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»Blöde Prärie!«, knurrte der Ork. »Öde, blöde Prärie!«

Merluzo Fuerte de la Raqueta – so der Name des grobschlächtigen, grünhäutigen Burschen – saß auf dem Gatter, welches die südlichen Weideflächen der Tolemak-Ranch begrenzte. Übellaunig und gelangweilt beobachtete er, wie langsam die Sonne hinter den Bergen weit im Westen unterging.

Die Schönheit dieses Naturschauspiels – die wundervollen Farben, die das Abendrot in den Himmel malte und die glutrot leuchtenden Berggipfel – beeindruckte den Ork allerdings herzlich wenig. Auch die faszinierenden, vielförmigen Schatten, welche sich ganz gemächlich über die endlos weiten Grasflächen ausbreiteten, waren ihm völlig schnuppe.

Er war halt, so wie die meisten Angehörigen seiner Rasse, weit davon entfernt, ein Schöngeist zu sein. Sein Interesse galt eher den einfachen Dingen des Lebens: Essen, Trinken, Schlafen und in besonderem Maße der exzessive Konsum von Kautabak. Nahezu ständig kaute er mit leidenschaftlichem Eifer auf dem schwarzen, in harte Riegel gepressten Kraut herum. Wenn er sich im Freien befand, war er meist schon nach wenigen Minuten von schwarzen, klebrigen Speichelflecken umgeben, die er achtlos in die Gegend gespuckt hatte. Meistens blieb dabei ein Großteil der nikotinhaltigen Masse an einem seiner beiden Hauer hängen. Wie bei all seinen männlichen Artgenossen ragten diese aus seinem weit vorgeschobenen Unterkiefer über seine Oberlippe hinaus und waren daher beim Spucken oftmals im Weg. Üblicherweise Stolz und Zierde eines jeden männlichen Orks waren seine Hauer deshalb auch eher unansehnliche, fleckige und kariöse Zahnruinen.

Doch das störte Merluzo Fuerte nicht. Er war ohnehin nicht das attraktivste Mitglied seiner Gattung. Obendrein gehörte Zahnpflege zu den unendlich vielen Dingen, an die er in seinem Leben noch nie einen Gedanken verschwendet hatte. Nachdenken gehörte generell nicht zu seinen bevorzugten Tätigkeiten. Es strengte ihn viel zu sehr an und nach einer Weile bereitete es ihm meist üble Kopfschmerzen.

An diesem Abend jedoch, welcher sich nun schwül-warm über das Land legte und bald schon von einem vollen, tief stehenden Mond erhellt wurde, verlangte Merluzo sich diese große Mühsal ab.

Warum er hier Wache schieben musste, das begriff er nämlich ganz und gar nicht. Wieso durfte er nicht wie die anderen Cowboys in den Unterkünften um seinen spärlichen Lohn pokern oder sich mit billigem Whisky betrinken? Noch nie hatte es eine Nachtwache auf der Tolemak-Ranch gegeben, weshalb war sie jetzt vonnöten? Wilde Tiere, die den Rindern hätten gefährlich werden können, gab es in diesem Teil des Landes kaum und wer sonst hätte es wagen sollen, sich am Eigentum von Colonel Don Athuro zu vergreifen? Einen der vermögendsten, einflussreichsten und mächtigsten Zwerge der verbündeten Reiche zu bestehlen, auf die Idee wäre wohl kein Viehdieb gekommen, der auch nur das geringste Interesse an seinem Weiterleben hegte.

Es gab also keinerlei Veranlassung für diese Vorsichtsmaßnahme – zumindest keine, die Merluzo mit seinen bescheidenen geistigen Fähigkeiten hätte erkennen können. Auch sein Vorarbeiter hatte ihm keine triftigen Gründe genannt, als er ihm diesen Auftrag erteilt hatte.

»Dieser Job ist wie geschaffen für so eine hässliche Hohlbirne wie dich«, hatte er stattdessen in seiner gewohnt freundlichen Art erklärt. »Also schieb deinen grünen, runzligen Hintern hinaus und halt die Augen offen.«

Merluzo tat fast immer, was man ihm sagte – Befehle befolgen ersparte ihm die unnötig anstrengende Denkarbeit. Deshalb saß er nun hier, ohne zu wissen warum und in Gesellschaft unzähliger Longhorn-Rinder, die hinter ihm auf der Koppel friedlich grasten, schliefen und hin und wieder ein leises Muhen von sich gaben.

»Blöde Rinder«, knurrte der Ork. »Öde, blöde Rinder.« Beinahe schon liebevoll tätschelte er dabei seine doppelläufige Schrotflinte, die in seinem Schoß ruhte. Diese Waffe bedeutete dem Ork sehr viel, wesentlich mehr als eine Waffe seinem Besitzer normalerweise bedeutet. Schon seit Generationen befand sich diese Flinte im Besitz der de la Raquetas. Sein Urgroßvater – seinerzeit einer der besten Büchsenmacher Enchicos – hatte sie einst aus Zwergenstahl gefertigt. Er hatte sie mit einem Kolben aus weißem, echtem Drachenknochen versehen und mit zahlreichen Ornamenten verziert, die sich über die zwei Läufe bis hin zum Schaft erstreckten.

Ein ebenso durchschlagskräftiges wie schönes Meisterstück hatte er so erschaffen, das die meisten anderen Waffen vergleichbarer Art in allen Belangen übertraf. Nach seinem Ableben hatte sein Sohn, Merluzos Großvater, die Flinte geerbt. Dieser wiederum hatte sie dann kurz vor seinem Tod Merluzos Vater vermacht.

Merluzo letztendlich hatte sie seinem Vater schlichtweg gestohlen. Die Angst vor der Vergeltung seines Vaters hatte ihn im Anschluss an diese Tat dazu bewogen, sein Heimatland Enchico zu verlassen und ein neues Leben in den verbündeten Reichen von Avaritia zu beginnen. Dass er sich seitdem für einen kargen Lohn als Hilfsarbeiter auf einer Ranch verdingen musste, das schien ihm ein angemessener Preis für den Besitz dieser Waffe zu sein. Denn sie verlieh ihm jene Selbstsicherheit, an der es ihm aufgrund seines Aussehens und seines arg begrenzten Denkvermögens oftmals mangelte. Außerdem konnte man mit ihr so wunderbar Dinge wegballern.

Merluzo grinste. Wegballern – dieses Wort gefiel ihm außerordentlich gut und er benutzte es bei jeder sich bietenden Gelegenheit.

Er spuckte einen weiteren Klumpen rabenschwarzen Speichels in das Präriegras. Dann erhob er seine Schrotflinte und tat so, als würde er irgendwelche Dinge wegballern. Die Schussgeräusche imitierte er dabei so voller Inbrunst, dass er das seltsame Geräusch glatt überhörte, welches sich wie das Rauschen des Windes in den Bäumen anhörte. Es gab hier im Umkreis von vielen Meilen jedoch keinen einzigen Baum. Den Schatten, der kurz darauf über ihn hinwegglitt, bemerkte er hingegen schon. Zu groß für einen Vogel und mit hoher Geschwindigkeit streifte dieser den Ork nur für den Bruchteil einer Sekunde. Das reichte jedoch schon aus, um dessen Argwohn zu erwecken.

Verwundert legte er seine wulstige Stirn in Falten und sah nach oben. Er stellte fest, dass der bunte Sombrero auf seinem Kopf seine Sicht in diese Richtung stark einschränkte, schob selbigen deshalb in den Nacken und blickte erneut in den Himmel. Natürlich gab es dort mittlerweile nur noch die unzähligen Sterne zu sehen, die friedlich auf ihn herabschienen. Der Schatten war schon längst nach Norden in Richtung Ranchgebäude entschwunden.

Merluzo stieg vom Zaun herab, wobei seine ledernen Chaps, die er über seiner alten, speckigen Jeans trug, ein lautes Knirschen und seine Sporen ein leises Klingeln verursachten. Ansonsten war es plötzlich völlig Still.

Selbst die Rinder gaben keinerlei Laute mehr von sich. Sie standen wie versteinert herum, zeigten keinerlei Regung mehr und glotzten allesamt mit starrem Blick in Richtung Ranch.

Solch ein Verhalten kannte der Ork von den Longhorns nicht. Sie schienen in eine Art Angststarre verfallen zu sein, so wie das Meerschweinchen, dem Merluzo als Kind eine Freude hatte machen wollen. Da sein kleiner, pelziger Freund einen etwas einsam Eindruck gemacht hatte, war er auf die Idee gekommen, ihm eine Schlange als Spielgefährten in den Käfig zu legen. Anstatt mit seinem neuen Freund zu spielen, hatte das undankbare Nagetier allerdings ein ähnlich merkwürdiges Gebaren gezeigt wie die Rinder. Das anschließende Verschwinden des Nagers – am nächsten Tag hatte nur noch eine träge und übersättigt wirkende Schlange im Käfig gelegen – war für Merluzo stets ein Rätsel geblieben.

Der Ork dachte kurz darüber nach, ob seine derzeitige Aufgabe auch das Untersuchen seltsamer Schatten beinhaltete. Er verspürte nämlich keinerlei Motivation, selbiges zu tun. Doch so sehr er auch in den selten genutzten Windungen seines Gehirns danach suchte, er fand keine Ausrede dafür, diesen ungewöhnlichen Vorkommnissen nicht nachgehen zu müssen.

Also setzte er sich widerwillig und langsam in Bewegung, in Richtung Herrenhaus, dem größten und nächstgelegenen Gebäude der Tolemak-Ranch. Er wählte dabei den kürzesten Weg nach Norden, quer über die Koppel hinweg und zwischen den erstarrten Rindern hindurch. Diese schenkten ihm keinerlei Beachtung. Selbst als er einem der Tiere kräftig am Schwanz zog, zeigte es keinerlei Reaktion.

Merluzo Fuerte de la Raqueta war kein Feigling. Wie alle Orks verfügte auch er über ein hohes Maß an körperlicher Kraft. Außerdem fehlte es ihm schlicht an der nötigen Fantasie, sich unbekannte Gefahren ausmalen zu können. Allmählich jedoch erwachte die Furcht in ihm.

Zu dieser gesellte sich die Verärgerung darüber, dass sich dieser Vorfall ausgerechnet während seiner Wache ereignen musste – einer Wache, die zudem niemand außer ihm jemals hatte halten müssen. Lediglich die Aussicht auf eine mögliche Gelegenheit, vielleicht mal wieder irgendwas wegballern zu können, beschwichtigte ihn etwas.

Kurz bevor er die Ranch erreichte, drangen Stimmen, Lachen und andere Geräusche aus den nordöstlich gelegenen Unterkünften der Bediensteten zu ihm. Seine Kollegen genossen offensichtlich ihren Feierabend. Anstatt den Neid in ihm zu wecken, beruhigten ihn diese vertrauten Töne. Sie brachten etwas Normalität zurück in diesen etwas außergewöhnlichen Abend.

Auch Don Athuros Herrenhaus, ein dreistöckiges Gebäude aus weiß gestrichenem Holz mit zwei Kaminen und einem Sockel aus roten Backsteinen, lag nun friedlich und ruhig vor ihm. Die ihm zugewandte Rückseite des beeindruckenden Hauses wirkte vergleichsweise schlicht im Gegensatz zur Front, welche von einer ausladenden, prachtvollen Veranda geschmückt wurde. Doch die hohen Sprossenfenster und das mit grauen Schindeln gedeckte Dach versprühten auch nach hinten eine Eleganz, welche offensichtlich Einfluss und Status des Hausbesitzers widerspiegeln sollte.

Oft schon hatte Merluzo sich gewünscht, einmal das Innere dieses vornehmen Gebäudes besichtigen zu dürfen. Doch das war neben den Bewohnern nur den Hausangestellten und dem Vorarbeiter gestattet. Einem kleinen Hilfsarbeiter wie ihm, der es noch nicht einmal bis zum Viehtreiber gebracht hatte, würde diese Ehre niemals zuteil werden. Er hätte wohl auch gar nicht gewusst, wie er sich in solch einer Umgebung hätte benehmen müssen. Bei dem Gedanken daran, mit schmutzigen Stiefeln über den bestimmt überall ausliegenden, teuren Teppich zu latschen und dabei dicke Kautabakflecken auf dem erlesenen Mobiliar zu hinterlassen, musste Merluzo unwillkürlich Grinsen.

Dieses Grinsen erstarb jedoch schnell, als ein ihm unbekanntes Geräusch an seine spitzen, ungewaschenen Ohren drang. Irgendetwas Großes hatte sich bewegt, zu seiner Linken, hinter der westlichen Ecke des Hauses.

So leise es ihm seine grobe Motorik und die Sporen an seinen Stiefeln gestatteten, bewegte Merluzo sich dorthin. Im Westen lagen die Pferdeställe, doch dieses Geräusch hatte eindeutig nicht so geklungen, als hätte ein Pferd es verursacht. Es hatte den Ork an das Rascheln von Gefieder erinnert. Er konnte sich jedoch beim besten Willen nicht vorstellen, wie groß das Federvieh sein musste, das ein Rascheln dieser Lautstärke erzeugen konnte.

War es etwa ein Monsterhuhn, dass hinter der Ecke lauerte? Ein Pollo Diablo, jenes Wesen aus den Ammenmärchen, mit dem man in seinem Heimatland die Kinder erschreckte und ihnen drohte, wenn sie nicht artig waren?

Seine Hände verkrampften sich um seine Schrotflinte, so dass die Gelenke seiner Finger ein leises Knacken von sich gaben. Dann spannte er die beiden Hähne seiner Waffe mit dem Daumen, so leise und behutsam, wie es ihm möglich war. Nur noch ein Schritt trennte ihn davon, um die Hausecke spähen zu können. Er nahm all seinen Mut zusammen, atmete tief ein und wagte diesen Schritt.

Was er dann zu sehen bekam, jagte einen kalten Schauer über seine grüne Haut. Der Schreck stimulierte spontan seinen Schluckreflex, sodass sich der Rest Kautabak, welcher noch in seinem Mund verblieben war, heftig brennend seinen Weg durch die Speiseröhre in den Magen bahnte. Dieses Ungemach registrierte er jedoch gar nicht aufgrund des Anblicks, der sich ihm bot.

Das erste Mal in seinem Leben erblickte Merluzo einen leibhaftigen Greif. Größer als ein ausgewachsener Bisonbulle lag das Wesen da, den weiß gefiederten Kopf, der dem eines Adlers stark ähnelte, auf den Vorderpfoten ruhend. Die gewaltigen, ebenfalls weißen Schwingen hatte es angelegt. Hin und wieder zuckte einer der Flügel leicht und verursachte so eben jenes Rascheln, das Merluzo vor Kurzem vernommen hatte. Ansonsten zeigte der massige, raubkatzenartige Körper keinerlei Regung.

Die geschlossenen Augen und das leise Schnarchen, das aus dem gebogenen, leicht geöffneten Schnabel drang, ließen Merluzo dann endlich begreifen, dass der Greif dort ein Nickerchen machte. Von der Anwesenheit des Orks hatte das beeindruckende Tier noch keinerlei Notiz genommen.

»Wegballern!«, war natürlich das erste, was Merluzo in den Sinn kam. Er verspürte nicht das Bedürfnis, herausfinden zu wollen, was dieses Wesen mit ihm anstellen würde, sollte es ihn bemerken. Dem Greifen zwei Ladungen aus seiner Flinte in den Leib zu jagen, würde der Gesundheit des Orks wohl wesentlich zuträglicher sein. Doch dann bemerkte er das Zaumzeug und den Sattel, was den Greifen eindeutig als Reittier kenntlich machte. Dieses Vieh hatte jemanden hierher gebracht. Doch wo war dieser jemand jetzt?

Von weiteren Überlegungen oder Handlungen hielt ihn der heftige Schlag ab, der ihn plötzlich von hinten traf. Irgendetwas knallte an seinen Hinterkopf, riss ihm den Sombrero herab und schickte ihn augenblicklich zu Boden. Vor seinen Augen erschienen Millionen schwarzer Flecken, die sich immer mehr zu einer Schwarzen Fläche verdichteten und ein dumpfer Schmerz machte sich in seinem Schädel breit. Einen so heftigen Schmerz hatte das Denken dann doch noch nie in ihm verursacht.

Noch nicht ganz ins Land der Träume entschwunden, spürte er, wie ihm jemand seine geliebte Schrotflinte aus den Händen nahm. Es gab nichts, was er dagegen hätte unternehmen können. Dann hörte er gedämpft, so als hätte er Watte in den Ohren, Stimmen und Schritte, die sich von ihm entfernten und in Richtung des Greifen bewegten.

Einen starken Luftzug und das Schlagen riesiger Flügel vernahm er noch, dann schwanden ihm endgültig die Sinne.

Gungo Large - Spiel mir das Lied vom Troll

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