheit täuschte eine Armut vor, in der sich Reichtümer für den finden, der mit wachen Augen und offenen Herzens in sie einzutreten vermag. Hier und da fand Gongina einen Busch oder eine Pflanze, deren Beeren sie naschen durfte; fand auch zarte Tautropfen, die sie verspielt mit der Zunge leckte. Eine Schar Spatzen badete im Sand, und Gongina fand, dass sie voller Freude sind, so, wie die Dadafus.

„Immer scheinen sie etwas zu haben oder zu finden, an dem sie sich erfreuen können, und keiner mag allein sein, weil Freude, die nicht mit anderen geteilt wird, keine Freude ist! Wie wir wollen sie nur Freude und daraus entstehende Freunde haben!“, dachte sie bei sich.

Ein sachte dahin schleichender Weg, einen Hügel hinauf, entwickelte sich sodann zu einem steinigen Pfad, dessen Steinchen sich zu Felsen verwandelten. Angelegt, um beschritten zu werden, hatte sich der Staub des Vergessens über ihn gelegt. Als Gongina und der Kleine Schatz den Gipfel hinter sich ließen, nahm die Luftfeuchtigkeit zu. Moose wuchsen hier und da. Farne lugten aus Felsspalten, aus denen Fäden fließenden Wassers hervortraten. Windschiefe Kiefern krallten sich an den Felsen fest. Aus der Ferne hörten sie das Rauschen eines Baches. Es roch nach Wald, nach unberührter Natur, nach Beeren und Harzen, nach Erde und Leben! Gonginas Herz fing vor Freude zu hüpfen an. Der Kleine Schatz indes wurde immer ruhiger, bis er erkannte, dass sie ihr erstes Ziel erreicht hatten. Der Bach hatte die Aufgabe, einen See mit frischem Wasser zu versorgen, an dessen Ufer ein Dorf errichtet war. Kinder spielten dort, lachten und freuten sich. Die Häuser schmiegten sich spiralförmig an und ineinander, und jedes zeigte auf seine Art, dass es voller Herzlichkeit war. Etwas abgelegen vom Dorf stand indes ein Tempel, der ganz und gar nicht zu dieser Kulisse passte.

„Bist Du sicher, dass wir an diesem Ort richtig sind?“, wollte Gongina wissen. „Der Bau dort hinten behagt mir nicht; ehrlich gesagt, habe ich Angst vor ihm!“

„Dann ist es ja gut, dass wir einander haben.“, entgegnete der Kleine Schatz. „Mir sagt dieser Tempel auch nicht zu, aber wir können uns die Prüfungen nicht aussuchen.“

Und tatsächlich gab es etwas Widersprüchliches zwischen dem Dorf und dem Tempel.

Um in das Dorf zu gelangen, mussten die beiden durch eine große Höhle, an deren Eingang ein alter Mann saß. Als er die beiden kommen sah, richtete er sich zuerst innerlich auf, bevor er sich zum Gruße bereit von seinem Stein erhob. Er trug ein graues Leinenkleid, dass hier und da schon Zeichen des Alters aufwies. Um die Hüfte herum hatte er ein Seil gebunden, an deren Enden sich winzige Glöckchen befanden. Sein Haupthaar, das durch eine Kapuze geschützt wurde, wirkte zart und zerbrechlich gegenüber dem langen grauen Bart. Bei sich trug er einen langen Holzstab, und es ist unklar, ob er den Stab hielt, oder dieser ihn!

„Seid gegrüßt ihr beiden. Aus der Richtung, aus der ihr kommt, kam schon lange kein Wanderer mehr. Sagt, was treibt euch in diese Gegend und wohin seid ihr unterwegs?“

Gongina traute dem Alten nicht. Ohne es zu wollen, trat sie einen Schritt hinter den Kleinen Schatz, wobei sich ihr Pelz aufstellte. Seine Augen schienen genauso grau zu sein, wie die Kutte, die er trug.

„Sei gegrüßt alter Mann! Wege entstehen, indem man sie geht! Du hast Recht! Auf diesem Weg scheint wirklich lange niemand gegangen zu sein. Als wir erkannten, dass er steinig und steil ist, war es für eine Umkehr zu spät. Sag, ist es möglich, dort im Dorf ein Quartier zu finden, wo wir essen und schlafen können?“, erwiderte der Kleine Schatz.

Die grauen Augen des Alten blitzen auf.

„Du sprichst wohl und Du weißt genau, dass Du nur mit mir sprichst, ohne meine Fragen beantwortet zu haben!“

Der Kleine Schatz setzte den Blicken des Alten zum Trotz sein schönstes Lächeln auf und sagte dann:

„Wohl wahr, dass ich so spreche, wie Du sagst. Aber ist es nicht so, dass Du die Antworten auf Deine Fragen selbst schon kennst? Die Antwort ist doch in der Frage schon enthalten; ebenso wie das Heilmittel in der Krankheit!“

Den Stab in Händen haltend, drehte der Alte den Stab auf einem kleinen Stein hin und her, bis dieser der Kraft nachgab und zu Staub zerfiel.

„Nehmt den Pfad dort drüben! Er wird euch zu dem bringen, was ihr sucht!“, sagte der Alte.

Mit dieser Antwort war aber der Kleine Schatz nicht einverstanden.

„Glaubst Du wirklich, dass ich diesem Weg gefolgt bin, ohne zu wissen, welches Ende er hat? Glaubst Du wirklich?“

Dann sprach es Worte, die nur dem Alten galten:

„Novutar sola tuta mi; tata mare soli ta … Novitaris!“

Der Kleine Schatz schien verärgert zu sein.

„So ist doch Dein Name? Novitaris! Ich bin der Schlüssel zu dem Schloss, dass Du zu behüten glaubst! Ich bin der Klang jener Glocke, die in diesem Tempel dort drüben seit Ewigkeiten zu schweigen scheint. Ich bin das Licht, das diesem Tempel fehlt!“

„Sola data minus, totalita samsana damdam! Sei willkommen Kleiner Schatz! Verzeih, dass ich Dich nicht gleich erkannt habe! Ich sitze seit Ewigkeiten hier und behüte das, was des Schutzes bedarf! Meine Augen haben die Farbe des Felsens angenommen, den ich anschaue. Nur meine Schellen erinnern mich mit ihrem Klang an das, was sie in sich tragen und geben mir die Kraft und Stärke, das zu ertragen, was sie mir auferlegt haben!“

Sodann legte Novitaris seinen Stab so liebevoll auf den Boden neben sich, als wäre dieser zerbrechlicher als Glas, ging in die Knie und legte seinen Kopf auf die Erde unter ihm.

„Sei willkommen, Kleiner Schatz, wir haben auf dich gewartet, und empfangen Dich mit offenen Armen!“

Gongina traute all dem Zufall noch immer nicht und hielt sich so am Kleinen Schatzen fest, dass dieser zu ihr blickte.

„Alles ist gut, Gongina! Hab keine Angst! Erlaube dem Zweifel nicht, sich in dir zu entfalten! Novitaris wird uns führen! Vertraue mir!“

Als Novitaris sich erhob, nahm er seinen Stab so, wie er ihn abgelegt hatte, verneigte sich kurz vor dem kleinen Schatz und zeigte dann den Weg, den die beiden würden gehen müssen, um ins Dorf zu gelangen.

„Nota sami tutamori sumifata! Viele Schatten werden euch auf dem Weg durch den Tunnel folgen! Verzeiht!“

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