Читать книгу Traumwelten - Thomas Hoyer - Страница 6

Die Sage vom Kleinen Schatz

Оглавление

Bevor Grenofil zu sprechen begann, schaute er seiner geliebten Gongina voller Freude in die Augen. Als er sah, dass sie seine Liebe erwiderte, setzte er sich auf den Stein und fing zu sprechen an:

„Geschichten, Sagen und Legenden mag jeder gerne hören. Es gibt Momente, da diese Geschichten nur der reinen Unterhaltung dienen, weil niemand da ist, der sie zu verstehen scheint! Dann wieder, wenn die Geschichte erzählt wird, sieht der Erzähler einen unter vielen, der zu verstehen scheint. Dessen Augen scheinen verträumt und doch voller Licht und Freude. Dann, wenn das geschieht, wird die Geschichte nur für diesen einen erzählt, der sie zu begreifen scheint, während die anderen sich unterhalten fühlen und nach dem Sinn suchen, der sich ihnen gegenüber aber versperrt. Geschichten, Sagen und Legenden treffen immer den, den sie betreffen! Viele von Euch kennen daher die Sage vom Kleinen Schatz, und auch heute, wie so oft, schauen meine Augen auf den, der in die Geschichte zu schauen vermag.“

Wenn er auch so tat, als schaute er einen jeden der Anwesenden an, so traf der liebevolle Blick doch immer auf das kleine Mädchen. Er wusste, dass der Bruch mit den Regeln bevorstand, ohne, dass er eine Entscheidung getroffen hatte; wusste, dass sie verstehen würde, weil ihr Blick eine Sehnsucht zeigte, die er in keinem der Blicke seiner Freunde jemals gesehen hatte.

„Der Kleine Schatz wurde in einer Welt jenseits der Welt geboren, die wir kennen. Damals gab es diese, unsere Welt noch nicht. Ein Herz, voller Liebe, schlug, und suchte in den Wirren des Universums nach seines gleichen. Da es nichts zu geben schien, was ihm glich, wurde diese Welt erschaffen. Überall wurde es Licht, und überall entstanden Welten und Galaxien, die in ihrer Einzigartigkeit und Helligkeit die Dunkelheit zu verdrängen versuchten. Bevor es das Licht gab, war alles dunkel! Bevor es die Zeit gab, stand alles still!“

Nachdem Grenofil diese Worte gesprochen hatte, neigte er seinen Kopf gen Erde, diesmal aber aus zwei Gründen: Er dankte dem großen Herzen für alles, was es geschaffen hatte, und war selbst so gerührt von den gesprochenen Worten, dass er seine Tränen vor den Blicken der anderen zu verbergen versuchte. Dann richtete er sich wieder auf, fuhr sich aber mit den großen Händen so durch das Gesicht, als würde er es sich waschen, was er in gewisser Hinsicht auch tat. Nur diesmal mit Tränen, statt mit Wasser! Als er in die Runde schaute, sah er, dass die anderen es ihm gleichgetan hatten, weil sie sich ebenfalls gen Boden geneigt hatten. Dann sah er Gongina, die wie er, zu weinen schien.

„Der Kleine Schatz wurde der Sage nach, in unsere Welt geschickt, um dem großen Herzen ein Spiegelbild zu sein. Alles aber war ruhig und still, lag in einem Schlaf versunken, der durch die Dunkelheit bewacht wurde. Nun aber traten die ersten Sterne hervor, die mit ihrem Licht in die Finsternis strahlten. Geblendet von diesem Licht wich die Dunkelheit zurück. Die Macht des Lichts, die Macht der Liebe, war so gewaltig, dass die Finsternis Angst bekam. Und so, wie sich das Licht entfaltete, fing die Finsternis ihrerseits an, sich gegen das Licht zu wenden. Die Finsternis geht niemals weg, sie weicht nur zurück! Wo Licht ist, ist auch immer Schatten!“

Als wollte sich Grenofil überzeugen, ob auch wirklich jeder verstanden hatte, was gesprochen wurde, schaute er wieder in die Runde. Dann lächelte er. Er sah freundliche Gesichter vor sich sitzen, deren dunkle Pelzzeichnung durch die am Himmel stehenden Sterne hervorgehoben wurde. „Ja“, dachte er bei sich, „ich lebe für euch, weil ich euch liebe!“

„Ist Liebe Licht? Ist Liebe warm und herzlich?“, unterbrach Gongina die nun eingetretene Stille. „Ich frage, weil ich das nicht verstehe! Wie kann die Liebe in Form des Lichts die schlafende Dunkelheit stören und sie verängstigen?“

Wenn Grenofil auch wollte, dass die Geschichte von jedem verstanden wird, so fürchtete er sich auch gleichzeitig vor den Fragen, die aufsteigen, wenn einer anfing, das, was nur für ihn gesprochen wurde, zu verstehen.

„Ich sehe Gongina, dass Du dem Kleinen Schatz sehr ähnlich bist“ entgegnete Grenofil, „denn der Kleine Schatz hat auch viele Fragen gestellt.“

„Aber, Fragen sind doch nicht schlecht, oder?“ entgegnete Gongina.

„Du weißt, dass ich Dich liebe! Du spielst mit der Rasselbande, als gehörtest Du schon immer dazu. Statt abzuwarten, bist Du immer mittendrin! Höre zu, lausche und versuche zu verstehen!“

Ohne, dass er es begriffen hatte, ohne, dass er eine bewusste Entscheidung gefällt hatte, wurde ihm klar, dass die Regeln neu aufgestellt worden sind, weil er Gongina nun als die ansah, die einst in seine Fußstapfen treten wird. Zwei oder drei Millimeter hinter dem Horizont, den Grenofil zu überblicken vermochte, wurde indes in diesem Moment eine Entscheidung getroffen, die seinen inneren Horizont bei weitem überstieg.

„Das Große Herz nahm wahr, wie sich die Dunkelheit benahm, nahm wahr, wie das Licht empfangen wurde. Die Sterne, Galaxien und Sonnen würden strahlen, würden ihr Licht der Dunkelheit entgegenhalten, und es zu verdrängen versuchen. „Um den Kleinen Schatz zu schützen, werde ich mit der Finsternis einen Pakt schließen!“ dachte das Große Herz. So wurde ein Vertrag erklärt, der besagt, dass dem Kleinen Schatz kein Schaden zugefügt werden dürfe. „Du darfst mit ihm sprechen, darfst ihm nahe sein, auch dann, wenn sein kleines Licht scheinen mag, aber Du darfst es niemals berühren!“ war die Forderung des Großen Herzens, auf das die Finsternis ihr Versprechen abgab, niemals Hand an den Kleinen Schatz legen zu wollen.

Ab diesem Moment saßen zwei Stellvertreter jeder Seite auf den Schultern eines Menschenkindes. Ein jeder versuchte, Kontakt zu halten zu dem Kleinen Schatz, und es kam oft vor, dass Übergriffe stattfanden, die durch einen Vertreter verursacht, durch den anderen ausgeglichen wurden. Der Vertreter der Finsternis, ein Teufel, war zuständig für das, was der Mensch tat, während der Vertreter des Lichtes, ein Engel, darauf schaute, was sich im Inneren des Menschen tat. Beide suchten den Menschen in eine Richtung zu ziehen, damit Innen und Außen sich im Menschen selbst zu dem formten, was das ICH genannt wird. Den Schlüssel zu diesem ICH aber hält der Kleine Schatz in seinen Händen, und es führt kein Weg zum ICH, ohne mit ihm in Kontakt zu treten. Dann aber sah die Finsternis, dass sich das, was das Licht zum Leuchten brachte, aufzulösen schien, und lächelte. „Alles, was zu sein scheint, so, wie das Licht, wird sich irgendwann in das auflösen, was ich bin!“ sagte die Finsternis zu sich selbst. „Ich bin auf einen Schein hereingefallen … einen Lichtschein!“ Und so, wie die Finsternis erhalten hatte, was sie nicht wollte, gab sie zurück, was niemand erwartet hatte! Jeden Gedanken und jede Idee begrüßte sie mit einer so intensiven Umarmung, dass jeder Lebensfunke in Gegenwart der Finsternis und Kälte derart schrumpfte, dass nur noch der flüchtige Eindruck eines Lichtscheins zu vernehmen war. In der Folge kam es zu einem Desaster! Das Licht der äußeren Welt diente dem Teufel dazu, die Menschen dazu zu bringen, dort die einzig wahre Wirklichkeit zu suchen und zu finden! Und der Engel schaute in eine innere Finsternis, die es ihm mehr und mehr schwerer machte, seine Aufgabe zu erfüllen! Manchmal saß der Engel weinend auf seiner Schulter, während der Teufel auf der anderen lachte! Mit der ihr eigenen Kälte schlug die Finsternis das Licht in den Menschenkindern klein, um es durch sich selbst zu ersetzen! „Du magst glauben, reich zu sein, während ich das Reich bin!“ dachte die Finsternis.

Während Gongina der Geschichte lauschte, schaute sie in den nächtlichen Himmel, der mit tausenden von Sternen auf sie hernieder schien. Dazwischen befand sich still die Finsternis.

„Kann man denn Garnichts dagegen unternehmen?“ unterbrach sie die Rede Grenofils. „Das Große Herz muss doch eingreifen, um gegen die Übermacht der Finsternis anzugehen. Sie muss doch den Menschkindern und damit dem Kleinen Schatz helfen! Muss sie doch! Oder nicht?“

Mit ihren großen Augen schaute sie nun erwartungsvoll zu Grenofil hinüber, der sie mit Augen voller Liebe ebenfalls anschaute.

„Eines Tages wirst auch Du verstehen, geliebte Gongina!“ dachte er. Diese Fragen hatte er einst auch gestellt, als er diese Geschichte das erste Mal hörte. Und wie Gongina lehnte er sich damals gegen die scheinbare Ungerechtigkeit auf. Damals aber nahm ihn Luidator mit auf einen ausgiebigen Spaziergang. An einem kleinen Teich, inmitten des Waldes, setzten sie sich dann nieder, um einem Sonnenuntergang zuzuschauen.

„Wo siehst Du diese Ungerechtigkeit, von der Du sprichst? Ist dieser Sonnenuntergang mit all dem, was er mit sich bringt, nicht wunderschön?“ fragte dann Luidator. „Alle überlieferten Geschichten tragen in sich verborgene Botschaften, die den treffen, den sie betreffen! Du mein junger Freund siehst Unrecht und scheinst nach Recht und Gerechtigkeit zu suchen! Ist es nicht so? Was aber ist das: „Recht und Unrecht“?

Grenofil schaute dann auf den Teich, sah dessen glatte Oberfläche, die hier und da durch einen Fisch kleine Wellen sehen ließ.

„Ist es Rechtens, wenn die Fische die glatte Oberfläche durch ihre Schwimmbewegungen stören? Hat der Teich nicht auch ein Recht auf ungestörte Ruhe?“ fragte dann Luidator, der den Blicken Grenofils gefolgt war.

„Das ist nur ein kleiner Teich mit Fischen drin! Was habe ich mit den Fischen zu tun? Hier geht es um etwas viel größeres!“ entgegnete Grenofil.

Luidator schaute seinen Schützling wie aus weiter Ferne an. „Sprich nur weiter, bitte! Sprich aus, was wie dieser Teich in Dir in Bewegung geraten ist.“, sagte Luidator.

Die untergehende Sonne färbte den Himmel in ein tiefes Goldgelb, dass in ein feuriges Rot überging. Der Teich ließ dieses Licht an seiner Oberfläche widerscheinen, so, als hätte er es satt, immer so monoton schwarz zu wirken. Es schien, als wären alle Anwesenden in die Stille gegangen, um der Stimme Grenofils zu lauschen.

„Muss denn alles Schöne vergehen?“, fing er zaghaft an. „Ich liebe dieses Leben, die damit verbundene Schönheit. Ich glaube, die Liebe verstehen zu können, die Licht und Farbe in dieses Leben bringt, so, wie die jetzt untergehende Sonne. Was kann die Finsternis gegen uns haben? Wir wollen doch nur glücklich und zufrieden leben! Gibt es etwas schöneres, als gemeinsam zu spielen und zu tummeln?“

Luidator sah in diesen Worten die Furcht vor der Veränderung, das verhaftet sein an das Leben und die Befürwortung einer Liebe, die Grenofil noch nicht verstehen konnte.

„Das Große Herz kennt weder Leben noch Tod, weil es nicht von dieser Welt ist. Ja, ich verrate Dir sogar ein noch viel größeres Geheimnis: In ihm gibt es weder Licht noch Finsternis. Das Formlose braucht die Form, um sich selbst erkennen zu können, so, wie sich das Verborgene danach sehnt, entdeckt und gefunden zu werden. Würde Dir das Spielen mit den anderen wirklich so viel bedeuten, wenn es nicht von Leben, Leichtigkeit und Glück begleitet wäre? Während Du mit den anderen spielst, bewegst und veränderst Du Dich! Alles verändert sich, weil die Zeit niemals stillsteht! Aber schau, während Du im Spiel bist mit den anderen, verliert alles andere außerhalb des Spiels an Wert und Bedeutung. Du bist sozusagen zum Spiel selbst geworden. Sich ganz in eine Sache zu vertiefen, heißt, in gewisser Hinsicht, zu dieser Sache zu werden! Das mag nur für einen kurzen Augenblick der Fall sein, aber wenn das geschieht, kennst du den Geschmack dessen, was die Geschichte auszudrücken versucht. Der Kleine Schatz hat die große Aufgabe, die Welt der unbewussten Materie mit der geistigen Welt zu versöhnen, was durch die Liebe ausgedrückt wird.“

Luidators Augen leuchteten, als er dies sagte, und Grenofil wusste, dass es wieder nur eines der vielen Rätsel war, die sein Mentor ihm gab, um dem Verstehen näher zu kommen.

„Gongina, Kind, beruhige Dich! Es wird alles Erdenkliche getan, ja, mehr noch! Es wird getan, was wir nicht zu denken und zu begreifen vermögen.“, sagte Grenofil lächelnd, als er aus der Erinnerung heraus in die Gegenwart zurückkam.

Doch Gongina stand weinend und auch wütend auf, stampfte zur Bestätigung mit einem Bein auf den Boden und sprach:

„Ich werde einen Weg finden! Ich werde dem Kleinen Schatz helfen! Wenn ihr euch nicht traut, Angst habt vor dem, was kommen könnte, dann braucht es nicht extra zu kommen, weil es euch in dieser Angst schon gefangen genommen hat!“

Dann rannte sie weinend und allein in den finsteren Wald. Die meisten der Anwesenden begriffen die Aufregung nicht, andere begriffen nicht, was Gongina gesprochen hatte, während wieder andere schliefen.

Traumwelten

Подняться наверх