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Der Elf war in Eile.

Er war am Rand des Dorfes gelandet und hatte seinen Greif bei den anderen in ihrem Gatter gelassen. Von der Neugier getrieben, mehr über die Bedeutung der Rauchzeichen zu erfahren, hastete er nun durch das Elfendorf, in dem ansonsten alles seinen gewohnten Gang ging. Frauen saßen vor ihren Tipis und tratschten, bereiteten Mahlzeiten zu oder flochten Körbe. Die Krieger, die nicht unterwegs waren, befiederten ihre Pfeile oder gerbten die Felle erlegter Bisons und die Kinder tollten zwischen den Tipis herum. Sie spielten Cowboy und Elf oder ließen ihre kleinen, gelben Nagetiere in selbstgebauten Arenen aus kleinen Ästen und Steinen gegeneinander kämpfen. In der Prärie fingen sie diese Viecher, die sie aus unerfindlichen Gründen Taschenmonster nannten.

All das interessierte den Greifenreiter jedoch nicht. Er war nur bestrebt, möglichst schnell den Häuptling zu erreichen.

»Hab Dank, dass du so schnell gekommen bist«, sprach dieser dann auch, als der Elf sein Tipi betrat. »Komm, setz dich zu uns, wir haben Wichtiges zu palavern.«

Stehender Gaul, Häuptling der Moonytoads, war nicht allein in seinem großen Zelt aus Bisonhaut, dessen Inneres mit edlen Fellen ausgelegt und mit bunten Webarbeiten sowie anderem kunstvollen Tand geschmückt war. Neben ihm saß der oberste Schamane des Dorfes, ein abnormal dürrer, uralter Elf namens Träumender Lurch, der wie immer einen etwas abwesenden Eindruck machte. Der Häuptling trug seinen prächtigen Kopfschmuck aus Adlerfedern nicht - das galt innerhalb geschlossener Räume als unhöflich. Ansonsten war er jedoch bekleidet, im Gegensatz zu Träumender Lurch, der splitternackt dasaß, was allerdings nicht ungewöhnlich war.

Der lebenslange Genuss von bewusstseinserweiternden und magischen Kräutern hatte Spuren in seinem Geist hinterlassen. Deshalb kam es schon mal vor, dass er vergaß sich zu bekleiden. Dafür war er von Kopf bis Fuß mit Tätowierungen bedeckt, die mystische Symbole, Figuren aus alten Sagen oder Stammeszeichen darstellten. Selbst sein kahl rasierter Schädel war voll davon. Eigentlich gab es an ihm keinen Zentimeter Haut mehr, der nicht tätowiert war.

»Es geht um Grimmiger Hirsch, deinen Bruder«, erklärte der Häuptling, als der Elf sich ihm gegenüber gesetzt hatte. »Er ist verschwunden. Seit vier Tagen hat er sich weder blicken noch etwas von sich hören lassen.«

Der junge Elfenkrieger stutze und runzelte die Stirn. Sein älterer Bruder, ebenfalls ein Greifenreiter – wenn nicht sogar der Greifenreiter des Stammes –, war für seine Zuverlässigkeit bekannt. Niemals versäumte er es, dem Häuptling Bericht über seine derzeitigen Tätigkeiten zu erstatten oder blieb so lange fort, dass man sich um ihn hätte sorgen müssen. Wenn er über mehrere Tage hinweg kein Zeichen von sich gegeben hatte, musste etwas Außergewöhnliches passiert sein.

Der Elf spürte große Besorgnis in sich erwachen.

»Man hat ihn zuletzt weit im Westen gesehen«, fuhr Stehender Gaul fort. »Einer unserer Späher sagt, er sei in die Richtung geflogen, in der die Ranch des reichen Zwerges liegt. Ich kann mir einfach keinen Reim darauf machen, was er dort zu suchen hat. Zudem hat Träumender Lurch eine Erschütterung der Macht gespürt...«

»Mumpitz!«, fiel ihm plötzlich der greise Schamane ins Wort. Seine Stimme erinnerte dabei schwer an das Krächzen eines sterbenden Geiers. »Ich habe doch keine Erschütterung der Macht gespürt! Was für eine Macht denn überhaupt?« Er zeigte dem Häuptling den Vogel ungeachtet dessen Stellung in der Hierarchie des Stammes. »Ich habe gesagt: Ich habe eine Erregung in der Nacht gespürt! So etwas kommt in meinem Alter nur sehr, sehr selten vor und ist für mich zwar ganz angenehm, aber auch ganz sicher ein Zeichen!«

Für einen Moment herrschte betretenes Schweigen, da sich keiner näher mit der Erektion des alten Schamanen befassen wollte. Der Häuptling räusperte sich leise, fuhr sich durch sein langes, schwarzes, von ein paar grauen Strähnen durchzogenes Haar und sah peinlich berührt zu Boden.

»Ich sollte sofort aufbrechen, um meinen Bruder zu suchen«, sagte der Greifenreiter dann endlich. »Wie ihr wisst, kann er ein ganz schöner Hitzkopf sein. Sein Hass gegen alle Zwerge und Menschen ist groß, sogar größer noch als der meine. Nichts versetzt ihn mehr in Rage, als der Gedanke daran, dass diese unser Land mit ihrer Anwesenheit beschmutzen. Vielleicht hat ihn seine Wut zu irgendeiner Dummheit verleitet. Oder es ist ihm irgendwas zugestoßen. Wie dem auch sei, ich muss ihn möglichst schnell finden.«

Der Häuptling stimmte ihm zu. »Du solltest damit anfangen, alle Orte, von denen er dir jemals berichtet hat oder die ihr als Kinder besucht habt, nach Hinweisen zu durchsuchen. Denke auch darüber nach, ob er in letzter Zeit irgendeine Bemerkung gemacht hat, die uns weiterhelfen könnte. Wenn du irgendwas brauchst, komm zu mir. Die Unterstützung des ganzen Stammes ist dir sicher. Irgendetwas stimmt da ganz und gar nicht!«

»Und da ist noch etwas«, warf der Greifenreiter ein. Er war begierig darauf, dem Häuptling von den Ereignissen auf der Baustelle zu erzählen. Unter normalen Umständen hätte er dies in allen Einzelheiten getan. Doch die Sorge um seinen Bruder und die daraus resultierende Unruhe veranlassten ihn dazu, seine Erzählung auf das Wesentliche zu beschränken. »Ich habe einen Magier bei den Säulen der Unvergänglichkeit gesehen, inmitten des Eisenbahner-Camps.«

»Ein Magier?!« Der dürre, nackte Schamane sprang auf, als hätte ihn irgendein Ungeziefer in seinen Allerwertesten gebissen. »So nahe beim Heiligtum? Bei allen Göttern!«

Er fuchtelte wild mit den dünnen Armen umher, während er weiter krächzte »Das Verschwinden des Greifenreiters und das Auftauchen des Magiers – da muss es eine Verbindung geben. Kein Wunder, dass sich mein alter Schamanenstab nach all den Jahren mal wieder geregt hat. Ein Zeichen – wie ich schon sagte.«

Für einen kurzen Augenblick wurde er still und nachdenklich, während er sich seinen Schädel kratzte. Dann riss er die Augen auf und erhob seinen knochigen Zeigefinger.

»Ich muss sofort die Geister um Rat fragen!« Mit diesen Worten stürmte er aus dem Tipi, so schnell, dass die beiden anderen Elfen nur noch verdattert dreinblicken konnten. Dann jedoch fassten beide gleichzeitig den Entschluss, ihm zu folgen.

Obwohl kein seltener Anblick sorgte die Blöße des Schamanen wie so oft für Erheiterung im Dorf der Moonytoads. Kinder rannten ihm laut lachend und feixend hinterher, Männer grölten ihm zotige Sprüche nach und Frauen, vor allem die jüngeren, senkten ihren Blick und kicherten verschämt.

All das nicht zur Kenntnis nehmend raste der greise Elf mit einer Geschwindigkeit durch das Dorf, die man einem alten Knacker wie ihm niemals zugetraut hätte. Seine Verfolger bemühten sich währenddessen angestrengt, den Blick von seinem wackelnden, faltigen Hintern abzuwenden. Dieses Bild würden sie nämlich so schnell nicht wieder aus ihren Köpfen bekommen, das wussten beide.

Bald schon hatten sie den blauen, kuppelförmigen Wigwam des Schamanen erreicht. Dieses war von innen wesentlich größer als von außen. Schon manch ein Besucher war aufgrund dieses Missverhältnisses verwirrt wieder nach draußen und um den Wigwam herum gelaufen, um ein Erklärung für dieses erstaunliche Phänomen zu finden. Doch nur die Magie des Schamanen machte solch ein Wunder möglich.

Diese Tatsache war ebenso ein Indiz für die außergewöhnlich große Macht des alten Wirrkopfs, wie für seine unbändige Sammelwut. Diese hatte ihn einst dazu genötigt, seine Behausung durch einen derartigen Zauber zu vergrößern. Aufgrund erneut auftretenden Platzmangels würde er diesen Zauber bald schon wiederholen müssen. Tausende von magischen Relikten, verwunschenen Artefakten und Utensilien für magische Beschwörungen türmten sich im riesigen Inneren des Wigwams auf. Haufenweise uralte Schriftrollen und vollständig gefüllte Sammelalben mit den gezeichneten Köpfen berühmter Greifenreiter lagen dort herum. In einer Ecke stand sogar ein kompletter Totempfahl, zweimal so groß wie ein ausgewachsener Elf, und in einer anderen ein ausgestopfter Braunbär, der drohend auf den Hinterbeinen stand. Aus unbekannten Gründen trug dieser einen Knopf in seinem linken Ohr.

Im Laufe seines Lebens – eines Elfenlebens wohlgemerkt, das in der Regel nicht nur läppische Jahrzehnte sondern mehrere Jahrhunderte umfasst – hatte der alte Schamane nichts von dem fortgeworfen, was irgendwie in seine Finger gelangt war. Er hatte so viele Dinge gesammelt, wie sie andere Leute in ihrem Leben noch nicht einmal zu Gesicht bekommen. Neben der magischen Begabung des Schamanen war es wohl seine erstaunlichste Fähigkeit, sich auch nur ansatzweise in diesem Chaos zurechtfinden zu können.

Greifenreiter und Häuptling wussten um all die Absonderlichkeiten dieser Behausung. Sie schenkten ihnen deshalb auch keinerlei Beachtung. Sie hockten sich einfach nieder und sahen zu, wie der Schamane anfing, hektisch irgendwelche Haufen zu durchsuchen. Laut fluchend beschimpfte er dabei die imaginäre Person, die angeblich immer seine Sachen versteckte.

Zwischen einigen aus Holz geschnitzten Götzenfiguren fand er letztendlich das, was er gesucht hatte. Er holte seine lange, mit kleinen Federn geschmückte Pfeife heraus – eine Pfeife für den Konsum von Tabak oder Kräutern natürlich, die andere hätte er ja nicht mehr hervorholen müssen – und stopfte sie mit einem groben, dunkelbraunen Kraut.

Schon kurz nachdem er sich hingesetzt und das Kraut entzündet hatte, füllte sich der Raum mit dichten Rauschwaden. Deren würziger, etwas süßlicher Geruch weckte auch in dem Greifenreiter eine gewisse Begehrlichkeit. Er war dem gelegentlichen Genuss von berauschenden Kräutern ebenfalls nicht abgeneigt. Dieses spezielle Kraut war jedoch aufgrund seiner enorm starken Wirkung dem Schamanen vorbehalten.

Dieser sog begierig den Qualm aus der Pfeife in sich hinein und nach einer Weile begann er langsam mit dem Oberkörper schwankend eine Beschwörung zu rezitieren.

»Ich rufe euch an, oh ihr Ahnen«, murmelte er. »Ich bitte um euren Rat und um euren Beistand.«

Er wiederholte diese Worte in einer Art leisem Gesang immer wieder, bis plötzlich seine Augäpfel nach oben kippten, sodass nur noch das Weiße in seinen Augen zu sehen war. Seine zwei Besucher wussten, dass er nun das Reich der Geister betreten hatte.

»Wir benötigen Auskunft über die seltsamen Ereignisse, die momentan stattfinden«, sprach der Schamane nun in seinem gewohnt krächzenden Tonfall. »Was? Wie? Einen Moment, die Verbindung ist total beschissen. Du kommst total abgehackt rüber.«

Weiterhin in Trance nahm Träumender Lurch einen weiteren tiefen Zug aus seiner Pfeife.

»Ja, so ist es besser«, stellte er zufrieden fest. »Kannst du mir mit meinem Anliegen weiterhelfen? Du nicht? Ja, wer denn dann? Ach so! Könntest du mich vielleicht weiter verbinden? Danke, das ist nett!«

Ein kurzer Augenblick verging, dann war der Schamane wohl mit dem richtigen Geist verbunden. Er erzählte ihm vom Verschwinden des Greifenreiters und dem Auftauchen des Magiers. Auch die nächtliche Auferstehung seines sonst inaktiven Körperteils ließ er nicht aus. Stehender Gaul und der junge Krieger starrten ihn währenddessen ungeduldig und wie gebannt an.

»Aha!«, krächzte der Alte nun wieder. »Hmm...soso...ah ja...na gut. Und da bist du dir auch ganz sicher? Na supi! Ich danke dir, oh Ahne! Ach so, bevor ich es vergesse: Ich soll dich von deinem Urenkel grüßen...Ja, er ist leider immer noch so fett, aber was willste machen? Weniger Kohlenhydrate und mehr ungesättigte Fettsäuren? Nicht mehr so viel auf seinem dicken Hintern herumsitzen? Ja, ich richte es ihm aus. Machs gut! Träumender Lurch – over and out!«

Die Augen des Schamanen wurden wieder normal und noch leicht benebelt wandte er sich an die beiden anderen Anwesenden. »Wie ich es vermutet habe: Die Geschehnisse stehen alle in einem Zusammenhang.«

»Und?« wollte der Häuptling wissen.

»Nichts und! Mehr wissen die Ahnen auch nicht.«

Der Greis stand auf und reckte sich. »So, und jetzt brauche ich was Süßes. Ich glaube, ich bekomme einen Fresskick.«

»Das war jetzt aber nicht besonders hilfreich«, stellte der Greifenreiter enttäuscht fest.

Der Schamane huschte indes durch den Wigwam und holte einen großen Topf voller Honig hinter einem Korb voller Schrumpfköpfe hervor.

»Mach einfach das, was wir bereits besprochen haben«, erklärte er, während er den Honig mit einem großen Holzlöffel in sich hinein schaufelte. »Such deinen Bruder, er ist wahrscheinlich der Schlüssel zu allem. Wenn du ihn findest, werden wir mehr in Erfahrung bringen. Sei unbesorgt, die Ahnen konnten mir versichern, dass er noch am leben ist.«

Stehender Gaul öffnete gerade den Mund, um noch etwas zu sagen, als plötzlich ein hoch gewachsener, dünner Elf mit ungewöhnlich blasser Hautfarbe in den Wigwam gestürmt kam.

Es war Finstere Krähe, der Wächter über die Begräbnisstätten der Moonytoads.

Wie natürlich jeder weiß, begraben die Elfen ihre Toten nicht. Sie bauen hölzerne Gerüste, auf denen sie die einbalsamierten Leichname mit einigen Habseligkeiten aufbahren. Der Verwesungsprozess geht trotz des Balsams nicht ohne Geruchsentwicklung vonstatten, weshalb die Bestattungsorte meist weit außerhalb der Dörfer liegen. Auch der Totenacker der Moonytoads lag weit vom Dorf entfernt und nach seinem Keuchen zu urteilen, hatte Finstere Krähe den Weg von dort wohl rennend zurückgelegt. In seinem Blick war von großer Beunruhigung und einem gewissen Entsetzen zu lesen.

»Die Toten«, stammelte er nach Atem ringend. »Sie sind verschwunden.«

Stehender Gaul stand auf und legte dem atemlosen Elf eine Hand auf die Schulter. »Ganz ruhig. Komm erst mal wieder zu Atem und dann erzähle uns was los ist.«

Finstere Krähe holte ein paar Mal tief Luft, schluckte dann und begann nochmal von vorn. »Die Toten sind verschwunden, zumindest einige von ihnen. Gestern waren sie noch alle da. Ich habe es nachgezählt, so wie jeden Abend.«

»Du zählst jeden Abend die Toten?«, wunderte sich der Greifenreiter. Die Notwendigkeit einer solchen Tätigkeit erschloss sich ihm nicht so ganz. Aber er war ja auch kein Totenwächter.

Finstere Krähe richtete sich zu voller Größe auf, so als wollte er vor jemandem salutieren. »Natürlich tue ich das! Ich nehme meine Aufgabe sehr ernst! Die Inventarisierung und Kontrolle der Bestände ist ein wesentlicher Teil meines Jobs, auch wenn die Fluktuation normalerweise eher gering ist!«

»Gut«, mischte sich der Häuptling nun wieder ein. »Es sind also einige Tote verschwunden. Wie kann so etwas geschehen? Glaubst du, jemand hat sie gestohlen?«

»Das weiß ich nicht«, gestand Finstere Krähe. »Wer sollte so etwas tun? Ich habe jedoch alles nach Spuren abgesucht und auch einige gefunden.« Er zögerte ein wenig, als würde er das Folgende nicht wirklich sagen wollen. »Ich habe nur Spuren gefunden, die von den Totenstätten fort führen, aber keine einzige, die zu ihnen hinführt. Es ist so, als wären die Toten von ganz alleine fortgegangen.«

»Au Weia«, bemerkte der nackte Schamane nun, mit Honig verschmiertem Mund. »Da kommt was auf uns zu – und zwar ganz krasser Scheiß!«

Gungo Large - Spiel mir das Lied vom Troll

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