Читать книгу Ein Leben dauert - Thomas Häring - Страница 4
2.Spielminute
ОглавлениеHabe mich langsam damit arrangiert, daß ich auf der Erde gelandet bin. Hätte schlimmer kommen können, na gut, war nur ein Witz, es handelt sich bei meinem Eintritt in die Erdatmosphäre natürlich um den absoluten Super-Gau, aber das hilft mir jetzt auch nicht weiter. Schön langsam lerne ich das Laufen, obwohl ich mich viel lieber schieben lasse und noch viel lieber einen fahren lasse, was mir bisher noch niemand übelnimmt, zumindest tun sie so als wäre das völlig in Ordnung. Hin und wieder lasse ich sogar das eine oder andere Wort aus meinem Mund plumpsen, weil ich damit dafür sorgen kann, daß alle ganz fasziniert von mir sind und mich am liebsten knuddeln würden wie ein Eisbärbaby. Ich wähle meine Worte mit Bedacht, denn es kam schon mal vor, daß ich den besten Freund der Familie absichtlich "Papa" genannt habe und das schien der ganzen Gesellschaft doch ziemlich peinlich zu sein. Würde mich nicht wundern, wenn da irgendwann noch ein dunkles Familiengeheimnis gelüftet werden würde. Wie dem auch sei, ich fresse und scheiße, wachse und kraxle, ich werde immer aktiver und manchmal kommt es sogar vor, daß ich mich freue. Worüber kann ich nicht sagen, das weiß ich selbst nicht so genau, wahrscheinlich einfach nur verrückt spielende Hormone, aber egal. Ich werde mit Spielsachen förmlich zugeschissen und der Mann, der neben dem besten Freund der Familie, immer um mich herumturnt, gibt sich große Mühe, um mit mir Freundschaft zu schließen. Wahrscheinlich will er sich selbst und vor allem den Anderen beweisen, daß er mein richtiger Vater ist und darauf hinarbeiten, daß ich das auch so bald wie möglich begreife, verinnerliche und dann selbstverständlich auch lautstark nach außen kundtue. Na ja, das hätte er wohl gern, der Gehörnte, mir dagegen macht es großen Spaß immer "Opa" zu ihm zu sagen, was alle Anderen, sogar seine Frau, die angeblich meine "Mama" sein soll, sehr lustig finden. Der soll sich mal nicht so haben, versteht wohl keinen Spaß, der Alte. Wie auch immer, im Endeffekt kann er froh darüber sein und sollte es als Kompliment ansehen, daß ich ihn wenigstens als der Familie zugehörig betrachte. Ich hätte ihn ja auch "böser Onkel" nennen können, das hätte bestimmt für Aufregung gesorgt. Außerdem war ja zum Beispiel der Ferdinand Sitzl "Papa" und "Opa" in Personalunion, von daher kann dieses Sensibelchen eigentlich froh darüber sein, daß ich ihn dermaßen ausgezeichnet habe. Apropos Sitzl: Ich wohne über der Erde und habe es bislang noch nicht in den Keller geschafft. Kann gut sein, daß sich dort eine Familie aufhält, aber ich glaube, das geht mich nichts an und wenn nicht, dann ist es auch in Ordnung. Wenn ich mir vorstelle, auf was diese drei Sitzl-Kinder in ihren ersten Jahren alles verzichten mußten, dann wundere ich mich schon sehr. Andererseits kannten die es ja auch nicht anders, von daher war es wohl auch wieder nicht so schlimm, wie wir uns das eigentlich vorstellen. Wahrscheinlich war der Aufschrei der Empörung nur deshalb so groß, weil sich die Erwachsenen vorgestellt haben, wie es wohl für sie selbst wäre, jahrelang in einem Keller eingesperrt zu sein, eine absolute Horrorvision, ganz ohne Frage, da sie ja den Vergleich haben. Die Sitzl-Kellerkinder hingegen wußten ja so gut wie nichts von der Welt da draußen und kannten nur ihre Untergeschoßwohnung, von daher war das für sie bei Weitem nicht so schlimm, noch dazu, da sie ihre Mama die ganze Zeit, rund um die Uhr, um sich hatten. Welche Kinder können das schon von sich behaupten? Also mal ehrlich und unter uns, das war doch das Tollste für so ein Kind überhaupt, daß es die ganze Zeit unter Betreuung und Beobachtung stand, na ja, zumindest in den ersten Lebensjahren. Und wenn Besuch kam, dann handelte es sich dabei um den Papa und um den Opa zugleich, also einen Gast, der im Grunde zwei Personen darstellte und der zu allem Überfluß auch noch ein Doppelleben führte! Kann es etwas Aufregenderes geben? Ganz bestimmt, aber auf alle Fälle sind diese Kinder etwas ganz Besonderes, wenngleich sie sich selbstverständlich, so wie wir alle halt, als ganz normal betrachten. Genug jetzt, für einen, der sich noch am Spielbeginn befindet, habe ich ganz schön viel mitzuteilen, findet Ihr nicht? Hätte ich geschwiegen, dann wäre ich Philosoph oder doof geblieben. Also gut, das reicht jetzt erst mal, das Spiel ist bereits in vollem Gange, hin und wieder trete ich sogar schon gegen den Ball, aber meine Bewegungen sind nach wie vor ein wenig unkoordiniert, deshalb geht es für mich erst mal wieder ins Trainingslager.