Читать книгу Gungo Large - Spiel mir das Lied vom Troll - Thomas Niggenaber - Страница 9
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ОглавлениеDie zwei Elfen erreichten erst im Zwielicht der untergehenden Sonne den Bestattungsort der Moonytoads, der auf einer kleinen Anhöhe in der sonst ebenen Prärie lag.
Schon jetzt warfen die mannshohen Holzgestelle, auf denen traditionsgemäß die Toten aufgebahrt wurden, lange, bizarre Schatten in das trockene Gras. Es würde nicht mehr lange dauern, bis die kommende Dunkelheit diese Schatten verschlingen würde. Für eine Begutachtung dieses Ortes und der Suche nach Hinweisen oder Spuren war es also nicht gerade die bestmögliche Tageszeit. Früher wäre Träumender Lurch jedoch nicht dazu in der Lage gewesen. Nach seiner anstrengenden Unterredung mit den Ahnen und dem noch anstrengenderen, maßlosen Verzehr von Honig hatte ihn eine starke Müdigkeit übermannt, welcher er unmöglich hatte widerstehen können.
Erst am späten Nachmittag war er wieder aus seinem Schlummer erwacht. Dann jedoch hatte er sich schnellstmöglich und in Begleitung von Finstere Krähe, dem Wächter über die Toten, auf den Weg gemacht.
Wesentlich schneller noch hätte dieser Aufbruch vonstattengehen können, hätte Finstere Krähe nicht darauf bestanden, dass sich der Schamane zumindest eine Hose anzog und sich seinen Umhang aus Bisonfell überwarf. Doch dafür war der greise Elf seinem Begleiter nun dankbar. Die Luft wurde zunehmend kälter und ein frischer Wind blies durch die hölzernen Totenstätten, derer es hier viele Hundert gab. Den ekligen, faulig-süßen Geruch von Verwesung trug dieser Wind den zwei Elfen entgegen, nur leicht gemildert durch die aromatischen Kräuter, mit denen die Moonytoads ihre Toten einbalsamierten.
Träumender Lurch witterte jedoch noch etwas anderes an diesem Ort. Es war etwas, das nur die übernatürlich geschulten Sinne eines Schamanen wahrnehmen konnten. Er hätte es weniger als einen Geruch beschrieben, sondern eher als eine Art schwacher Energie, die seine Nasenschleimhaut kitzelte, so wie es eine allergische Reaktion tut. Ganz eindeutig identifizierte er diese Energie als die Reste einer ihm unbekannten Form von Magie.
»Es ist unheimlich heute«, stellte Finstere Krähe fest, während sie langsam durch die Reihen der aufgebahrten Leichname gingen. »Wir sollten morgen früh wiederkommen, wenn es heller ist.«
»Für einen Wächter der Toten bist du ein ziemlicher Schisser!« Träumender Lurch grinste hämisch. »Hast du dich nach all den Jahren noch immer nicht an die Toten gewöhnt?«
Der Totenwächter blieb neben einem der Gerüste stehen, auf dem eigentlich ein toter Elf hätte liegen müssen, das aber nun aus mysteriösen Gründen verlassen war. »An die Toten schon – an Tote die davonlaufen allerdings nicht.«
Mit einer Behändigkeit, die für sein Alter fast schon absurd war, erklomm der Schamane das Holzkonstrukt, um es näher in Augenschein zu nehmen.
»Du siehst das völlig falsch«, bemerkte er. »Noch weniger als die Toten muss man die Toten fürchten, die gar nicht mehr da sind.«
Ein Hauch von Stolz erfüllte den Alten aufgrund dieses – seiner Meinung nach – unheimlich tiefsinnigen Satzes. Auf Finstere Krähe schien dieser jedoch keinerlei beruhigende Wirkung zu haben. Dass irgendwo in weiter Ferne nun auch noch einige Kojoten damit anfingen, den hereinbrechenden Abend mit schaurigem Geheul zu begrüßen, trug offenbar auch nicht gerade zu seiner Beruhigung bei.
Den Schamanen hingegen ließ diese unheimliche Atmosphäre gänzlich kalt. Er untersuchte weiter mit konzentriertem Eifer und erstaunlichen Kletterkünsten die Totengestelle.
Bei deren Gestaltung hatte man den Hinterbliebenen völlig freie Hand gelassen. Demzufolge reichte die Palette an Verzierungen auch von nicht vorhanden über schlicht und einfach bis gepimpt bis zum Anschlag. Letzteres war eine offensichtliche Geschmacksverirrung der Angehörigen, die sich in einer Vielzahl bunter Decken, selbst gemachter Papiergirlanden und anderem geschmacklosen Zierrat äußerte.
Die Ewigkeit auf einer Totenstätte verbringen zu müssen, die einer Jahrmarktsbude zum Verwechseln ähnlich sah, das rief selbst in dem schrulligen Schamanen ein Gefühl der Befremdung hervor.
Als ebenso merkwürdig empfand er einige der Dinge, die man den Verstorbenen zur Seite gelegt hatte, da sie ihnen wohl zu Lebzeiten besonders ans Herz gewachsen waren. Neben den verschiedensten Waffen, Schmuckstücken oder Werkzeugen handelte es sich hierbei zumeist um irgendwelche Kleidungsstücke. Bei weiblichen Verblichenen waren es meist Schuhe. Ein Leichnam hielt sogar eine kleine, hölzerne Ente in den Händen, die so leicht war, dass sie im Wasser nicht untergehen würde. Ein anderer trug makabre Andenken an den vergangenen Krieg – mehrere abgeschnittene, menschliche und zwergische Finger – als Kette um den fleischlosen Hals.
Ein Gegenstand, den er auf einem der verlassenen Totengestelle entdeckte, weckte jedoch das besondere Interesse des Schamanen. Es war eine lange, mit kleinen Federn geschmückte Pfeife, die der seinen sehr ähnlich sah. Sie rief in ihm einen vagen Verdacht hervor. Leider war es ihm nicht möglich herauszufinden, wer auf dieser Konstruktion eigentlich hätte bestatten sein müssen. An diesem wie auch an allen anderen Gerüsten gab es keinerlei Namensschilder oder ähnliches. Hilfesuchend wandte er sich deshalb an Finstere Krähe, der noch immer furchtsam um sich blickend und irgendwie nutzlos in der Gegend herumstand.
»Gibt es eigentlich irgendeine Übersicht, welcher Verstorbene auf welchem Gestell liegt oder liegen müsste?«
Der Totenwächter nickte. »Klar, der Häuptling besitzt ein Verzeichnis aller Totenstätten mit genauer Positionsangabe und Namen der darauf Bestatteten.«
»Coole Sache das!« Träumender Lurch nahm die Pfeife, steckte sie in seinen Hosenbund und sprang von dem Gerüst herunter. »Davon hatte ich ja gar keine Ahnung. Aber mit dem Thema beschäftige ich mich ja auch normalerweise nicht. Der Tod ist einfach nicht so mein Ding. Unserem Anführer werde ich nachher aber noch einen Besuch abstatten.«
Er sah in den Himmel und stellte fest, dass die Lichtverhältnisse es nur noch für kurze Zeit ermöglichen würden, weitere Nachforschungen anzustellen. Wenn er noch einen Blick auf die Spuren werfen wollte, die von den Totenstätten wegführten, würde er sich damit sputen müssen.
»Da!«, rief Finstere Krähe plötzlich erschrocken und sein ohnehin schon bleicher Teint wurde noch ein wenig blasser. »Da war etwas! Hast du es auch gehört?«
Der Schamane horchte angestrengt in die Dämmerung hinein. Außer den Geräuschen, die der Wind verursachte, nahm er nichts Außergewöhnliches wahr.
»Mumpitz«, erwiderte er deshalb. »Da ist nichts. Du wirst wohl schon paranoid. Also chill mal und nerv mich nicht.«
Der Wächter über die Toten ließ nicht locker. »Doch da war was«, beharrte er. »Irgendein Schleichen oder Schlurfen. Es kam von den Totenstätten da hinten.« Er deutete nach Westen.
Obwohl Träumender Lurch dort im Halbdunkel nicht viel erkennen konnte, war er sich sicher, dass die Sinne des Totenwächters selbigem nur einen Streich gespielt hatten.
»Du solltest ernsthaft mal über einen Berufswechsel nachdenken«, schlug er vor. »Zweiter Bildungsweg oder so.«
Er ging in die Hocke, um die Abdrücke in dem grasbewachsenen Boden zu untersuchen. Wie Finstere Krähe es beschrieben hatte, führte von jedem Totengerüst nur jeweils eine Spur fort und all diese Spuren stammten eindeutig von Elfen. Dies konnte der Schamane an Breite und Länge der Abdrücke erkennen. Langsam hatten sie sich bewegt, so stellte er weiterhin fest, und bei einigen hatten weder Schuhwerk noch Haut oder Fleisch die blanken Fußknochen bedeckt.
Der alte Elf sah auf und folgte mit seinen Blicken den Spuren nach Nordwesten. Jemand würde dieser Fährte folgen müssen, um herausfinden zu können, wohin sie führte. Der Schamane beschloss, dass er am nächsten Tag den Bruder des vermissten Greifenreiters darum bitten würde. Dieser war ein erfahrener Krieger und Fährtenleser, ihm würde es leicht fallen, den Spuren über viele Meilen hinweg zu folgen. Vielleicht würde das Wissen über den Verbleib der abhanden gekommenen Toten ja auch Aufschluss über das Verschwinden von Grimmiger Hirsch bringen. Die Ahnen hatten ja erwähnt, dass all die seltsamen Geschehnisse der letzten Zeit in Zusammenhang standen.
Träumender Lurch richtete sich wieder auf und für einen kurzen Augenblick glaubte auch er ein leises, schlurfendes Geräusch zu hören. Er hielt inne und lauschte, dann jedoch schüttelte er den Kopf. Bestimmt hatte der Wind nur irgendeinen Gegenstand in Bewegung versetzt, so dass dieser sich an irgendwas gerieben und so das Geräusch verursacht hatte. Oder der memmenhafte Totengräber hatte es nun endlich geschafft, ihn mit seiner übertriebenen Furchtsamkeit anzustecken.
Dessen Erleichterung war deutlich sichtbar, als der Schamane wenig später das Signal zum Aufbruch gab. Die Dunkelheit herrschte nun beinahe schon vollständig über das Land.
Sie hatten die letzten Totenstätten, die ihren Weg zurück ins Dorf säumten, auch schon fast erreicht, als plötzlich eine tiefe Stimme hinter ihnen langsam zu sprechen begann.
»Wer … hat mich … gerufen?«
So dunkel und hohl klangen diese Wörter, als hätte sie jemand durch ein Rohr gesprochen. Ein merkwürdiges Rasseln begleitete sie, als hätte dieser Jemand gleichzeitig eine Blechdose voller Nägel geschüttelt.
Totenwächter und Schamane blieben abrupt stehen, dann wandten sie sich der Stimme zu.
»Ach du Scheiße!« Finstere Krähe wich ein paar Schritte zurück, als hätte ihn eine unsichtbare Faust getroffen. Dann blieb er jedoch wie versteinert stehen. Mit weit geöffneten Augen blickte er der unheimlichen Gestalt entgegen, die sich ihnen langsam näherte. Mit einem lebenden Elfen hatte dieses Wesen noch so viel gemein, wie es Fleisch auf den Knochen hatte – nämlich sehr wenig. Das Gesicht war nur noch zum Teil vorhanden. Vom Nasenbein abwärts bestand es nur noch aus Knochen, einigen Sehnen und faulendem Muskelfleisch. Dieses hing stellenweise in fransigen Lappen vom Schädel herunter. Auch das unvollständige, braungelbe Gebiss war nahezu gänzlich von fleischlichem Gewebe befreit. Ein permanentes, viel zu breites Grinsen zierte deshalb das vermoderte Antlitz des auferstandenen Leichnams. Die beiden milchig getrübten, leblosen Augen darin strahlten hingegen keinerlei Frohsinn aus. In den traurigen Überresten einer einstmals üppigen Haarpracht steckten noch ein paar Adlerfedern, die jedoch zerrupft und geknickt waren wie die eines Vogels in der Mauser.
Die weit vorangeschrittene Verwesung hatte sich natürlich auch des restlichen Körpers angenommen. Meist waren es nur blanke Gebeine, die durch die Löcher der verrotteten Wildlederkleidung zu erkennen waren. Nur hier und da bedeckte noch ein wenig bleiche Haut die morsch erscheinenden Knochen.
»Habt ihr mich … gerufen?« fragte der wandelnde Tote. Sein Kiefer verrichtete dabei deutlich sichtbar und knirschend seine Arbeit. Unterbrochen wurde seine Rede immer wieder von einem Seufzen und Stöhnen, das tief aus seinem modernden Brustkorb kam.
Natürlich war es der Schamane, der als erster Anwesende seinen Schreck überwand und seine Sprache wiederfand.
»Ich glaube du bist ein wenig spät dran, mein magersüchtiger Freund«, mutmaßte er. »Die anderen Toten sind alle gestern schon verschwunden.«
»Gestern?« Der Untote blieb stehen. Wäre seine zerfledderte Miene noch fähig gewesen, ein Gefühl auszudrücken, so wäre dieses wohl jetzt Verwirrung gewesen. »Als ich … den Ruf vernommen habe, dachte ich … ich könnte noch … ein wenig liegenbleiben. Das ist … schon einen ganzen Tag her? Im Reich … der Toten … vergeht die Zeit … wohl tatsächlich … etwas schneller!«
Träumender Lurch kniff die Augen zusammen und betrachtete den ehemaligen Elfen eingehend. Trotz des fortgeschrittenen Verfalls konnte er noch ausreichend viele persönliche Merkmale entdecken, um sich an dessen frühere Identität zu erinnern.
»Ich kenne dich«, stellte er fest. »Du bist … äh warst … ein Elf namens Früher Vogel! Du warst ein Greifenreiter und damals schon dafür bekannt, dass du stets zu spät kommst.«
»Mein Zeitmanagement … war mit dem … der anderen … nicht kompatibel«, rechtfertigte sich Früher Vogel.
Voller Abscheu beobachtete der Schamane, wie sich ein fetter, weißer Wurm aus der Stirn des Untoten herausbohrte und langsam zwischen seinen Augen herab kroch. Augenscheinlich war das unregelmäßige Loch inmitten der verfaulten Fratze sein Ziel, auf dem sich einst eine Nase befunden hatte.
»Äh … du hast da ...«, begann er, mit dem Finger auf das Gesicht des Verwesenden deutend. Dann jedoch ließ er es bleiben, Früher Vogel auf den Wurm aufmerksam machen zu wollen.
Es hätte ihn wohl eh nicht interessiert.
Stöhnend und langsam setzte sich der Leichnam wieder in Bewegung. Erst als er Finstere Krähe erreicht hatte, der immer noch starr vor Schreck ein paar Schritte neben dem Schamanen verharrte, blieb er stehen. Der Wurm hatte mittlerweile auch sein Ziel erreicht und war wieder in dem Schädel verschwunden.
»Hast du...mich...gerufen?«
»Ich? Nee, nee, nee!«, erwiderte der Wächter über die Toten hektisch, beinahe schon hysterisch. »Auf gar keinen Fall! Ich bin hier nur der Aufseher und hab mit der Sache nichts zu tun. Ich mache hier nur meinen Job, weißt du? Der wird übrigens total schlecht bezahlt – unter Tarif sogar. Der Urlaub entspricht auch nicht der allgemein gültigen Regelung und vom Arbeitsschutz will ich gar nicht erst anfangen. Man glaubt ja gar nicht ...«
Sein Redefluss wurde unterbrochen von einem Tomahawk. Der agile Tote trieb es ihm mit einem raschen Hieb zwischen die Augen. Lediglich ein kurzer Laut des Erstaunens drang aus dem weit geöffneten Mund des Totenwächters. Dann ging er – das Tomahawk noch aus seiner Stirn ragend – zu Boden.
»Boah, Alter!«, rief der Schamane. »Voll uncool! Warum hast du das denn gemacht?«
»Die Toten...hassen...alles Lebende«, erklärte Früher Vogel. »Das kann man … in einschlägiger Fachliteratur … nachlesen.«
Er sah auf den toten Elfen hinab, aus dessen Wunde eine Unmenge an Blut in den Boden sickerte. »Vor allem … hassen wir … die geschwätzigen … Lebenden.«
Seine toten Augen richteten sich auf Träumender Lurch. Seine ohnehin schon unheimliche Stimme klang noch finsterer und drohender, als er fragte: »Hast du … mich … gerufen?«
»Nö«, antwortete der alte Elf wahrheitsgemäß. »Ich bin ein Schamane. Wir beziehen unsere Kräfte aus dem Leben und der Natur. Nekromantie können wir nicht verwenden und wir verachten sie auch zutiefst. Nur Magier und Hexen bedienen sich solch widernatürlicher Kräfte.«
Wieder schien der erweckte Tote verwirrt zu sein.
»Aber … es muss … ein Elf … gewesen sein, der … uns rief. Weißt du, wer … es war?«
Der Schamane verneinte.
»Dann … musst auch du … jetzt sterben!« Früher Vogel beugte sich ächzend und stöhnend hinab um sein Tomahawk aus dem Kopf des soeben verstorbenen Totenwächters zu ziehen. Mehrfach musste er das Kriegsbeil hin und her bewegen, bis sich die Schneide endlich aus dem Schädel löste. Dies verursachte ein Geräusch, das wie das Knirschen und Knacken eines langsam brechenden Astes klang.
Da dies alles in einer sehr mäßigen Geschwindigkeit vonstattenging, hatte der Schamane ausreichend Zeit, in aller Gemütsruhe eine magische Formel zu flüstern. Nur einen Schritt konnte der Untote noch machen, dann hinderte ihn eine unsichtbare Kraft an jedweder weiteren Regung.
Sich nicht bewegen zu können, das hätte dem Leichnam freilich vertraut sein müssen, dennoch schien es ihm nicht zu gefallen. »Was … hast du … getan?«
Träumender Lurch grinste zufrieden. »Ich habe keine Lust auf so eine Kopfmassage mit dem Hackebeil, wie du sie meinem bedauernswerten Begleiter verpasst hast. Wer so lahmarschig ist wie du, sollte seine Mordabsichten übrigens nicht ankündigen. Es ist nur ein kleiner Paralyse-Zauber der dich hält. Jetzt können wir uns in aller Ruhe unterhalten.«
Der wandelnde Tote, der nun nicht mehr wandeln konnte, stieß ein Knurren aus, das seinen Missmut deutlich zur Geltung brachte. »Warum … sollte ich … mit dir reden?«
»Weil du ansonsten bis in alle Ewigkeit so dastehen wirst – bei Bewusstsein zwar, aber nicht in der Lage auch nur einen Finger zu rühren. Den Verfall verhindert mein Zauber auch, du musst also nicht darauf hoffen, irgendwann komplett verrottet zu sein. Es könnte also sehr gut passieren, dass es dir in ein paar Hundert Jahren furchtbar langweilig wird.« Der Schamane trat näher an den Leichnam heran. »Also beantworte mir ein paar Fragen und ich lasse dich wieder frei.«
»Du lässt mich frei?«, vergewisserte sich Früher Vogel. »Aber … lässt du mich auch weiter … unter den Lebenden verweilen?«
Der greise Elf hob die Augenbrauen. »Für jemanden, dessen Gehirn wohl größtenteils nur noch aus fauligem Matsch besteht, bist du aber recht pfiffig. Ich hatte tatsächlich vor, dich wieder in die ewigen Jagdgründe zu schicken, sobald du mir Rede und Antwort gestanden hast. Aber nun gut – ich verspreche, dich freizulassen und dich nicht wieder ins Totenreich zu verbannen. Deal?«
Der Untote war einverstanden. »Was willst du wissen?«
Der Schamane verschränkte die Arme vor der Brust. »Warum bist du dir so sicher, dass es ein Elf war, der euch gerufen hat? Wie ich bereits erwähnt habe, können Elfen keine nekromantischen Zauber wirken, weder Schamanen noch andere Elfen.«
»Wer die Toten ... weckt ist egal«, erklärte Früher Vogel. »Doch folgen werden sie ... nur einem ... aus ihrem Volk.«
»Ich verstehe!« Träumender Lurch ging grübelnd auf und ab, während er sich seinen kahlen, tätowierten Kopf kratzte. »Würde man einen toten Zwerg erwecken, so würde dieser nur einem Zwerg gehorchen, ein wiederauferstandener Mensch würde nur einem Menschen folgen und bei allen anderen Rassen wäre es ebenso. Der Elf, der euch gerufen hat, war nicht zugleich derjenige, der euch auch erweckt hat. Er hatte Hilfe von jemandem, der nicht dem elfischen Volk angehört und die Nekromantie beherrscht.«
Er warf einen Blick gen Himmel, wo inzwischen ein voller, tief stehender Mond aufgegangen war und die gespenstische Szenerie in ein fahles Licht tauchte. Der Umstand, dass er sich inmitten von Totenstätten mit einem paralysierten, auferstandenen Leichnam unterhielt, störte den Schamanen nicht weiter. Auch das erst kürzlich stattgefundene Ableben seines Begleiters machte dem abgeklärten, lebenserfahrenen Elf nicht zu schaffen. Etwas anderes bereitete ihm Kopfzerbrechen.
»Oder ist es viel mehr so, dass dieser Jemand die treibende Kraft ist und er sich nur des Elfen bedient hat, um die untoten Elfen zu kontrollieren?« Er wandte sich wieder an seinen halb verwesten Gesprächspartner. »Aber warum das alles? Um eine Armee aus Untoten zu erschaffen? Dann wäre es doch viel einfacher, sofort die Verstorbenen des eigenen Volks zu erwecken.«
»Ich weiß … es nicht«, gestand Früher Vogel. »Ich habe nur den Ruf … von einem aus meinem Volk … vernommen. Dann habe ich mich erhoben … öhm … vielleicht nicht ganz so schnell wie ich ... gekonnt hätte. Dann … habe ich … euch zwei Idioten … getroffen.«
»Was hättest du getan, wären wir nicht hier gewesen?« wollte der Schamane wissen.
»Ich wäre … gegangen«, der Leichnam zögerte und dachte nach. »Nach Nordwesten? Ja, Nordwesten. Irgendetwas zieht mich … in diese Richtung. Ist dort vielleicht ... derjenige, der … mich gerufen hat?«
»Du wirst es nie erfahren!« Träumender Lurch schnippte mit den Fingern und begleitet von einem leisen Knistern zerfiel der morsche Körper des Untoten zu Staub. Nur der Kopf blieb davon verschont und immer noch von magischer Energie belebt, fiel er zu Boden.
»Aua!« rief der Schädel.
Der Schamane sah auf ihn herab. »Hoppala! Da ist mir wohl ein kleiner Fehler unterlaufen!«
Dass dem nicht so war, das wusste er ebensogut wie Früher Vogel. Dessen trübe Augen zeigten nun zum ersten Mal eine Gefühlsregung. Voller Wut und Hass starrten sie zu dem alten Elfen hinauf. »Du hast mich … betrogen!«
»Gar nicht«, erwiderte Träumender Lurch. »Du bist frei und noch unter den Lebenden – so what?«
Er hob den Kopf auf, sorgsam darauf achtend, dass dieser ihn nicht in die Finger beißen konnte. Dann trug er ihn zu einem, am Rande des Bestattungsortes etwa anderthalb Meter aus dem Boden ragenden Ast und spießte ihn darauf auf.
»Ich habe dir sogar einen Job besorgt. Hiermit ernenne ich dich zum neuen Wächter über die Toten – meinen Glückwunsch! Für die körperlichen Arbeiten werden wir noch jemanden finden müssen, aber die Oberaufsicht obliegt von nun ab dir.«
Breit grinsend betrachtete der Schamane sein Werk. Der aufgespießte Schädel gab nur ein zorniges Knurren von sich.
»Freust dich ja gar nicht«, stellte Träumender Lurch fest. »Undankbarer Moderkopp!«
Er drehte sich um und trat neben die Leiche des ehemaligen Totenwächters. Voller Bedauern sah er auf diese herab und ein Seufzen entrang sich seiner Kehle. »Echt dumm für dich gelaufen, mein Freund. Das hast du nicht verdient. Ich sorge dafür, dass man dich anständig bestattet. Also lauf nicht davon.« Er sah wieder den aufgespießten Kopf an. »Unter den derzeitigen Umständen wäre das nämlich durchaus möglich. Pass deshalb gut auf ihn auf!«
Er zog die Pfeife aus seinem Hosenbund, die er auf einem der Totengerüste gefunden hatte und die ihn daran erinnerte, dass er noch etwas zu erledigen hatte.
»Es wird Zeit, dem Häuptling einen Besuch abzustatten«, murmelte er zu sich selbst. Dann lief er los, dem Kopf auf dem Ast zum Abschied winkend.
Bald schon hatte er den Ort der Toten hinter sich gelassen und so schnell, wie es ihm möglich war – was im Fall des dynamischen Greisen bekanntlich außergewöhnlich schnell bedeutete –, erreichte er das Tipi des Stammesoberhauptes. Hätte er vor diesem doch nur kurz angehalten und wären ihm die seltsamen Geräusche, die aus dem Tipi drangen, doch nur aufgefallen. Es wäre nicht zu jener peinlichen Situation gekommen, die sein ungestümes Verhalten nun zwangsläufig verursachte. Er stürmte in das Zelt, während Stehender Gaul und seine Frau gerade eifrig dabei waren, ihren ehelichen Pflichten nachzukommen.
»N'abend!« rief der Schamane, während der Häuptling hastig und laut fluchend von seiner Frau stieg. Diese bedeckte ihre Blöße rasch mit einer Decke und bedachte den Störenfried mit vorwurfsvollen, wütenden Blicken. Fast schon so viel Zorn versprühten ihre Augen wie die des wandelnden Toten, nachdem der Schamane ihn seines Körpers beraubt hatte.
»Verdammt noch mal, Träumender Lurch!«, schimpfte der Häuptling, während er sich hastig seine Hose anzog. (Als wenn der alte Elf darauf Wert gelegt hätte) »Kannst du nicht anklopfen?«
Alle drei Anwesenden sahen zum Eingang des Tipis hinüber – einem Loch, vor dem eine Decke hing.
»Äh … oder was rufen?«, korrigierte sich der Häuptling. »Klopf-klopf, Palim-Palim oder so was?«
»Ach, Mumpitz!« Der Schamane zeigte mal wieder den üblichen Mangel an Respekt seinem Häuptling gegenüber. »Ihr stellt euch an, als hätte ich noch nie zwei Elfen beim Poppen gesehen.« Er dachte kurz nach. »Ist zwar ein oder zwei Jahrhunderte her, aber egal. Ich komme gerade von den Totenstätten und habe einiges mit dir zu bereden. Zunächst einmal: Den alten Wächter der Toten hat es zerlegt, ich hab aber schon einen Ersatz für ihn gefunden. Des Weiteren ...«
»Moment, Moment«, unterbrach ihn Stehender Gaul. »Finstere Krähe ist tot? Aber wie konnte das passieren?«
»Eine wandelnde Leiche hat ihn abgemurkst, aber das ist jetzt nicht so wichtig.« Der ungebetene Gast begann, das Tipi des Häuptlings zu durchsuchen, was nicht nur dessen Unmut weckte, sondern auch das seiner Frau.
»Sag mal, geht es noch?« Sie sah ihren Mann hilfesuchend an. »Lässt du es einfach so zu, dass dieser Spinnewipp unser Zuhause auf den Kopf stellt, Schatz?«
Der Häuptling stöhnte genervt auf. »Was suchst du, Träumender Lurch?«
»Das Verzeichnis, Schatz«, erwiderte der Schamane. »Ich meine natürlich Häuptling! Das Verzeichnis der Totenstätten suche ich. Ich muss dringend etwas nachprüfen.«
Stehender Gaul ging zu einem hohen Korb, in dem sich mehrere Schriftrollen befanden. Eine davon zog er heraus und reichte sie dem Schamanen. Dieser machte sich sofort daran, sie eingehend zu studieren. Ohne vorher um Erlaubnis zu fragen, ließ er sich auf dem Boden nieder und breitete die Schriftrolle vor sich aus. Dann las er jeden Eintrag darauf leise murmelnd und mit dem Zeigefinger die Zeilen nachfahrend. Der Häuptling und seine Frau beobachteten ihn derweil immer noch ein wenig verärgert und genervt. So hatten sie sich ihren gemeinsamen Abend offenbar nicht vorgestellt. Sie ließen ihn jedoch gewähren. Ihnen war bewusst, dass der alte Elf trotz all seiner Eigenarten, seinem schlechten Benehmen und seiner gelegentlichen Verwirrung der weiseste und klügste Kopf im ganzen Dorf war.
»Wie ich es vermutet habe«, sagte der Schamane nach einer Weile. »Alle verschwundenen Toten waren zu Lebzeiten Greifenreiter, bis auf einen.« Er sah auf die Pfeife, die er neben die Schriftrolle gelegt hatte. »Schwebender Olm - er war mein Vorgänger als oberster Schamane.«
»Und was sagt uns das?«, wollte Stehender Gaul wissen.
»Wer auch immer die Toten geweckt hat, braucht anscheinend zweierlei«, begann Träumender Lurch seine Erklärung. »Zum einen braucht er Krieger – deshalb die Greifenreiter, zum anderen benötigt er Wissen – deshalb der oberste Schamane.«
»Was für Wissen?«, erkundigte sich nun die Frau des Häuptlings, die scheinbar ihre Verärgerung überwunden hatte. Über die Ereignisse der letzten Zeit war sie offenbar informiert und nun ebenso begierig wie ihr Ehemann, mehr über deren Ursache zu erfahren. »Zauberformeln oder magische Rezepturen?«
Der Schamane schüttelte sein Haupt. »Wer mächtig genug ist, die Toten zu erwecken, hat es bestimmt nicht nötig, irgendwelche Schamanenzauber zu stehlen. Es gibt aber Wissen, dass nur uns obersten Schamanen vorbehalten ist. Kein anderer Schamane, geschweige denn ein gewöhnlicher Elf, weiß über diese Dinge Bescheid.«
Eine ungewohnte Ernsthaftigkeit dominierte plötzlich das Mienenspiel des greisen Elfen. Für einen kurzen Augenblick schwanden all die verschrobenen Eigenheiten aus seinem Gebaren.
»Es geht um die uralten Schriften, in denen von den Gräbern der Ahnen berichtet wird. Wie alle obersten Schamanen, so wusste auch Schwebender Olm, wer diese Schriften hütet. Nun steht dieses Wissen auch demjenigen zur Verfügung, der seinen Leichnam erweckt hat. Ich befürchte, dass es jemand auf die Säulen der Unvergänglichkeit abgesehen hat!«
»Vielleicht der Magier, den der Greifenreiter auf der Baustelle gesehen hat«, vermutete Stehender Gaul.
Der Schamane nickte. »Ja vielleicht. Aber nur eins ist ganz gewiss.« Er ging zum Eingang des Tipis, schob die Decke beiseite und blickte in die Dunkelheit hinaus. »Die Wahrheit ist irgendwo da draußen.«