Читать книгу Gungo Large - Spiel mir das Lied vom Troll - Thomas Niggenaber - Страница 4

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Während ich in Copperhole schnarchend und verkatert auf einer harten Pritsche lag, lag weit im Osten ein Elf auf noch wesentlich härterem Felsgestein.

Seit Stunden schon verharrte er bäuchlings liegend am Rand eines hoch gelegenen, ausladenden Felsvorsprunges. Von hier aus beobachtete er aufmerksam das Geschehen unter sich, welches in solch großer Entfernung stattfand, dass nur die enorm scharfen Augen eines Elfen Einzelheiten und Details erspähen konnten.

Ungeachtet der Hitze und seiner unbequemen Position würde er noch länger hier ausharren, solange bis ein anderer Elf aus seinem Dorf kommen und seinen Platz als Späher einnehmen würde. So hatte es der Häuptling befohlen und so wurde es auch gemacht.

Die Gebirgskette inmitten der Prärie war ideal für dieses Unterfangen, denn von hier konnte man fast das ganze Gebiet des Moonytoad-Stammes überblicken. Selbiges bestand fast nur aus spärlich bewachsener, ebener Graslandschaft und erstreckte sich fast bis zum Seven-Hills-Gebirge, weit im Westen.

Viele Generationen lang hatte es hier, außer den Moonytoads, nur Bisons, Koyoten und irgendwelche Reptilien gegeben. Doch seit einigen Wochen tummelten sich hier Wesen, die seit jeher das Misstrauen und Argwohn eines jeden Elfen weckten. Menschen und Zwerge waren es, die das Land zu Tausenden mit ihrer Anwesenheit besudelten. Mit Pferdewagen waren sie gekommen, so schwer mit Holz, Metall und Werkzeug beladen, dass ihre Räder tiefe Narben in der Erde hinterlassen hatten. Dann hatten sie ihre Lager aufgeschlagen, Unterkünfte für Arbeiter sowie Stauräume für Unmengen an Material gebaut. Um die Versorgung mit ausreichend Wasser zu gewährleisten, hatten sie tiefe Brunnen in den Boden getrieben. So war das Camp schon bald zu einer kleinen Siedlung aus Zelten, Hütten und anderen Holzkonstruktionen herangewachsen.

Doch das war nur der Anfang ihrer Verbrechen gewesen, die sie in den Augen der Elfen an der Natur begingen. Sie malträtierten den Boden mit Spitzhacken und Schaufeln, sprengten Felsen, die ihnen im Weg waren und formten das Land rücksichtslos nach ihren Bedürfnissen. Über viele hundert Meilen hinweg verunstalteten Sie das Antlitz der Steppe mit dem, was Sie Bahnschienen nannten und all das geschah nur, damit das metallene Monstrum namens Eisenbahn in naher Zukunft durch die Prärie würde fahren und sich regelmäßig würde verspäten können.

Dass dies ungestört im Land der Elfen geschehen durfte, war Inhalt des Friedensvertrages, welchen man den Elfen nach ihrer Niederlage im großen Krieg aufgezwungen hatte. Neben weiten Teilen ihres Landes hatte man allen Stämmen das Einverständnis abgepresst, die Eisenbahnlinie unbehelligt durch das ihnen noch verbliebene Land bauen zu dürfen. Ansonsten hätte es keinen Frieden zwischen den Elfen und der Allianz aus Zwergen und Menschen gegeben.

Dass sich diese Wesen unbeobachtet in ihrem Gebiet bewegen durften, davon stand allerdings nichts in dem Vertrag und deshalb sandten die Moonytoads regelmäßig ihre Späher aus. Diese sollten die Bauarbeiten an den Gleisen beobachten und darüber wachen, dass die unerwünschten Eindringlinge eben jenem Gebirgszug nicht zu nahe kamen, in dessen Höhen die Späher ihren Posten bezogen hatten.

Tief unter diesen Bergen nämlich – die Elfen nannten sie die Säulen der Unvergänglichkeit – befand sich das bedeutsamste Heiligtum der gesamten elfischen Rasse. Hinter einem magisch versiegelten Tor, in einem gigantischen Labyrinth aus Höhlen, Gängen und Tunneln, lagen hier die Grabstätten der Ältesten verborgen, den Urahnen und Gründern aller Stämme Avaritias. So was von dermaßen total uneingeschränkt absolut heilig und unantastbar waren diese Gräber, dass kein lebendes Wesen ihrer je ansichtig werden durfte. Nicht einmal den einflussreichsten Häuptlingen oder Schamanen der Elfen war es gestattet, diese Höhlen zu betreten.

Von den mannigfaltigen Mysterien, Wundern und Gefahren dieses in finsteren Tiefen schlummernden Heiligtums wurde in den alten Schriftrollen berichtet. Doch auch diese wurden von uralten, weisen Männern gehütet, als seien sie ein Teil ihrer selbst. Wer diese Männer waren und wo sie die Schriftrollen verborgen hielten, das war – wer hätte das gedacht – ein total uneingeschränkt absolut geheimes Geheimnis.

Über die Säulen der Unvergänglichkeit zu wachen, dazu waren deshalb nur die angesehensten und besten Krieger des Moonytoad-Stammes auserkoren.

Und das waren die Greifenreiter.

Der Elf zog sich, immer noch auf dem Bauch liegend, ein Stück vom Rand des Felsvorsprunges zurück. Dann warf er einen Blick über die Schulter nach hinten. Dort saß sein Greif. Offensichtlich gelangweilt, doch artig dem Befehl seines Herren folgend, verhielt er sich ruhig und regte sich kaum. Nur hin und wieder gähnte er ausgiebig und fuhr sich mit einer seiner Vorderpfoten über Augen und Schnabel, was trotz seiner enormen Größe beinahe possierlich wirkte.

Der Elf lächelte. Er liebte dieses prächtige Tier von ganzem Herzen. Eine tiefgehende, nahezu mystische Verbindung mit dem Greifen hatte der Elf bereits empfunden, noch bevor dieser das Licht dieser Welt erblickt hatte. Schon als er das Griffogotchi – so die Bezeichnung der Elfen für Greifeneier – vor langer Zeit das erste mal in Händen gehalten hatte, waren in ihm diese Gefühle erwacht. Den Greifen großzuziehen und aus ihm ein folgsames Reittier zu machen, war ihm aufgrund dessen auch ungewöhnlich leicht gefallen und mithilfe seines gefiederten Gefährten hatte er vor einigen Jahren den Rang des Greifenreiters erlangt. Ein strenges, langwieriges Auswahlverfahren hatten sie gemeinsam überstehen müssen, um dieses Ziel zu erreichen. Denn nicht jeder Elf, der einen Greif besaß, durfte diesen Titel tragen.

Der Stamm der Moonytoads sucht den nächsten Greifenreiter – so lautete die traditionelle Bezeichnung dieses althergebrachten Verfahrens, in dem alle Anwärter eine Vielzahl schwieriger Aufgaben zu bewältigen hatten. Vier Stammesältere beurteilten anschließend die Leistungen eines jeden Prüflings. Sie entschieden darüber, wer qualifiziert genug war, um in die Endrunde zu kommen. In dieser wählten sämtliche Stammesmitglieder, Männer, Frauen und auch Kinder, schließlich den fähigsten Elfenkrieger unter den Bewerbern aus. Natürlich spielte bei dieser Wahl auch die Beliebtheit des Kandidaten eine Rolle - vor allem die jungen Squaws ließen sich eher vom Aussehen als von den Fähigkeiten selbiger beeinflussen.

Mit Bravour hatte der Elf all diese Hürden genommen und war mit einer überragenden Mehrheit zum neuen Greifenreiter gewählt worden. Nicht zuletzt hatte er das der hohen Lernfähigkeit und Begabung seines Reittieres sowie der tiefen Verbundenheit mit ihm zu verdanken.

Doch nicht nur der außergewöhnliche Intellekt seines Greifen und seine überdurchschnittliche Größe waren es, die ihn deutlich von seinen Artgenossen unterschieden. Auch nicht die ungewöhnliche, samtschwarze Färbung seines Gefieders, welches Kopf und Flügel bedeckte, oder das ebenso schwarze Körperfell war sein ungewöhnlichstes Merkmal. Dieser Greif besaß eine Fähigkeit, die absolut einzigartig war unter den Wesen seiner Gattung: Er konnte sprechen.

Leider hatte er dies bislang ausschließlich im Beisein seines Besitzers getan und niemand glaubte dessen Erzählungen darüber – meist verursachten diese nur Schmunzeln oder gar schallendes Gelächter. Der Elf selbst hätte es wohl nicht geglaubt, hätte er es nicht schon oftmals miterlebt. Wenn der Greif aufgeregt war oder ihn andere starke Emotionen ereilten, entrang sich seinem Schnabel ein klar artikuliertes Wort. Wann und wo er dieses Wort gelernt hatte und warum es anscheinend nur dieses eine war, welches er aussprechen konnte, das war seinem Herrn jedoch ein Rätsel.

Ein aus der Ferne zu ihm dringendes Geräusch – ein Schnaufen und Stampfen, begleitet von einem steten Dröhnen – riss den Elfen aus seinen Gedanken. Eine leichte Vibration, welche das gesamte Gebirge und die angrenzende Steppe zu erfassen schien, ging mit diesem Geräusch einher. Schnell robbte er zurück an den Rand des Plateaus, von wo aus er einen Zug beobachten konnte, der sich aus dem Westen über die bereits fertiggestellte Bahnstrecke näherte.

Es war nicht der erste Zug, den der Elf zu Gesicht bekam. Beinahe täglich zog eine solche schwarz-rot lackierte Dampflok eine Vielzahl nahezu identisch aussehender Waggons voller Material zur Baustelle. Doch der Anblick dieser mechanischen Abscheulichkeiten erschütterte ihn jedes Mal aufs Neue. Warum nur, so fragte er sich abermals, erschufen vernunftbegabte Wesen so widernatürliche Dinge, die ihrer Umwelt in solch hohem Maße Schaden zufügen? Sahen sie denn nicht die dicken Dampfwolken, mit denen dieses Ungetüm den sonst makellos blauen Himmel verdunkelte? Rochen sie denn nicht diesen abscheulichen Gestank nach verbrannter Kohle, Holz und Öl, den es verströmte? Selbst jetzt schon reizte dieser Gestank seine empfindliche Nase, obwohl der Zug noch Meilen entfernt war.

Wahrscheinlich war es ihnen egal, schlussfolgerte der Elf. Dies bekräftigte ihn in seiner Meinung, dass Menschen und Zwerge skrupellose, unsensible Wesen waren, die sich nur von ihrer Gier, ihrer Bequemlichkeit und ihrem absurden Glauben an den technischen Fortschritt leiten ließen.

»Richtige Husos«, benutzte der Elf flüsternd eine unter den Moonytoads übliche Beleidigung, welche die Nachkommen einer wenig keuschen Frau beschreibt. »Irgendwann werden die Götter sie für all ihre Frevel bestrafen. Früher oder später, auf die ein oder andere Art – aber echt ey!«

Der Zug brauchte nicht lange, um sein Ziel zu erreichen. Als ob dieser Koloss nicht schon genug Lärm verursacht hätte, betätigte der Lokführer die Dampfpfeife, bevor er bremste, um die Arbeiter an den Gleisen zu warnen. Diese wichen ein paar Schritte zurück und mit lautem Quietschen und Kreischen kam der Zug schließlich inmitten der Baustelle zum Stehen.

Zunächst konnte der elfische Späher nichts Außergewöhnliches an dem Güterzug entdecken. Dessen Zugmaschine verpestete weiterhin, leise zischend und qualmend, die Luft.

Doch dann lenkte ein lautes Poltern seine Aufmerksamkeit auf einen der schmucklosen, hölzernen Frachtwaggons, auf dessen Außenseite irgendjemand – wahrscheinlich irgendein Halbstarker – obszöne Malereien und Sprüche mit weißer Farbe hinterlassen hatte. Etwas bewegte sich in diesem Waggon, etwas, das so groß war, dass es ihn trotz seiner Größe hin und her schwanken ließ.

Seine Vermutung, dass es sich möglicherweise um Pferde handeln könnte, verwarf der Elf schnell wieder. Mithilfe seiner geschulten Sinne blendete er alle anderen Geräusche der Umgebung aus und statt Wiehern oder Hufschlägen vernahm er nur ein Knurren, das alles andere als freundlich klang.

Auch die anwesenden Arbeiter hatten Notiz von der ungewöhnlichen Fracht genommen. Schnell versammelten sie sich vor dem Waggon wie die Besucher eines Jahrmarktes vor der neuesten Attraktion, was das Interesse des Elfen noch steigerte.

Seine Neugier sollte befriedigt werden, als der Lokomotivführer – ein dicklicher Zwerg in blauer Latzhose mit einer albern aussehenden, blauen Kappe auf dem Kopf – seinen Führerstand verließ und durch die Horde Schaulustiger zu dem Waggon hinüberschlenderte. Er schloss das überdimensional große Schloss auf, welches die breite Schiebetür des Waggons gesichert hatte und schob selbige beiseite. Damit gab er den Blick frei auf die mächtige Gestalt, die im Inneren kauerte.

Ein Raunen ging durch die Menge

Obwohl die Sicht auf dieses Wesen bedingt durch dessen gekrümmte Haltung eingeschränkt war, konnte man erkennen, dass es bestimmt zweieinhalb mal so groß wie ein ausgewachsener Mensch war. Keinerlei Behaarung wies es auf und es besaß menschenähnliche, wenn auch wesentlich gröbere, Gesichtszüge.

Dem Elfen stockte für einen Moment der Atem. Diese Idioten hatten einen Oger gefangen, ein Geschöpf, das für seine Unberechenbarkeit ebenso bekannt war wie für seine Sturheit und seine enormen Körperkräfte. Wenn man ihnen ihre Ruhe ließ, hatte man von Ogern in der Regel nicht viel zu befürchten. Doch diese Narren hatten ihn seiner Ruhe beraubt.

Das war der erster Fehler, den sie begangen hatten.

Der zweite Fehler war es, den riesigen Burschen in einen für ihn viel zu kleinen Waggon zu pferchen. Wohl über Stunden hatte er in unbequemer Haltung dort hocken müssen, was seine Laune gewiss nicht gerade verbessert hatte.

Fehler Nummer drei war die offensichtliche Absicht, den Oger als Lastenschlepper oder anderweitige Arbeitskraft einsetzen zu wollen. Der Elf war sich sicher, die Reaktion auf den nächsten Fehler würde für ihn äußerst amüsant werden, für die Menschen und Zwerge dort unten allerdings bedeutend weniger.

Der Lokführer zog nun an der langen Kette, welche die Handgelenke des Ogers fesselte und gebot ihm so, den Waggon zu verlassen. Knurrend und grollend kam der Gigant dieser groben Aufforderung nach. Bis er seinen massigen Körper ins Freie gewuchtet hatte, dauerte es eine ganze Weile. Seine ausladende Körpermitte – eine enorme Wampe, die über seinem Lendenschurz hing und diesen von vorn fast verdeckte – behinderte ihn dabei nicht unwesentlich. Der Güterwaggon schaukelte, ächzte und knirschte bei jeder Bewegung des massigen Kerls. Als dieser ihn endlich verlassen hatte, gab der Wagen ein Geräusch von sich, das fast schon wie ein erleichtertes Seufzen klang.

»Nun komm schon, du sturer Fleischberg!«, maulte der Lokführer und zog erneut an der Kette.

Doch der riesige Bursche bewegte sich nun keinen Millimeter mehr. Wie angewurzelt blieb er vor dem Waggon stehen, über den er mühelos hinwegsehen konnte. Ausgiebig und lange schaute er sich erst einmal in seiner neuen Umgebung um. Irgendwie machte er dabei einen fast entspannten Eindruck, doch die hasserfüllten Blicke, mit denen er die anwesenden Arbeiter musterte, ließen nichts Gutes erahnen.

Ein weiterer Zwerg eilte dem Lokführer zu Hilfe, dann ein Mensch und schon bald waren es drei Menschen und drei Zwerge, die an der Kette zerrten. Das hatte allerdings nur zur Folge, dass die überproportional langen Arme des Ogers, welche beinahe bis zum Boden reichten, ein wenig nach vorne gezogen wurden. Es sah fast so aus, als würden sich die Arbeiter in einem Tauziehen mit dem kahlköpfigen Hünen messen.

Irgendwann verlor einer der zuschauenden Menschen die Geduld und was dann geschah, war Fehler Nummer vier – der letzte Fehler.

Der einfältige Kerl lief los, verschwand kurz in einem Zelt südlich der Gleise und kehrte dann mit einer Peitsche zurück. Mit dieser schlug er auf den Oger ein wie auf ein störrisches Rindvieh. Was für eine kolossal blöde Tat er damit begangen hatte, das wurde wohl selbst ihm sehr schnell und auf äußerst unangenehme Art und Weise bewusst.

Zornig brüllend und mit einem kurzen Ruck befreite der Oger seine Handgelenke von der Kette, woraufhin alle, die daran gezogen hatten, auf ihre Hinterteile fielen. Dann schritt er zu dem Peitschenschwinger hinüber. Mit einem einzigen, wie beiläufig wirkenden, von oben geführten Hieb verwandelte er dessen Kopf in einen Klumpen blutigen Matsch.

Sämtliche Anwesenden verstummten sofort. Fassungslos und zutiefst schockiert blickten sie wie gebannt auf die langsam zu Boden tropfende Hirnmasse des Matschkopfes. Dessen Körper blieb noch einen Augenblick lang aufrecht stehen, bevor er leblos in sich zusammensackte.

Nun kümmerte sich der Oger um den Lokführer, der noch immer starr vor Schreck auf seinem Hosenboden saß. Mit seinen beiden riesigen Pranken ergriff er den Schädel des Zwerges, um ihn wie eine überreife Tomate zerplatzen zu lassen, sodass die alberne blaue Kappe von einer Blutfontäne in die Höhe geschossen wurde.

Das war das Startsignal für eine umgehend ausbrechende Panik. Menschen und Zwerge stoben auseinander wie eine Horde aufgeschreckter Hühner. Schreiend und kreischend liefen sie davon, sie stolperten übereinander oder rannten kopflos vor irgendwelche Hindernisse. Dabei verursachten sie einen Heidenlärm, der den zornigen Oger noch mehr in Rage versetzte.

Einen wütenden Oger mit einem Hurrikan oder einem ähnlich zerstörerischen Unwetter zu vergleichen, ist sehr treffend. Wie eine solche Naturgewalt fegte der rasende Gigant nun auch durch das Camp. Körper wirbelten durch die Luft, vollständig oder nur Teile davon; Holzhütten, Zelte sowie Gerüste wurden im Vorbeigehen komplett zerlegt und wimmernde Zwerge von riesigen Füßen zermalmt. Das, was Hunderte von Arbeitern in wochenlanger Arbeit aufgebaut hatten, zerstörte der wütende Oger in wenigen Sekunden.

Der Elf, hoch droben auf seinem Aussichtspunkt, war erstaunt über die Beweglichkeit und die Schnelligkeit, mit der sich der massige, plump wirkende Riese dabei bewegte.

»Wieselflink das Kerlchen«, flüsterte er anerkennend. »Ziemlich adipös, aber wieselflink.«

Er beobachtete beeindruckt weiter, wie der Oger nun eine Bahnschiene aufhob, deren Gewicht zu stemmen es eigentlich die Kraft mehrerer Arbeiter benötigt hätte. Mühelos warf er sie einem flüchtenden Menschen hinterher. Der ballistischen Flugbahn eines Wurfspeeres gleich beschrieb die Schiene einen spitzen Bogen in der Luft, bevor sie zu Boden raste und den Flüchtenden traf. Dieser hatte sich einen Augenblick zuvor umgedreht, um das Geschehen hinter sich beobachten zu können. Das schwere Wurfgeschoss rammte ihn in den Boden, sodass links und rechts davon nur noch seine Füße hervorlugten.

In der Zwischenzeit hatten einige Arbeiter offensichtlich ihren Verstand und ihre Eier wiedergefunden. Aus einem Holzverschlag, der anscheinend als Waffendepot diente, hatten sie sich Gewehre besorgt und nun eröffneten sie damit gemeinsam das Feuer auf den Oger.

Dieser schenkte dem Beschuss zunächst keinerlei Beachtung. Er war voll und ganz damit beschäftigt, mit dem ausgerissenen Bein eines Menschen auf einen Zwerg einzuprügeln. Erst als sich zwei der Geschosse in seinen Rücken bohrten, ließ er von seinem blutigen Tun ab. Er wirbelte herum, erspähte die Schützen und stürmte ihnen entgegen. Ungeachtet all der Treffer, die er dabei einstecken musste, bahnte er sich unbeirrt seinen Weg, was die meisten Gewehrschützen schließlich dazu bewog, das Weite zu suchen.

Nur einer blieb stehen und feuerte weiter, was angesichts des heranstürmenden, stinksauren Monstrums vermutlich ein respektables Maß an Courage erforderte. Dummerweise versagte sein Gewehr plötzlich aus unerfindlichen Gründen seinen Dienst.

Wahrscheinlich handelte es sich um ein iRifle, mutmaßte der Elf. Vor Regressansprüchen würde die Firma Peach aber wohl verschont bleiben, denn ihrem unzufriedenen Kunden spendierte der Oger kurz darauf einen Freiflug über die Baustelle. Kopfüber landete der bedauernswerte Bursche in dem großen, immer noch qualmenden Schornstein der Lokomotive. Das nur kurze Zucken seiner Beine ließ darauf schließen, dass sein Zug abgefahren war.

Aus unzähligen Schusswunden blutend, aber immer noch aufrecht, voller Zorn und Energie, stand der Oger nun da. Er blickte wild um sich, wahrscheinlich auf der Suche nach dem nächsten Ziel, an dem er seine unbändige Wut würde auslassen können.

Doch dazu sollte es nicht mehr kommen. Ein seltsames Knistern ertönte und ein greller Lichtstrahl, einem Blitz ähnelnd, jedoch schnurgerade, schoss waagerecht auf den voluminösen Kahlkopf zu. Bevor dieser sich der Gefahr bewusst wurde, traf ihn der Strahl. Er ließ ihn mit einem ohrenbetäubenden Knall in tausend Teile zerplatzen, so wie eine Nadel einen prall gefüllten Luftballon. Fleisch, Innereien und Gliedmaßen, allesamt verkohlt und noch qualmend, verteilten sich im ganzen Lager. Dort, wo der Oger gestanden hatte, war nur noch ein großer, rußschwarzer Fleck zu sehen.

Zutiefst erschrocken und verwirrt hielt der Elf Ausschau nach der Quelle dieses Lichtstrahls. Er fand sie kurz darauf in Gestalt eines hochgewachsenen, schlanken Mannes. Dieser hatte sich dem Oger unbemerkt von Westen her genähert, wo ein Zelt stand, das wesentlich größer war als all die anderen. Nun, nach dessen explosivem Ableben, schlenderte er gemächlich inmitten der qualmenden Überreste des Ungetümes umher. Seelenruhig betrachtete er sein Werk und ganz offensichtlich hatten ihn die Geschehnisse nicht im Geringsten beunruhigt.

Dieses beherrschte, fast schon kaltblütige Auftreten des mysteriösen Mannes unterschied ihn ebenso von den anderen Anwesenden hier wie sein Äußeres. Statt grober Arbeitskleidung trug er einen eleganten, schwarzen Gehrock, Hose und Krawatte aus demselben feinen, dunklen Stoff und ebenso schwarze Lackschuhe. Selbst durch den Staub, der sie nahezu vollständig bedeckte, konnte man diese noch glänzen sehen. Über seinem makellos weißen Hemd trug er eine dunkelgraue Weste mit Nadelstreifen, die von der obligatorischen goldenen Uhrenkette geziert wurde. Der schwarze Zylinder, den er auf dem Kopf trug, und der Gehstock mit goldenem, rundem Knauf in seiner Linken vervollständigten diesen Kleidungsstil, der von den wohlhabenden Einwohnern der großen Städte im Norden Avaritias bevorzugt wurde. Letztendlich waren es aber der typische, nach oben gezwirbelte Schnäuzer und der schmale Kinnbart des seltsamen Fremden, die den Elfen schlussfolgern ließen, dass er aus dem Norden stammte. Aus dem Norden kamen fast nur reiche Kaufleute oder Magier in den Süden. Reiche Kaufleute verschossen in der Regel jedoch keine todbringenden Lichtstrahlen.

»Ein Magier!«, murmelte der Elf leise. »Was, bei allen Göttern, macht ein Magier in einem Eisenbahner-Camp?«

Ein zauberkundiger Mensch so nahe bei den Säulen der Unvergänglichkeit - das würde für einiges an Aufsehen im Dorf der Moonytoads sorgen. Weder dem Häuptling noch dem obersten Schamanen würde dieser Umstand besonders gut gefallen. Ihnen würde der Elf deshalb sofort Bericht darüber erstatten, sobald ein anderer Greifenreiter ihn abgelöst hatte und er ins Dorf zurückgekehrt war.

Doch so lange musste er nicht warten. Als er sich umwandte, um nach seinem Greifen zu sehen, welcher noch immer fügsam auf seinen Hinterläufen saß, entdeckte der Elf die Rauchzeichen, die im Süden emporstiegen. Sie kamen aus seinem Dorf und waren zweifellos an ihn gerichtet.

Form und Größe der einzelnen Rauchwolken ließen den Elfen erkennen, dass Donnernder Vogel diese Botschaft verfasst hatte. Nur Donnernder Vogel und Feuriger Fuchs waren im Dorf für das Erstellen von Rauchzeichen zuständig. Diese Nachricht war jedoch anders als die Mitteilungen, die Donnernder Vogel sonst versendete. Sie war nüchtern und kurz gehalten, ohne all die Scherze oder dummen Sprüche, mit denen er seine Übermittlungen üblicherweise würzte. Noch nicht einmal das seltsame Wort LOL kam darin vor – ein Begriff, von dem niemand genau wusste, was er eigentlich bedeuten sollte. Der Inhalt dieser Botschaft beunruhigte den Elfen zudem. Es wurde ihm aufgetragen, sofort ins Dorf zurückzukommen, ohne auf eine Ablösung zu warten.

Die Säulen der Unvergänglichkeit unbewacht zu lassen, wenn auch nur für kurze Zeit, das hatte es seit dem Krieg noch nie gegeben. Mit einem unguten Gefühl in sich kroch der Elf deshalb zu seinem Greif. Er schwang sich auf dessen Rücken, ergriff seine Zügel und tätschelte ihm sanft den Hals.

»Nun gut, Poe«, sprach er zu ihm. »Lass uns nachsehen, was es so überaus Wichtiges gibt.«

Von der Unruhe seines Reiters angesteckt, schien auch in dem Greif eine gewisse Nervosität zu erwachen.

»Nimmermehr!«, krächzte das schwarze Wesen. Dann flogen beide in Richtung Dorf davon.

Gungo Large - Spiel mir das Lied vom Troll

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