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Die biblischen Belege für eine Herkunft Jhwhs aus dem Süden
ОглавлениеEine „südliche“ Herkunft Jhwhs geben in der Tat vier poetische Texte der Hebräischen Bibel an. Zunächst heißt es im Buch Deuteronomium in einem Psalm, der Mose zugeschrieben wird (33,2):
Er sagt: „Jhwh ist vom Sinai gekommen, für sie11 hat er von Seir geleuchtet, er hat vom Berg Paran aus gestrahlt; er ist in Meribat-Kadesch12 angekommen; aus seinem Süden zu den Hängen13, für sie.“ (Dtn 33,2).
Dann im Richterbuch, innerhalb eines Liedes, das einen militärischen Sieg der Stämme Jhwhs feiert (Ri 5,4-5):
(4) Jhwh, als du aus Seir herauskamst, als du vom Land Edom her näherkamst, bebte die Erde, auch der Himmel triefte, die Wolken trieften vor Wasser; (5) die Berge flohen vor Jhwh – diesem Sinai, vor Jhwh, dem Gott Israels.
Eine sehr ähnliche Aussage findet sich in Psalm 68 (v. 8–9 und 18):
(8) Oh Gott, als du an der Spitze deines Volkes herauskamst, als du über die ausgetrocknete Erde näherkamst – Pause – (9) bebte die Erde, ja, der Himmel triefte vor Gott – diesem Sinai – vor Gott, dem Gott Israels. (18) Die Wagen Gottes werden in zwanzig Tausenden gezählt, Tausende und Tausende; der Herr ist unter ihnen, der (derjenige vom?) Sinai14 ist im Heiligtum.
Schließlich enthält das 3. Kapitel des Buches, das dem Propheten Habakuk zugeschrieben wird, einen poetischen Text, der ganz ähnliche Gedanken aufgreift (Hab 3,3 und 10a):
(3) Gott kommt aus Teman, der Heilige kommt vom Berg Paran. Pause. Sein Leuchten bedeckt den Himmel, sein Lob erfüllt die Erde. (10a) Die Berge sehen dich und zittern.
Diese vier Texte sind untereinander durch dasselbe Thema verbunden und durch dieselbe Angabe einer „südlichen“ Herkunft des Gottes Jhwh, auch wenn die Details variieren können. Alle Passagen finden sich in poetischen Texten: Ri 5,4–5 ist die Eröffnung des Lieds der Debora, eines Kriegs- oder Siegesgesangs; Dtn 33,2 ist Teil eines Psalms, der Moses Segen über die Stämme Israels kurz vor seinem Tod einrahmt; Psalm 68 ist ein Hymnus, der das göttliche Eingreifen in kriegerische Auseinandersetzungen rühmt, und Habakuk 3 ein ebenfalls kriegerischer Psalm.
Die beiden Textstellen aus Richter 5 und Psalm 68 sind besonders eng miteinander verwandt, wie diese Gegenüberstellung zeigt:
(4) Jhwh, als du aus Seir herauskamst, als du vom Land Edom her näherkamst, bebte die Erde, auch der Himmel triefte, die Wolken trieften vor Wasser; (5) die Berge flohen vor Jhwh – diesem Sinai, vor Jhwh, dem Gott Israels. | (8) Oh Gott, als du an der Spitze deines Volkes herauskamst, als du über die ausgetrocknete Erde näherkamst – Pause – (9) bebte die Erde, ja, der Himmel triefte vor Gott – diesem Sinai – vor Gott, dem Gott Israels. |
Der offensichtlichste Unterschied zwischen beiden Textstellen besteht darin, dass das Tetragramm Jhwh in Psalm 68 nicht auftaucht. Denn dieser Psalm ist Teil des „Elohistischen Psalters“ (Psalm 42–83), einer Sammlung, in welcher die Redaktoren irgendwann an vielen Stellen den Namen Jhwh durch ʾĕlōhîm (Gott) ersetzt haben; wahrscheinlich aus universalistischen Motiven oder um ein Aussprechen des Tetragramms bei der Rezitation dieser Psalmen zu umgehen15. Psalm 68 weist am Ende von Vers 9 noch sichtbare Spuren dieses Austausches auf, wo der aktuelle Text „Elohim, Elohim Israels“ wiederholt – was keinen Sinn ergibt. Man sieht sehr gut, dass das erste „Elohim“ ursprünglich „Jhwh“ gewesen ist: „Jhwh, Gott Israels“.
Setzt man in Psalm 68 wieder Jhwh an die Stelle von „Elohim“, dann sind beide Texte in weiten Teilen identisch (nebenbei bemerkt, hat sich an anderen Stellen des Psalms das Tetragramm erhalten). In beiden Texten „kommt“ Jhwh „heraus“, um in einen Krieg gegen seine Feinde einzugreifen. In beiden Texten wendet sich der Verfasser zunächst direkt an Jhwh in der zweiten Person, dann spricht er von ihm in der dritten Person. Man findet dieselbe Beschreibung der Erschütterung von Himmel und Erde, die durch das Erscheinen des kriegerischen Gottes hervorgerufen wird. Identisch ist auch die Charakterisierung Jhwhs durch die seltsame Apposition zeh sînaj, auf die wir noch zurückkommen werden.
Der größte Unterschied zwischen den beiden Textstellen besteht darin, dass Jhwh im Richterbuch aus Seir/Edom kommt, während Psalm 68 von einem Kommen über jĕšîmôn spricht – ein ziemlich seltenes Wort, das so etwas wie „wüstenähnlicher Ort“ bedeutet. Handelt es sich hier um eine Anspielung auf die Überlieferung vom Aufenthalt Israels in der Wüste – wie zum Beispiel Walter Gross in einem Kommentar zum Richterbuch meint16? Aber in diesem Fall versteht man nicht wirklich, warum der Verfasser, wenn er von der Wüste sprechen will, nicht den viel geläufigeren Terminus midbār benutzt, der diese Überlieferung unmittelbar evoziert. Vielleicht will der Verfasser von Psalm 68 den Akzent auf die Funktion dieses Gottes legen: Er kommt heraus, durchquert die Wüste und bringt dabei Regen und also auch Fruchtbarkeit. Aber es könnte sich auch um eine Anspielung auf eine ganz bestimmte Region handeln, die wir nicht mehr genau identifizieren können.
Wie kann man diese Parallelen erklären? Hängen beide Texte von einer gemeinsamen Quelle ab oder greift ein Text den anderen auf? Man muss nicht notwendigerweise eine gemeinsame Quelle postulieren: Man kann die Parallelen wie auch die Unterschiede durch die Hypothese erklären, dass Richter 5 den älteren Text darstellt, den der Verfasser von Psalm 68 wiederaufgreift. Letzterer enthält an verschiedenen anderen Stellen tatsächlich weitere Anspielungen auf andere Passagen des Liedes der Debora. So verweist Ps 68,14 („Werdet ihr im Lager liegen bleiben?“) auf Ri 5,16 („Warum bist du zwischen dem Gepäck geblieben?“); das himmlische Heer, das in Ps 68,12 erwähnt wird, erinnert an den Kampf der Sterne in Ri 5,20. Abgesehen davon gilt Richter 5 – zumindest in seiner ursprünglichen Form – oft als einer der ältesten Texte der Hebräischen Bibel.