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Kapitel – 13.11.2015 New York
ОглавлениеEtwa 5.500 Kilometer und ein paar Zeitzonen von London entfernt fasste sich John Stark an seinen Kopf, der – wie so oft in den letzten Monaten – unglaublich schmerzte.
Er hatte sich an das Leben in einer der größten Städte der westlichen Welt noch nicht gewöhnt. Nie hätte er gedacht, dass er sich noch einmal nach Kandahar zurücksehnte. Doch genau in diesem Moment wünschte sich John Stark in der im Süden Afghanistans gelegene Stadt zu sein. In Kandahar traten die Taliban Anfang der 1990er Jahre zum ersten Mal in Erscheinung. Diesen Umstand verknüpften die meisten Europäer und Amerikaner mit den Namen dieser Stadt.
Der Sand war in Kandahar geradezu allgegenwärtig. Atemberaubend schön schien der Sternenhimmel in der Wüste südlich der Stadt. Das Fehlen künstlicher Lichtquellen und eine staubtrockene Luft ermöglichten einen Blick auf die Sterne, der in kaum einer anderen Gegend der Welt so beeindruckend war.
An diese Schönheit musste Stark denken als er sich auf der Bank sitzend aufrichtete. Er war offensichtlich eingeschlafen. In der rechten Hand hielt er noch immer die in einer Papiertasche verborgenen Flasche fest umklammert. Zum Glück konnte er sich nicht im Spiegel sehen, als er einen tiefen Schluck des hochprozentigen Getränkes zu sich nahm. Er hasste sich zwar regelmäßig dafür, aber der Alkohol betäubte die vielen Gedanken, die sonst immerzu in seinem Gehirn kreisten.
Stark blickte um sich. Er war schon wieder in dieser Kirche an der 5th Avenue. Die letzten Tage fand er sich regelmäßig in diesem Gotteshaus wieder. Wie er heute dorthin kam, wusste er nicht. Das letzte halbe Jahr war wohl die schwierigste Zeit in seinem ganzen Leben. Sein letzter Einsatz als CIA-Agent war vor einem halben Jahr in Kandahar. Auch im Nachhinein hielt er es nie für möglich, wie aus seiner Sicht ein nur minimal fehlgeschlagener Einsatz eine solche Kette an schicksalshaften Ereignissen nach sich zog.
Es war nicht ungewöhnlich, dass eine Geheimoperation nicht wie geplant verlief. Dies kam regelmäßig vor. Auch dass ein mutmaßlicher Terrorist nicht mit Samthandschuhen angefasst wurde. Zumeist konnte diese Information zurückgehalten werden, sofern danach überhaupt gefragt wurde. Wo kein Kläger, da kein Richter.
Die Jagd nach Farid Jalal bot insofern bis zu seiner Festsetzung und auch bis zum Verhör durch Stark nichts Außergewöhnliches. Jalal galt als ein führender Kopf einer kleinen, aber brutalen und sehr gut organisierten Terroristengruppe in Kandahar. Durch ihn erhoffte sich die CIA insbesondere neue Erkenntnisse über die Finanzierung und die Zusammenarbeit kleinerer Terrorgruppen.
John Stark spürte schon in der ersten Minute des Verhörs, dass Jalal eine bedeutendere Rolle im Islamischen Staat spielte, als er bis zu diesem Zeitpunkt glaubte. Aber für die übrigen CIA Agenten galt Jalal als kleiner Fisch. Doch der Afghane erwies sich als ungemein zäh. Verschiedene Verhörmethoden führten lediglich dazu, dass er ein immer größeres Netz an Lügen und doch wieder kleinen wahren Details spann. Letztlich war es nahezu unmöglich, die wahren Aspekte herauszufiltern.
Mit jedem weiteren Verhör begann Stark die Geduld zu verlieren. Letztlich endete es damit, dass Jalal nach einer zu intensiven Befragung in ein mehrwöchiges Koma fiel. Die zunehmend brutaleren Vernehmungen wurden auch in Langley registriert. Letztlich interessierte sich auch der Geheimdienstausschuss des Senats für die Vorkommnisse in Kandahar. Bis zu diesem Zeitpunkt hätte noch alles geregelt werden können. John Stark begann dann aber den ersten von zwei unverzeihlichen Fehlern.
Der CIA Agent musste abrupt nach Langley zurückkehren und konnte damit „seine“ Mission Farid Jalal nicht mehr abschließen. Als er dann auch noch das Interesse des Geheimdienstausschusses an seinen Verhörmethoden bemerkte, brannte in ihm wohl eine Sicherung durch.
Mit dem Ausschuss oder seinen Mitgliedern hatte er bisher nie direkten Kontakt. Seine Vorgesetzten in Langley wussten, dass seine Stärken nicht in der Beherrschung einer solchen Situation lag, sondern im Außeneinsatz.
John Stark drang eines Abends in das Haus des Vorsitzenden des Geheimdienstausschusses ein. Damit nicht genug, stellte er den Senator zur Rede und drohte ihm – so die Aussage des gewählten Volksvertreters – „ein unangenehmes Verhör“ an, wenn der Ausschuss nicht sofort jegliches Interesse an Stark verlieren würde. Um seine Worte zu verdeutlichen richtete er auch seine Pistole auf den Vorsitzenden und drückte ab. Der Senator glaubte schon an seinen Tod, jedoch war die Waffe nicht geladen, sodass nur ein leises Klicken das Gespräch beendete.
Die Bedrohung eines Senators ist kein Kavaliersdelikt. Nachdem Stark das Haus des Senators verlassen hatte, setzten sich nach kurzer Zeit mehrere Bundesbeamte auf seine Fährte. Sie trafen ihn wenig später in seiner Wohnung an. In einem lautstarken Streit mit seiner Freundin verwickelt, schien die Situation noch weiter zu eskalieren. Nun begann er seinen zweiten Fehler binnen kurzer Zeit.
Damals noch in einer bemerkenswerten Form zückte Stark seine Pistole und bedrohte damit nicht nur seine Freundin, sondern auch die Bundesbeamten. Seine Partnerin wusste zwar von der Gefährlichkeit und der kompromisslosen Vorgehensweise ihres Freundes, doch dass er seine Waffe gegen sie richten würde, hielt sie für unmöglich. Bis auf sehr seltene Ausnahmen war er stets liebevoll und sehr besorgt um sie gewesen.
So wie an diesem Abend hatte sie ihren Partner noch nie erlebt. Die Aggressivität und Entschlossenheit in seinen Augen waren mehr als beängstigend. Zwischen dem gegenseitigen Anschreien und wechselweisen Aufforderungen, jeweils die Waffen zu senken, sackte sie in sich zusammen und heulte nur noch. Wie der Senator kurz zuvor, nahm auch sie an, dass ihre letzte Stunde geschlagen hatte.
Letztlich endete der Abend für Stark in einer Zelle. Die Einsatzkräfte glaubten schon nicht mehr daran, dass er sich ergeben würde, als er dann doch plötzlich die Pistole auf den Boden warf und seine Hände hob.
Am nächsten Tag verlor Stark seinen Job, seine Freundin und seine Wohnung. Er verlor in nicht einmal 12 Stunden alles, woran er bis zu diesem Tag geglaubt hatte. Es hätte aber auch noch schlimmer kommen können, denn ihm drohte ein langer Gefängnisaufenthalt.
Letztlich sorgten seine bisherigen Verdienste für die Sicherheit der Vereinigten Staaten und die wohlwollende Diagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung dafür, dass ihm zumindest das Gefängnis erspart blieb. Zu diesem Zeitpunkt und auch die folgenden Monate war das dem ehemaligen CIA Agenten aber völlig egal.
Knapp sechs Monate nach dieser verhängnisvollen Nacht war John Stark noch immer neben der Spur. Seine Fähigkeiten hatten auch dramatisch nachgelassen, sonst hätte er bemerkt, dass er noch immer regelmäßig von seinem früheren Arbeitgeber beschattet wurde. Exzessiver Alkoholmissbrauch hinterlässt aber bei jedem Menschen nach gewisser Zeit Spuren, unabhängig davon wie zuvor die körperliche und mentale Fitness ausgeprägt war.
John Stark stolperte aus der Kirche. Er wandelte auf der 5th Avenue Richtung Süden. Nur wenige Meter in westlicher Richtung entfernt, führte eine ganz in schwarz gekleidete Joggerin ein paar Dehnungsübungen durch. Auf den ersten Blick erschien sie mit ihrer schlanken Figur und ihren langen schwarzen Haaren unauffällig. Tatsächlich lief sie seit drei Stunden auf der Joggingstrecke im Central Park nur auf der Höhe zwischen der East 86th und East 94th Street.
Zwischendurch hielt sie immer wieder an, dehnte und trainierte dabei alle möglichen Körperregionen. Bei der Überwachung John Starks ging es nur mehr darum, ihn vor größeren Dummheiten – wie etwa einen weiteren Angriff auf einen Senator – abzuhalten. Er galt daher nur mehr als ein moderates Sicherheitsrisiko, allein schon aufgrund seines fortgesetzten Alkoholmissbrauches.
Der ehemalige CIA Agent zog die Blicke der Passanten auf sich. Jedoch nicht im positiven Sinn. Äußerlich trug er ein rot kariertes Hemd, das über seine blauen, abgetragenen Jeans ragte. Seine früher einmal weißen Sportschuhe und die in einer Papiertasche verborgene, aber für jeden erkennbare Flasche komplettierten das Bild eines Mannes in der Krise. Verstärkt wurde dieser Eindruck noch durch seine fettigen, über die Ohren stehenden Haare und den ungepflegten Bart. Gleichzeitig überragte er mit seinen 1,85 Meter die meisten New Yorker. Seine Statur war noch immer recht muskulös und wirkte bedrohlich.
Viele Menschen erkannten in ihm einen Veteranen, der die Gräueltaten des Krieges noch nicht verdaut hat und nun in einer gänzlich anderen Welt zurechtkommen musste. Ein älterer Mann steckte ihm 10 Dollar zu und murmelte:
„Danke für Ihren Einsatz für unser Land! Kommen Sie wieder auf die Beine! Das wird schon, ich habe auch einmal gedient.“
Er war in Gedanken noch immer bei den Ereignissen der letzten sechs Monate als er sich bückte, um die Schnürsenkel zu binden. Mit dem Kopf nur knapp über dem Boden betrachtete er aus der Froschperspektive die strahlend weiße Fassade des Solomon R. Guggenheim Museums. Plötzlich hielt ein weißer VW Transporter nur wenige Meter vor Stark, sodass sich das Fahrzeug zwischen ihn und das Museum schob. Ein Mann stieg auf der Beifahrerseite aus und ließ seinen Blick über die gesamte Umgebung kreisen.
Kurz bevor sich Stark anstellte, sich wieder zu erheben, bemerkte er die sorgfältig polierten Militärstiefel des Mannes. Der frühere Geheimdienstagent machte sich nun unauffällig am Schnürsenkel des anderen Schuhes zu schaffen und blieb damit weiter in gebückter Haltung. Er spürte instinktiv, dass von diesem Fahrzeug und den beiden erkennbaren Insassen eine große Gefahr ausging.
Der Mann schloss die Autotür hinter sich und setzte seine Schritte in Richtung des Guggenheim Museums. John Stark erhob sich nun, hob die rechte Hand an sein Ohr und simulierte dabei ein Telefonat. Er trat dabei auf der Stelle, stieß regelmäßig Flüche aus und herrschte den fiktiven Gesprächspartner mehrmals an. Währenddessen observierte Stark ganz genau das Auto und erblickte den Fahrer, der nun ebenso das Fahrzeug verließ.
John Stark setzte sich nun auch in Bewegung und schlenderte entlang der Seite des Kastenwagens, blieb dann wieder stehen und setze sein fingiertes Telefonat fort. Der Fahrer schien sich auf der anderen Seite des Fahrzeuges in Richtung Heck zu bewegen, da ihn Stark aus den Augen verlor. Die beiden Fahrzeuginsassen glichen sich dabei fast wie Zwillinge. Zum einen die unverkennbare militärische Ausbildung, die sich in jedem prüfenden Blick und in nahezu jeder Bewegung äußerte.
Auch ihre optische Erscheinung war sehr ähnlich. Beide hatten schwarze, kurz geschorene Haare. Nur ein kleiner Unterlippenbart zierte jeweils ihr Gesicht. Ihre Größe lag wohl jeweils bei knapp 180 Zentimeter, schlank, aber gut trainiert. Beide trugen zudem schwarze Militärstiefel, ausgewaschene blaue Jeans und ein farbiges Poloshirt.
Stark näherte sich nun dem Heck des Fahrzeuges, als in diesem Moment der Fahrer die beiden Hecktüren öffnete und dann wieder im VW Transporter verschwand. Der Kastenwagen hatte nur vorne auf der Fahrer- und Beifahrerseite Fenster, sonst waren alle Seiten verkleidet, sodass ein Blick in das Innere des Transporters unmöglich war. Geräusche drangen ebenso wenig heraus, aber sie wären sonst ohnehin von der lauten Umgebung absorbiert worden.
Der zweite Verdächtige war in der Zwischenzeit im Guggenheim Museum verschwunden. John Stark musste wissen, was hinter der Tür im Kastenwagen vor sich ging. Mit einem Mann konnte er es aufnehmen, auch wenn sein Kopf noch immer fürchterlich schmerzte und seine Blutalkoholwerte von 0 weit entfernt waren.
Die schwarz gekleidete Joggerin hatte die Laufstrecke inzwischen verlassen und querte nun den East Drive. Sie lief in einem lockeren Tempo auf der gegenüberliegenden Straßenseite auf der Höhe des Fahrzeuges vorbei, an dem ihr Zielobjekt offensichtlich großes Interesse zeigte. Sie beobachtete wie John Stark in einem schwer betrunkenen Zustand eine Hecktür öffnete und mit einer unglaublich schnellen Bewegung im Fahrzeug verschwand. Kein Betrunkener konnte mit einer solchen Geschwindigkeit und Geschmeidigkeit in ein Auto eindringen. Die Agentin zweifelte nun stark daran, ob ihr Zielobjekt tatsächlich so berauscht war, oder dies nur als Tarnung für das Eindringen in den VW Transporter benutzte.
Egal ob betrunken oder nicht, dieses Verhalten war als problematisch einzustufen. Als typische New Yorkerin hörte sie beim Laufen über ihre Kopfhörer Musik. Sie drosselte ihr Tempo, hüpfte von einem Bein auf das andere und zog ihr Smartphone hervor. Die Agentin rief die zuletzt gewählte Nummer an.
„Ich glaube wir sollten unseren Auftrag einer genaueren Kontrolle unterziehen.“
Nach einer kurzen Pause antwortete die Stimme am anderen Ende der Leitung.
„Seit der nächtlichen Lieferung vor sechs Monaten gab es nie mehr Probleme. Sind Sie sicher, dass wir den ganzen Aufwand auf uns nehmen sollen?“
Mit Auftrag war jedenfalls John Stark und mit der nächtlichen Lieferung sein folgenschwerer Auftritt beim Vorsitzenden des Geheimdienstausschusses gemeint.
Die Agentin überlegte kurz wie sie ihrem Gegenüber die Dringlichkeit der Situation verklausuliert und unauffällig schildern konnte. Sie spürte, wie ihr die Situation entglitt und jede Sekunde ohne Unterstützung die Handlungsoptionen weiter einschränkte.
„Wenn unser Auftrag nicht einwandfrei ausgeführt wird, droht er die Beziehungen zu einem wichtigen Kunden endgültig zu zerstören.“
Die Antwort folgte ohne jede weitere Verzögerung.
„Okay, unser Team kümmert sich drum.“
Die Agentin beendete das Telefonat und atmete kurz durch. Sie wusste, dass die Verstärkung – in der Regel vier unauffällige, aber im Nahkampf top ausgebildete Agenten mit leichter Bewaffnung – in weniger als fünf Minuten bei ihr sein würden. Sie beschloss ihre Position zu halten, wieder ihre Dehnübungen, diesmal an der Bordsteinkante, durchzuführen und den weißen Transporter auf der anderen Straßenseite nicht aus den Augen zu lassen.
John Stark war in der Zwischenzeit in den Kastenwagen eingedrungen. Er entschied sich, auch aufgrund seines Aussehens und der Flasche in der einen Hand, den Betrunkenen zu mimen. Nachdem er seinen Körper in das Innere des Wagens geschoben hatte, schloss er sofort wieder die Hecktür hinter sich.
Der Mann im Fahrzeug war nur für einen kurzen Augenblick überrascht. Es reichte aber, damit Stark die Tür wieder schließen konnte. Unmittelbar danach knallte die rechte Faust des Mannes unvermittelt auf Starks Nase. Ob des schnellen Angriffes nahm der ehemalige CIA Agent nur schemenhaft die Umgebung war. Der Verdächtige zog gerade eine Sprengstoffweste an, sonst wäre sein Angriff vermutlich deutlich schneller erfolgt und Stark hätte die Tür erst gar nicht mehr schließen können.
Mit einem Schlag war sich nun John Stark der Ernsthaftigkeit der Situation bewusst. Eine geschickt eingesetzte Sprengstoffweste in New York konnte mindestens 20, wohl eher 50 Menschen in den Tod reißen. Da die Terroristen zu zweit agierten, würden sie neben dem Sprengstoff davor wahrscheinlich auch noch Schusswaffen einsetzen, um die Opferanzahl noch weiter in die Höhe zu treiben. Das Guggenheim Museum bot sich hierfür als ein stimmiges Ziel an, da es als eine der Top Sehenswürdigkeiten in New York eine große Anzahl an Besuchern anzog.
Der Kampf um Leben und Tod – und genau um das ging es jetzt – in der Enge eines Wagens ist etwas ganz Besonderes, und nicht mit einer Auseinandersetzung etwa in einem Gebäude oder auf einem Schlachtfeld vergleichbar. Diese Art von Nahkampf zeichnet sich durch eine nicht mehr steigerbare Nähe und Intimität zwischen den Gegnern aus.
Für eine solche Situation bevorzugte Stark für gewöhnlich ein Messer. Nicht zu groß, um in der Enge des Raumes perfekt damit hantieren zu können. Sein Gegner zog nun genau ein solches und hielt es kurz quer vor seiner Brust, um den nächsten Angriff sorgsam zu planen. Eine der gefährlichsten Aspekte in einem Kampf ist das Unterschätzen des Gegners. John Stark glaubte hier seinen einzigen Vorteil zu haben. Er schaute wie ein Penner aus, kassierte einen heftigen Schlag auf die Nase und zeigte sonst keine weitere Reaktion.
Der ehemalige CIA-Agent versuchte die Tarnung aufrechtzuhalten, blickte möglichst ängstlich um sich herum und gab sich verwirrt. Tatsächlich hielt er Ausschau nach einer Waffe oder einen Gegenstand um den nächsten Angriff, der sonst wohl tödlich für ihn enden würde, parieren zu können. Seinem Eindruck entsprechend stammelte er undeutlich hervor:
„Bitte nicht töten! Ich gehe wieder, ich wollte nur schauen, ob hier etwas Geld oder Nachschub herumliegt.“
Beim Wort Nachschub deutete Stark mit seinem Kopf auf seine rechte Hand, in der er die Papiertasche mit der Flasche hielt. Er senkte gleichzeitig seinen Blick, hob seinen rechten Arm leicht, um seinen Worten mehr Nachdruck zu verleihen.
Stark ging davon aus, dass sich der Terrorist nun sicher fühlte. Vermutlich würde dieser nun etwas Beschwichtigendes sagen und dass er nun sofort verschwinden sollte. Wenn er ihm dann den Rücken zuwandte und die Hand zum Öffnen der Hecktür ausstreckte, würde er vermutlich von hinten ein Messer in den Körper gerammt bekommen. Doch das durfte nicht passieren.
Die von Kopf bis Fuß schwarz gekleidete Joggerin befand sich noch immer auf der anderen Straßenseite des weißen Transporters. Sie stellte sich gerade auf ein Bein, zog den anderen Fuß zu ihrem Gesäß und schob ihr Becken leicht nach vorne. Bei dieser Übung konnte sie ihren Körper gerade halten und so unauffällig geradeaus blicken.
Die meiste Zeit fokussierte sie den verdächtigen Wagen und sah dann abwechselnd links und rechts jeweils 180 Grad um sich. Da sie mehrmals zwischen ihrem linken und rechten Bein wechselte, bot sie einen ganz natürlichen Anblick. Dass sie hin und wieder näher gemustert wurde, fiel ihr zwar auf. Der Grund war aber wohl ausschließlich ihr schlanker, trainierter Körper und die langen, dunklen Haare. Oder doch ihr Po? Für einen kurzen Augenblick lächelte sie bei diesem Gedanken.
Für einen kurzen Moment schaukelte der weiße Kastenwagen. Sie war verleitet Nachschau zu halten oder sich zumindest dem Fahrzeug zu nähern. Ihre Befehle waren aber klar. Außer wenn John Stark jemanden an die Gurgel ging, musste sie auf das Eintreffen der Verstärkung warten. Das tat er zwar, aber sie wusste ja nicht was im Inneren des Fahrzeuges tatsächlich vor sich ging.
Sie wusste überhaupt nicht viel über ihr Zielobjekt. Ein paar Geschichten über seine Einsätze in Afghanistan waren aber zu ihr gedrungen. Über die Sache mit dem nächtlichen Besuch Starks beim Senator und seiner Freundin wurde sie zudem offiziell informiert. Seine inakzeptable Verhaltensweise nach der Rückkehr in die USA war der ausschlaggebende Grund für die Überwachungsmission.
Ein zweites Mal innerhalb weniger Sekunden zierte ein Lächeln ihr hübsches Gesicht. Ein aufkommendes Gefühl sexueller Erregung unterdrückte sie sofort. Sie blickte auf ie Uhr. Es war 15.38 Uhr. Vom Guggenheim Museum kommend fiel ihr ein verdächtiger Mann auf. Die militärische Art und die speziellen Stiefel waren nicht seine einzigen auffallenden Merkmale. Er starrte fast unablässig auf den weißen VW Transporter, als er abrupt stehen blieb und ein Mobiltelefon aus der Hosentasche zog.
Er schien eine kurze Nachricht empfangen zu haben, da er nach wenigen Sekunden angestrengten Lesens das Mobiltelefon wieder zurück in die Tasche schob. Man spürte geradezu seine Freude, als er sich nun in schnellen Schritten dem Fahrzeug näherte.
Der Terrorist im Wagen war sich seiner Sache sicher. Er wollte dem Penner gerade mit einem Nicken zu verstehen geben, dass er verschwinden sollte. Dann würde er ihm das Messer seitlich in den Hals rammen. Die Arterien verliefen dort sehr nah an der Hautoberfläche. Mit einem hohen Blutverlust ging auch ein schneller Tod einher, wenngleich das viele Blut das Verbergen von Spuren natürlich erschwerte. Da sie aber in wenigen Augenblicken ohnehin ins Museum stürmen und mit vielen anderen Menschen sterben würden, war diese Frage unerheblich.
Als der Penner seinen rechten Arm mit der Flasche in der Hand leicht hob, schnellte er plötzlich mit seinem ganzen Körpergewicht vor und drückte den Terroristen gegen die Wand des Fahrzeuges. Dieser konnte sich nicht mehr bewegen, vor allem, weil er mit diesem Vorgehen auch nicht gerechnet hatte. In der Vorwärtsbewegung drehte Stark die Flache und schlug den Boden der Flasche gegen den Wagenheber, der neben ihm lag.
John Stark hielt also die Flasche, noch immer in der Papiertasche verborgen, am Hals und drückte den abgebrochenen Teil in die Gurgel des Terroristen. Dieser konnte nicht einmal mehr laut schreien, da der ehemalige CIA-Agent den Rest der Flasche mit größter Kraft in den Hals des Gegners drehte. Blut spritzte in alle Richtungen. Stark konnte nichts mehr sehen, da sich das Blut pulsierend über sein ganzes Gesicht verteilte.
Er wagte es auch nicht mit der anderen Hand das Blut aus seinem Gesicht zu wischen, da er so etwas Druck von seinem Gegner nehmen und dieser vielleicht mit allerletzter Kraft noch einmal einen Gegenangriff versuchen würde. Stark hielt seine Position bis er spürte, wie das Leben in seinem Gegner langsam erlosch. Sodann ließ er von ihm ab, fuhr nun mit dem Handrücken über sein Gesicht und konnte wieder etwas sehen.
Nun musterte er das Innere des Wagens. Es befanden sich nur ein paar Kisten im Laderaum. Bei einigen lag der Deckel bereits sorgsam geschlichtet daneben. Stark bewegte sich zum nächsten offenen Behälter. Obwohl er schon den Inhalt ahnte, war er doch vom konkreten Inhalt überrascht: eine Steyr AUG A3 mit Zielfernrohr und taktischem Licht. Es handelte sich dabei um ein vollautomatisches, militärisches Sturmgewehr. Als Zivilist konnte man diese Waffe nicht legal kaufen. Diese Waffe passte jedenfalls perfekt zum militärischen Auftreten der beiden Männer.
Stark erhaschte noch einen schnellen Blick in eine weitere Kiste, vielmehr war es ein Handgranatenkoffer. Näher konnte er ihn jedoch nicht mehr untersuchen, da im nächsten Moment die Hecktür aufflog und ein Mann in den Wagen stieg. Es handelte sich dabei um den Beifahrer, der nun von seiner Erkundungstour offensichtlich wieder zurückkehrte. Stark drückte sich noch schnell in die Seitenwand des Fahrzeuges, um nicht sofort vom anderen Mann entdeckt zu werden.
Dieser hielt seinen Blick gesenkt, doch die Blutspuren am Boden ließen ihn seinen Kopf sofort heben. Er war bereits mit einem Fuß im Wagen, als ihn Stark am Gürtel seiner Jeans packte und ihn mit voller Kraft in das Fahrzeug zog. Der Terrorist landete auf allen Vieren und knallte mit seinem Kopf gegen eine der Kisten.
Stark glaubte, dass der Mann aufgrund des harten Aufpralls mit dem Kopf wohl bewusstlos sein würde, aber er erwies sich als überaus zäh. Dieses Mal konnte der ehemalige Geheimagent auch nicht mehr darauf vertrauen, dass ihn sein Gegner unterschätzen würde. Stark war überall mit Blut bedeckt. Dem Terroristen musste klar sein, dass er seinen Kollegen getötet hatte, sofern er nicht ohnehin schon seine Leiche entdeckt hatte.
Ein Überzeugungstäter konnte in einer solche Situation ungeahnte Kraftreserven mobilisieren. Die Attentäter arbeiteten Monate auf diesen Tag hin. Sie hatten trainiert und versuchten alle Eventualitäten zu berücksichtigen. Sie trafen auch Vorkehrungen, um nicht entdeckt zu werden, was ihnen offensichtlich auch bis zu diesem Zeitpunkt erfolgreich gelungen war.
Einer der zwei Protagonisten war schon tot. Dem anderen wurde augenblicklich klar, dass der Anschlag nie mehr in der geplanten Dimension durchgeführt werden konnte. Die große Opferzahl, von der sie ständig miteinander sprachen und sich gegenseitig motiviert hatten, wurde nicht mehr Realität. Die Belohnung, die ihnen für ihre Familien in Aussicht gestellt wurde, konnte er sich höchstwahrscheinlich auch in die Haare schmieren.
Nach dieser Wirkungsanalyse folgt in der Regel die Ursachenforschung. Wie konnte der perfekte Plan sabotiert werden? Wer war dafür verantwortlich? Für den verbleibenden Attentäter war diese Frage beantwortet, als er einen blutüberströmten Obdachlosen neben der Leiche seines Partners sah.
Nun bot sich auch die Möglichkeit die während der Analyse schleichend entstandenen Selbstzweifel wieder los zu werden. Der noch lebende Attentäter konnte es sich zwar nicht erklären, wie ein Penner es vermochte seinen hochmotivierten Kollegen zu ermorden. Inzwischen ging es aber mehr darum, möglichst viel vom ursprünglichen Plan zu retten. Er durfte seinen Gegner jedenfalls nicht unterschätzen. Unter Obdachlosen befanden sich vielfach ehemalige Militärangehörige, die vom zivilen Leben überfordert waren. In Kampfsituationen mobilisierten diese aber – sogar nach vielen Jahren – ihre Instinkte und ihre bis zum Exzess trainierten Verhaltensmuster.
Stark war noch immer unbewaffnet. Seine abgebrochene Flasche steckte im Hals des toten Terroristen. Dessen Messer lag neben der Leiche am Boden und damit ein paar Schritte entfernt. Er griff in die zuvor inspizierte Kiste und holte das Sturmgewehr hervor. Ein Magazin fehlte zwar und er hatte in der kurzen Zeit auch noch nicht die Munitionskisten gefunden. In der Enge des Raumes und da der gegnerische Angriff unmittelbar bevorstand, hätte er es in der kurzen Zeit aber ohnehin nicht laden, entsichern und zielgenau abfeuern können.
„Sarah!“
Die Joggerin wirbelte herum. Der erste Mann konnte sich ihr unbemerkt auf etwa sieben Meter nähern.Die restlichen drei Personen folgten mit einem Respektabstand. Standardmäßig waren sie nur ein paar Blocks entfernt, als sie alarmiert wurden. Sie steuerten ihren unauffälligen Ford F-150 Pick-up von der Madison Avenue in die 89. Straße und parkten ihn vielleicht 25 Meter von ihrer Kollegin entfernt.
„Status?“
Die Situation gestaltete sich für einen normalen Bürger noch immer unauffällig. Eine Joggerin sprach mit einem etwa 50-jährigen Mann in einem durchschnittlichen dunklen Anzug. Er wirkte wie ein typischer Mitarbeiter einer der vielen Behörden in New York. Die anderen Teammitglieder waren für einen Außenstehenden nicht als eine Gruppe erkennbar. Sie waren, mit Ausnahme des Pärchens, praktisch in allerlei Hinsicht inhomogen.
Neben dem ersten Anzugträger gab es noch einen zweiten. Dessen Kleidung war aber um vieles hochwertiger. Seine dunklen Sonnenbrillen wie auch seine Schuhe aus feinstem Rindsleder strahlten eine bewusste Arroganz und Überheblichkeit aus.
Die einzige Frau im Team war sportlich-elegant gekleidet und um die 30 Jahre alt. Ihr dezentes Makeup passte perfekt zu ihrem Stil. Sie ging händchenhaltend mit dem vierten Agenten bereits auf der Straßenseite des weißen Transporters, in dem gerade John Stark um sein Leben kämpfte. Nach ein paar Schritten blieben sie stehen und küssten sich leidenschaftlich. Er spielte dabei seine Rolle perfekt als zweiter Teil eines jungen, frisch verliebten Paares, das seinen ersten Urlaub in New York verbrachte.
Die Joggerin, die als Sarah angesprochen wurde, war froh, dass nun endlich die Verstärkung eingetroffen war. Sie saß, bildlich gesprochen, auf Nadeln und wollte endlich wissen, was in dem Fahrzeug vor sich ging.
„Ich sah John Stark wie er hinten in den weißen VW Transporter einstieg, ja geradezu hineinstürmte. Anfangs wirkte er betrunken auf mich, aber ich glaube, dass er nur eine Rolle gespielt hat. Vermutlich war schon jemand im Fahrzeug. Das konnte ich aber nicht beobachten, da mir auf den Weg hierher die Sicht mehrmals durch Lastwagen verstellt war.
Vielleicht drei Minuten später kam ein Mann aus der Richtung des Museums zum Wagen. Absolut militärisches Auftreten. Er öffnete die Hecktür und für mich schien es, als ob er mit Gewalt hineingezogen wurde. Unmittelbar danach wurde die Tür von innen geschlossen. Seitdem habe ich nichts mehr Auffälliges bemerkt.“
Der Mann im Anzug fasste sich kurz an sein linkes Ohr, drehte seinen Kopf von Sarah weg und gab das Kommando:
„Wir gehen in einer Minute rein! Besetzt eure Positionen!“
Dann wandte er sich wieder Sarah zu:
„Danke, das war gute Arbeit! Gehen Sie jetzt nach Hause, wir übernehmen.“
Sarah wollte noch etwas erwidern, doch der Mann setzte sich schon in Richtung des weißen VW Transporters in Bewegung. Sie wusste, dass sie nicht an der nun folgenden Operation teilnehmen durfte. Die Befehle waren klar. Vielleicht war das nun überhaupt das Ende ihrer Beobachtungsmission und John Stark war bereits tot. Die Joggerin, die natürlich nicht wirklich Sarah hieß, riskierte noch einen letzten Blick auf das Fahrzeug und ging langsam Richtung Westen.
Stark hatte gerade erst das Sturmgewehr an sich gerissen, als es ihm der am Boden liegende Terrorist mit einem Tritt wieder aus der Hand schlug. Die Waffe prallte dabei an sein Kinn und versetzte dem früheren CIA-Agenten einen wuchtigen Schlag. Er stand noch immer an der Seitenwand des Fahrzeuges. Sein Angreifer richtete sich in der Zwischenzeit auf und stand in der Mitte der Ladefläche.
Beide Männer starrten sich für einen Augenblick hasserfüllt an. Auf der einen Seite hielt sich ein blutüberströmter Mann in alten Klamotten und einem ungepflegten Bart aufrecht. Auf der anderen Seite positionierte sich ein gut angezogener, attraktiver Typ, der allerdings eine Platzwunde am Kopf erlitten hatte und auch bei ihm die rote Flüssigkeit zunehmend das Gesicht bedeckte.
Der Attentäter setzte ansatzlos seinen linken Fuß ein und traf Stark mit voller Wucht am rechten Ohr. Dann setzte er seine rechte Faust schon zum Schlag in die Magengegend des vermeintlichen Obdachlosen an. Stark konnte im letzten Moment einen der Deckel der Waffenkisten zwischen seinen Körper und dem Gegner bringen. Dadurch krachte die Faust des Terroristen in das Holz und federte den ganzen Schlag ab. Stark ließ den in zwei Teile zerbrochenen Deckel fallen. Er musste sich etwas einfallen lassen.
Die Handlungsoptionen waren beschränkt. Der Attentäter schien unbewaffnet zu sein, sonst hätte er schon längst seine Waffe gezogen. Stark wusste, dass seine Zeit begrenzt war. Je länger der Kampf dauerte und je aussichtsloser sein Gegner die Situation einschätzte, desto mehr musste er mit einer Verzweiflungstat rechnen. Sollte der Terrorist zur Überzeugung gelangen, sich nicht mehr aus dieser Lage befreien und den Anschlag im Guggenheim Museum umsetzen zu können, so würde er den maximal möglichen Schaden im Fahrzeug verursachen.
Dafür standen ihm ein paar Möglichkeiten zur Verfügung: Zum einen der Handgranatenkoffer. Er konnte bei einigen Granaten den Sicherungsstift entfernen, bevor die erste explodieren würde. Neben den zwei Personen im Wageninneren würden eventuell noch weitere Passanten am Gehsteig oder in vorbeifahrenden Autos durch die Explosion getötet werden. Wahrscheinlich würde auch noch der Tank des Transporters detonieren. Eine Autoexplosion mitten in Manhattan wäre zumindest etwas nicht Alltägliches.
Eine noch größere Gefahr ging aber von den Sprengstoffwesten aus. Stark kannte zwar nicht den konkreten Zündungsmechanismus. In der Regel waren diese aber einfach und simpel konstruiert. Zumeist genügte ein einfacher Kopfdruck, um sie zur Detonation zu bringen. Der tote Terrorist trug sie schon an seinem Körper und für den zweiten lag sie mit Sicherheit funktionsfähig in einer der Kisten bereit. Die Explosion eine dieser Sprengladungen würde eine deutlich größere Wirkung entfalten als ein paar Handgranaten.
Die beiden Kämpfer standen sich in einem Abstand von circa einem Meter gegenüber. Stark musste handeln, bevor sein Gegner das Heft in die Hand nahm. Der ehemalige Geheimagent drehte sich plötzlich um 90 Grad, zog sein linkes Bein abrupt an sich, sein Oberkörper fiel dabei wie ein Tropfen senkrecht zu Boden. Gleichzeitig streckte er in der Fallbewegung seinen rechten Fuß mit aller Kraft aus und traf damit das linke Knie des Attentäters.
Dieser taumelte und versuchte sich mit seinen Händen irgendwie festzuhalten, um sich auf den Beinen halten zu können. Stark nutzte diese Sekundenbruchteile, in der sein Gegner ausschließlich mit seiner Stabilisierung beschäftigt war. Er schnappte sich den Drehmomentschlüssel, der auf den hydraulischen Wagenheber aufgesteckt war und drosch damit mehrmals auf den Kopf des Attentäters sein. Dieser brach bereits nach dem ersten Schlag bewusstlos zusammen.
Stark verlor für einige Momente die Beherrschung über sich. Der zweite Attentäter lag nun ebenfalls tot neben dem anderen. So schnell er die Kontrolle über sich verloren hatte, so schnell gewann er sie auch wieder zurück. In diesem Aufzug konnte er unmöglich durch die Straßen New Yorks gehen. Er fand auf einer der Kisten einen Rucksack, in dem frische Kleidung geschlichtet war.
Schnell zog er sich komplett um. Die Hose und das Shirt waren zwar etwas zu kurz und zu eng, aber er musste ja nicht perfekt ausschauen. So gut es ging wischte er das Blut mit seinen alten Kleidern aus dem Gesicht. Die Hände streifte er zuvor noch an der relativ sauberen Hose des zweiten Attentäters ab. Er fand auch noch ein schwarzes Yankees Baseball Cap und zog es über. Er atmete noch einmal tief ein und fasste schon den Griff der Hecktür.
Plötzlich wurden beide Hecktüren geöffnet und Stark blinzelte in die Mündung einer SIG Sauer P226 mit Schalldämpfer. Er blickte über die Waffe in das Gesicht einer circa 30-jährigen Frau, die aus ihrer Perspektive den rechten Teil des VW Transporters abdeckte. Im Abstand von etwa eineinhalb Metern stand – gleichsam spiegelbildlich – ein etwa gleichaltriger Mann, ebenso sehr sportlich und deckte mit seiner Waffe den linken Teil des Laderaumes ab.
Plötzlich trat ein etwas älterer Mann in einem dunkelgrauen, etwas abgetragenen Anzug zwischen die beiden Agenten. Er lugte in das Innere des Fahrzeuges und sah sofort die zwei übel zugerichteten Leichen. Er zuckte kurz zurück, als er die Sprengstoffweste an einer der beiden erkannte. Stark bewegte sich noch immer keinen Millimeter, als ihn der Anzugträger direkt adressierte.
„Hallo John! Schön dich wieder zu sehen! Was ist hier passiert?“
Er deutete seinen beiden Agenten, dass sie die Waffen unauffällig wieder verschwinden lassen sollten. Es bestand keine Gefahr mehr. Bisher schien die Aktion auch keine Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit provoziert zu haben. Stark trat nun aus dem Transporter heraus und schloss bedächtig die beiden Hecktüren.
In einer Vorher-Nachher-Betrachtung hatte sich der ehemalige Geheimdienstagent positiv verändert. Er betrat als ungepflegter, heruntergekommener Obdachloser das Fahrzeug. Wenige Minuten später trat er als modisch gekleideter Mann wieder heraus. Der Bart passte zu seinem Look, obwohl er noch immer eine Spur zu verwahrlost war.
Etwaige Blutspritzer, die er nach seiner notdürftigen Reinigung noch übersehen hatte, waren auf den ersten Blick nicht auszumachen. Dass er in der Zwischenzeit überhaupt zwei Terroristen ausgeschaltet und ein mögliches Blutbad mitten in Manhattan verhindert hatte, war von außen nicht erkennbar.
John Stark blickte den drei Agenten nacheinander kurz in die Augen und verließ dann wortlos den Tatort. Die beiden jüngeren Beamten wollten wieder ihre Waffen ziehen und ihren ehemaligen Kollegen am Verlassen des Ortes hindern. Doch der ältere Mann im Anzug gab ihnen zu verstehen, dass sie Stark ziehen lassen sollten. Was er im Inneren des VW Transporters gesehen hatte, machte ihm mehr Sorgen als ein ehemaliger Geheimdienstler, der verschwinden wollte, nachdem der gerade einen Anschlag verhindert und zwei Terroristen getötet hatte.
Der Fokus lag nun in der Beseitigung der Spuren und er musste herausfinden, was hier tatsächlich geplant war. Wahrscheinlich konnte Stark keinen Beitrag zur Aufklärung leisten. Er war wohl zufällig auf diese Attentäter gestoßen und hat dann nur getan, was er auch früher getan hätte. Der Chef der vierköpfigen Spezialeinheit wusste, dass dieser Vorfall viel Aufmerksamkeit generieren würde, auch wenn er verhindert worden war, oder gerade, weil er verhindert worden war.
Die Öffentlichkeit und die Politik fragten bei einem vereitelten Terroranschlag noch früher als sonst, wo denn die Polizei und die Geheimdienste waren. Wie konnten zwei Extremisten mit Sprengstoffwesten und Sturmgewehren unentdeckt nach Manhattan vordringen?
Der Anzugträger kannte auch seine direkten Vorgesetzten. Diesen Bockmist wollte er sich nicht antun: Die Rechtfertigungen, wieso sie mitten in New York operierten. Warum sie überhaupt einen ehemaligen CIA Agenten beschattet hatten und so weiter. Er tat das einzig Richtige, das er glaubte, tun zu können. Er rief William Davis an, den Direktor der Central Intelligence Agency.
John Stark überquerte in der Zwischenzeit die 5th Avenue und beschloss über den Central Park einen alten Bekannten aufzusuchen. Zudem wollte er auf dem Weg noch eine andere Angelegenheit regeln.
Sarah drehte anfangs noch alle paar Meter ihren Kopf zum VW Transporter zurück. Als letztes sah sie ihre zwei Kollegen die Hecktür des Wagens öffnen. Dann war sie zu weit entfernt und die Sicht zum Fahrzeug war ihr verstellt. Für eine Joggerin bewegte sie sich viel zu langsam. Sie schien auch nicht außer Atem zu sein. Zahlreiche Gedanken prasselten auf sie ein, als ein Mann zu ihr aufschloss und in ihr Ohr flüsterte:
„Nächstes Mal helfen Sie mir bitte bevor sie Verstärkung rufen! Die wäre ohnehin zu spät gekommen! Und…“
Der Mann mit einem Baseballcap und einem zu engen Shirt zwinkerte ihr zu. Er beschleunigte seine Schritte, zog an ihr vorbei und als er sie schon überholt hatte, drehte er sich noch einmal kurz um und rief:
„… variieren Sie ihre Übungen! Sie trainieren ihren Po zu einseitig!“
Es handelte sich um John Stark, der schnellen Schrittes an ihr vorbei ging.