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Kapitel – 14.11.2015 London

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Um 6 Uhr morgens klingelte der Wecker in einer schicken Wohnung im Londoner Stadtteil Mayfair, nur ein paar Gehminuten vom Speakers Corner im Hyde Park entfernt. Das Gebäude selbst war unscheinbar. Tatsächlich war in dem Wohnhaus neben der Wohnung für den Leiter des MI6, noch eine für einen weiteren hohen Beamten untergebracht. Weiters befanden sich dort noch für die Personenschützer als Airbnb getarnte Appartements. Bei solchen vermeintlich vermieteten Unterkünften fiel es nicht auf, wenn ständig wechselnde Personen im Haus ein- und ausgingen.

Die Fenster bestanden aus kugelsicherem Glas. Die zwei Zutritte waren besonders gesichert. Stahlverkleidete Türen konnten einen leichten Raketenangriff standhalten und auch das Mauerwerk wurde innen entsprechend aufwändig verstärkt. Ein Panikraum und ein Waffenraum standen weiters für den Ernstfall zur Verfügung.

Ein weiterer Vorteil dieser Unterkunft war die zentrale Lage. Bei normalem Verkehr war Downing Street 10 nur eine Viertelstunde mit dem Auto entfernt, beim üblichen Stau zur Rushhour war man allerdings zu Fuß schneller. Tatsächlich steuerte Robert Fulham Downing Street 10 direkt von seiner Wohnung vielleicht einmal im Jahr an. Vor allem die fast ständig dort lauernden Journalisten sprachen gegen ein Treffen in der Residenz der Premierministerin des Vereinigten Königreichs.

Es war zwar Samstag, aber aufgrund der Terroranschläge in Paris war ein morgendlicher Termin des MI6 Chefs bei der Premierministerin unverfänglich. Robert Fulham duschte kurz nach dem Aufstehen, rasierte sich und zog sich einen dezenten, dunkelblauen Anzug mit weißem Hemd an. Sowohl die Farbe als auch das Muster der Manschettenköpfe waren perfekt mit der Krawatte abgestimmt. Er zog die Tür hinter seiner Wohnung zu und wurde schon von zwei Personenschützern erwartet. Sie geleiteten ihn in die Garage, wo sein Chauffeur wartete. Dann machten sie sich mit ihm auf den Weg zur Premierministerin.

Sobald Fulham eingestiegen war, wählte er eine Nummer auf seinem Mobiltelefon. Eigentlich passte es ihm gestern ganz gut, dass die Premierministerin ein wichtiges Detail nicht mehr hören wollte, obwohl ihn das sehr überrascht hatte. So kannte er sie nicht. Vielleicht ging ihr aber der Tod des Polizisten, ihres gemeinsamen Freundes, näher als er erwartet.

So konnte jedenfalls sein Team in der Nacht noch einmal alles überprüfen. Vielleicht konnten sie sogar noch mehr herausfinden, als der Stand gestern Abend war. Seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die sich mit der Auswertung von Telekommunikationsdaten beschäftigten, zählten zu den Besten der Welt. Bei der aktuellen Problemstellung hatte er auch seine Dechiffrierungsspezialisten zugezogen. Dieser eine Hinweis war zu wichtig, als dass man nicht alle verfügbaren Ressourcen zur Entschlüsselung aufwendete.

Parallel zur Säuberung des Tatortes begannen die Untersuchungen der Leichen der drei Attentäter. Bei einem, vermutlich war es der Anführer der Gruppe, entdeckten die Agenten ein Mobiltelefon. Bei einem derartigen Anschlag ist zwar prinzipiell die Vorbereitung das wesentliche Element. Je detaillierter eine Einheit das Umfeld und die Routinen kannte, desto besser konnte es schon in einer frühen Phase Handlungsalternativen bedenken. Diese konnten dann beim tatsächlichen Einsatz entscheidend für den Erfolg oder Misserfolg der Mission sein.

Es gab aber noch ein weiteres wesentliches Element bei Terroranschlägen: die Kommunikation. Es war fast denkunmöglich, dass ein Kommando ohne Kommunikationsmittel operieren konnte. Sei es innerhalb des Teams oder sei es nach außen, etwa zum Auftraggeber oder zu einem externen Kommandanten, immer wieder gab es einen Abstimmungsbedarf.

Deswegen wählten Extremisten eher den Ansatz die verwendeten Kommunikationsmittel zu verschleiern, sie regelmäßig auszutauschen und sie zu vernichten als ganz darauf zu verzichten. Durch die Analyse der Gespräche konnten in der Regel weiterführende Informationen gesammelt werden. Vor allem boten sie auch die Chance an die Hintermänner und Auftraggeber näher heranzukommen.

Das bei einem der Attentäter gefundene Telefon war insofern nicht ungewöhnlich. Auch dass dieses nur sehr eingeschränkt verwendet wurde, war etwa durch den regelmäßigen Austausch der Mobiltelefone erklärbar. Aktiv wurde es überhaupt nicht genutzt. Es gab keinen ausgehenden Anruf, auch keine ausgehenden Nachrichten. Es handelte sich auch um ein simples Telefon, kein Smartphone. Bei einem solchen hätte es über die Vielzahl an Apps nahezu unbegrenzte Kommunikationsmöglichkeiten gegeben. Insofern erleichterte ein primitives Mobiltelefon die Arbeit der Ermittler.

Auf dem einfachen Nokia fand sich nur eine einzige Nachricht. Der Attentäter hatte die Kurznachricht unmittelbar vor dem Zusammentreffen mit den beiden Polizisten erhalten. Der Zeitstempel zeigte 20.38 Uhr Londoner Ortszeit an. Die SMS bestand nur aus drei Zeichen. Diese drei Zeichen hatten eine Bedeutung, die es zu entschlüsseln gab. Am Gerät gab es also nur einen einzigen Hinweis auf Kommunikation, die noch dazu kurz vor der Ausführung des Anschlages platziert wurde. Es war fast ausgeschlossen, dass die SMS nicht mit dem versuchten Anschlag im Zusammenhang stand.

Neben der Entschlüsselung der SMS galt die zweite Stoßrichtung der Untersuchungen dem Absender der Nachricht. Die ersten Ermittlungen ergaben, dass sie aus dem Ausland bzw. zumindest von einer ausländischen Nummer verschickt wurde. Die Vorwahl +33 deutete auf Frankreich hin. Ob die Textmitteilung tatsächlich aus Frankreich versendet wurde, oder aber von einem französischen Telefon in Großbritannien, galt es herauszufinden, ebenso wie die Identität des Inhabers des Gerätes, von welchem die SMS abgesetzt wurde.

Das war der Informationsstand, den Robert Fulham der Premierministerin am späten Abend des 13.11.2015 hätte präsentieren können. Die Agenten arbeiteten die Nacht durch, um in den frühen Morgenstunden weitere Ergebnisse darlegen zu können.

Der Leiter der MI6 telefonierte während der ganzen Fahrt. Dabei hörte er fast durchgehend nur zu. Zwischendurch stellte er ein paar Verständnisfragen und versicherte sich mehrmals, ob die Information verifiziert werden konnten. Anschließend rief er noch seinen Assistenten Alex an, dessen Aufgabe es auch immer war, die Medienberichterstattung abzudecken. Die Angriffe in Paris dominierten alle Nachrichtenkanäle. Nirgendwo wurde von Anschlägen in anderen Städten oder Anschlagsversuchen berichtet.

Auch die lokalen Londoner Medien gingen keinen Hinweisen eines vereitelten Angriffes bei der O2 Arena nach. Die Berichte zur gestrigen Veranstaltung in der Konzerthalle waren unauffällig. Kein Hinweis und kein Nebensatz deuteten auf die Vorkommnisse am Parkplatz oder in der Nähe des Gebäudes hin. Gerade als Fulham sein letztes Gespräch beendet hatte, stoppte der Wagen und einer seiner Leibwächter öffnete die Tür der Limousine.

Er verließ das Auto und wandte sich zur Eingangstür von Downing Street 10. Es war 6.59 Uhr. Trotz der frühen Uhrzeit war doch schon eine kleine Schar von Journalisten und Fotoreportern vor dem Amtssitz versammelt. Fulham ignorierte sie wie immer. Noch bevor er den Eingang erreicht hatte, öffnete ein Angestellter die Tür von innen.

Fulham wurde sogleich in den Raum geführt, den er erst vor ein paar Stunden verlassen hatte. Eigentlich hatte sich nichts geändert. Die Premierministerin saß wieder am gleichen Platz, nur dass diesmal der Tisch mit einem kleinen Frühstück gedeckt war. Als die Tür des Konferenzraums wieder geschlossen war begrüßte er Anne Taylor.

„Guten Morgen Anne! Ich hoffe du konntest ein wenig schlafen!“

„Danke Robert. Im Laufe der Jahre habe ich es geschafft, dass mir Katastrophen nicht mehr den Schlaf rauben. Obwohl wir dieses Mal eigentlich zwei Dramen haben. Aber plaudern wir über unsere Schlafgewohnheiten später, sofern wir dann überhaupt noch Zeit haben.“

„Gut. Davor zu den Anschlägen in Paris: Bis jetzt gibt es ein Opfer aus dem Vereinigten Königreich. Wir haben den französischen Behörden unsere Unterstützung angeboten. Soweit wir wissen, können wir aber relativ wenig beitragen. Die Attentäter hatten keinen Bezug zu Großbritannien. Damit hatten wir sie auch nicht am Monitor. Sie stammen wohl aus dem Umfeld französischer und belgischer Extremisten, die die Flüchtlingswelle als Tarnung für ihre Rückreise aus Syrien benutzt haben.

Der Islamische Staat hat sich zum Anschlag bekannt. In wie weit er hier tatsächlich verantwortlich ist, kann noch nicht abgeschätzt werden. Zum einen haben wir die Führungsstruktur und die Kommandanten des IS noch nicht vollständig identifiziert. Auf der anderen Seite waren die Aktionen in Paris gut organisiert und aufeinander abgestimmt. Es ist also durchaus möglich, dass der IS dahintersteckt.“

„Hat sich der IS nur zu den Pariser Anschlägen bekannt?“

Die Premierministerin lenkte bereits mit dieser Frage auf das eigentliche Thema des heutigen frühen Termins über. Fulham hatte zuvor zwei Karaffen auf dem Tisch wahrgenommen. In der einen war sicherlich Tee, in der anderen Kaffee. Er öffnete den Deckel der ersten Kanne und versuchte diskret mit seinem Geruchssinn den Inhalt zu identifizieren. Als er sicher war, dass es sich um Kaffee handelte, schenkte er sich eine volle Tasse ein. Ohne Zucker und Milch nahm er einen kleinen Schluck und antwortete sogleich.

„Ja. Der IS äußerte sich nur zu Paris. Wobei, jetzt kommen wir zum sensiblen Teil. Es ist noch nicht eindeutig verifiziert, dass der IS gestern auch in London zuschlagen wollte.“

„Bleiben wir hypothetisch. Können wir vom Schweigen des IS zu möglichen Aktionen in London etwas ableiten oder nicht?“

„Nein. Der IS äußert sich für gewöhnlich nicht zu fehlgeschlagenen Aktionen. Das ist jedenfalls auch in unserem Interesse. Bis jetzt scheint es so, dass die Vorkommnisse um die O2 Arena unbemerkt geblieben sind. Ich bin eigentlich zuversichtlich, dass sich das nicht ändert. Wir haben diesbezüglich noch einige weitere Maßnahmen getroffen.“

Fulham nahm nochmals einen Schluck Kaffee und fuhr dann fort:

„Ich wollte dir gestern noch von einem wichtigen Detail erzählen.“

Anne Taylor schien auf diesen Teil des Gespräches geradezu gewartet zu haben. Sie nutzte seine kleine Pause, um sogleich das Wort zu ergreifen.

„Also ich ging davon aus, dass kein unmittelbarer Anschlag mehr bevorstand und keine Menschenleben mehr gefährdet waren. Sonst hättest du mich sicher unterbrochen. Ich habe geglaubt, dass du mir noch etwas zum vereitelten Anschlag vor der Konzerthalle berichten wolltest. Deine Information war aber wohl noch nicht verifiziert und sicher nicht vollständig. Dafür war die Zeit einfach zu kurz, auch wenn ich von deinem Geschäft wenig verstehe.“

Die Premierministerin lächelte kurz, als sie das Wort Geschäft betonte, mit dem sie die Geheimdienstarbeit meinte.

„Respekt, Anne! Dir entgeht nichts! In der Tat war es mir recht, dass wir erst heute über dieses Detail reden. Mein Informationsstand gestern Nacht war tatsächlich rudimentär. Meine Leute haben die ganze Nacht durchgearbeitet. Ich habe mit ihnen am Weg hierher telefoniert. Ich bin überzeugt davon, dass wir sind jetzt schon einen großen Schritt weitergekommen sind, um die Vorkommnisse um die O2 Arena gestern besser verstehen zu können.“

Die Regierungschefin war sichtlich angespannt ob der kommenden Ausführungen. Wie sie zuvor auch ausgeführte hatte, verstand sie vom Geheimdienstgeschäft relativ wenig. Diesem galt auch nie ihr besonderes Interesse. Sie erhielt regelmäßige Briefings in diesen Angelegenheiten. Die Zusammenstellung der wichtigsten Erkenntnisse der britischen Geheimdienste begleiteten sie seitdem sie das höchste politische Amt in Großbritannien innehatte.

Mehr noch als über ein umfangreiches Wissen verfügte Anne Taylor aber über ein exzellentes Gespür. Sie täuschte sich selten in Personen oder Ereignissen. Ihr Gefühl verriet ihr schon öfters das Ergebnis, bevor es ihr schwarz auf weiß präsentiert wurde. So ähnlich ging es ihr gestern. Als Fulham ihr den vereitelten Anschlag im Südosten Londons beschrieb, ahnte sie nach den ersten Sätzen, dass dieser mit den Terrorattacken in Paris zusammenhing. Mit einem größeren Informationsgehalt rechnete sie am gestrigen Abend jedoch nicht.

„Wir haben bei einem der Attentäter ein Mobiltelefon gefunden, ein relativ altes Modell. Es gab am Telefon praktisch keine Spuren, keine Telekommunikationsdaten und damit auch keine Anrufe. Nur eine einzige Textnachricht war gespeichert. Diese Textnachricht wurde unmittelbar vorher empfangen, als Steve Smith und Emily Jones auf die drei Verdächtigen gestoßen sind!“

Die Premierministerin konnte für gewöhnlich ihre Gefühle und ihren Gemütszustand gut verbergen. Doch nun konnte sie ihre Neugierde und auch Nervosität nicht mehr zurückhalten.

„Und was ist in der Textnachricht gestanden?“

„Bitte habe noch etwas Geduld, ich verrate es dir gleich! Die Nachricht wurde von einem Mobiltelefon verschickt, das in Frankreich registriert wurde. Wir konnten auch den Ort des Versandes lokalisieren. Das war schwierig, denn der Absender war nicht in Großbritannien. Das wollten wir ausschließen. Es war nämlich auch denkbar, dass der Befehlshaber oder einer, der die Mission überwachte, vor Ort in London war. Dem war aber nicht so.“

Fulham war unbestritten ein fähiger Geheimdienstmann. Er war aber auch ein guter Geschichtenerzähler. An kritischen Punkten seiner Ausführungen setzte er regelmäßig eine Pause. Damit erzeugte er nicht nur mehr Aufmerksamkeit, sondern verlieh den folgenden Worten eine besondere Dramatik.

„Wir musste behutsam recherchieren, wir haben uns auch an keinen anderen Dienst gewandt. Jeder Kontext mit Frankreich und Paris im Speziellen ist im Moment dazu geeignet, dass man intensive Rückfragen zur eigenen Anfrage bekommt. Man kann so nicht recherchieren ohne Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Und das wollten wir unbedingt verhindern. Um ein paar Sicherheitsmechanismen für uns zu implementieren, hat es eben länger gedauert.“

Anne Taylor wollte schon auf eine Kurzversion drängen. Ihr war klar, dass Recherchen zu französischen Telekommunikationsdaten nach den Anschlägen in Paris äußerst sensibel waren. Sie war aber auch lange genug in diesem Business, um zu wissen, dass sich staatliche Dienste für heikle Anfragen öfters privater Unternehmen oder Einzelpersonen bedienten. Gerade wenn es um die Beschaffung von Daten ging, waren private Hacker dafür prädestiniert. Die Details dazu würde man ihr aber nie preisgeben, damit sie deswegen nie in eine heikle politische oder diplomatische Situation kommen konnte.

„Die Nachricht wurde aus Paris abgeschickt. Wir haben sogar relativ genaue Positionsdaten. Der Ort war in unmittelbarer Nähe zu einem der Tatorte in Paris!“

„Das bedeutet also, Robert, dass es einen Konnex zwischen den Terroristen in Paris und jenen, die wir in London rechtzeitig aus dem Verkehr gezogen haben, gibt!“

„Ich würde es etwas vorsichtiger formulieren. Aber ja Anne, so könnte man es ausdrücken.“

„Was wissen wir zur Person, die die Nachricht in Paris abgesetzt hat? Was war der Inhalt der SMS? Willst du mich noch länger auf die Folter spannen oder gibt es dazu nicht mehr viel zu sagen?“

„Wir haben noch nicht alle Möglichkeiten ausgeschöpft, um den Absender der Nachricht zu identifizieren. Dazu müssten wir unseren französischen Kollegen den Grund mitteilen, wieso wir uns so für dieses Mobiltelefon interessieren. Ich glaube auch nicht, dass wir je die konkrete Person feststellen können. Die Registrierung erfolgte mit Sicherheit auf einen falschen Namen und in einem kleinen Shop ohne Videoüberwachung.

Selbst wenn, die Bänder sind inzwischen schon längst gelöscht. Das Telefon war auch praktisch nie aktiv. Wir würden also eine Nadel im Heuhaufen suchen. Interessant wäre allerdings, ob der Absender einer der Pariser Attentäter war. Dann ist er inzwischen tot. Wenn es allerdings ein wissender Außenstehender war, vielleicht aber auch der Drahtzieher der Anschläge, dann wäre seine Person der Schlüssel zur Aufklärung der Anschläge in Paris und der versuchten Angriffe in London.“

Der Leiter des MI6 nahm einen schnellen Schluck Kaffee. Er war einfach skeptisch, die Person, die die Nachricht in Paris versendet hatte, je finden zu können. Alle Indizien deuteten bisher auf eine gute Planung der Terroristen hin. Sie waren geduldig, gut ausgebildet, diszipliniert und damit wenig fehleranfällig.

„Wir haben natürlich versucht das Mobiltelefon zu orten. Es wurde unmittelbar nach dem Versand der SMS abgeschaltet. Ich bin davon überzeugt, dass es nie mehr in Betrieb genommen wird. Es liegt sicherlich am Boden der Seine, wurde vollständig verbrannt oder in alle Einzelteile zerstückelt. Interessanter ist hingegen der Inhalt der Textmitteilung…“

Fulham informierte nun in kurzen Worten die Premierministerin über die in Paris verschickte Nachricht, die lediglich aus drei Zeichen bestand. Tatsächlich arbeiteten seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die ganze Nacht an der Entschlüsselung des Codes. Er hatte seinen Abteilungsleiter über die Umstände, wo die SMS verschickt und auch empfangen wurde, im Unklaren belassen. Einzig das Telefon überließ er ihm. Dafür gab es zwei Gründe.

Zum einen wollte er die Analysen nicht beeinflussen. Hätte er auch nur die rudimentären Eckpunkte weitergegeben, dann hätten die Entschlüsselungsteams in nur eine Richtung gedacht. Allein die Erwähnung der Pariser Anschläge im Kontext mit der Textmitteilung oder dem Islamische Staat hätte die Denkweisen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter eingeschränkt und kanalisiert. Insofern wäre es auch nicht unüblich gewesen, dass die Dechiffrierspezialisten lediglich die drei Zeichen mit der Aufforderung bekamen, „und nun macht einmal!“. So erhielten sie immerhin auch noch das Telefon mit der SMS.

Zum zweiten war die Information über Textnachricht, die am Abend der Terroranschläge in Paris von ebendort an drei Attentäter in London gesendet wurde, sehr sensibel. Je mehr Menschen die Hintergründe der SMS kannten, desto schwieriger war es, diese geheim zu halten. Deswegen entschloss sich der MI6 Chef auch nicht einmal seinen Abteilungsleiter, der das Entschlüsselungsteam führte, darüber aufzuklären. Das Risiko, dass seinem Team dadurch etwas entging, ging er bewusst ein.

#18

Wofür stand „#18“? Die einzige Textmitteilung am Telefon eines der Londoner Terroristen bestand aus diesen drei Zeichen: einem Sonderzeichen und zwei Zahlen, 1 und 8. Oder es war nur eine Zahl, 18. Robert Fulham hatte auch lange für sich über die mögliche Bedeutung von „#18“ nachgedacht, aber ihm war nie eine plausible Botschaft in den Sinn gekommen.

„#18“ konnte vieles und nichts bedeuten. War es vielleicht nur die Aufforderung, die Mission umzusetzen? War es allenfalls ein vorher bestimmter Kontaktpunkt mit der Nummer 18? War es mitunter eine Variante des bevorstehenden Angriffes? War es vielleicht ein Hinweis auf die nächste Terrorzelle?

Die Möglichkeiten schienen nahezu unendlich. Man durfte auch nie vergessen, dass Codes manchmal einfach nur eine falsche Spur legen sollten. Oder sie sollten einfach nur den Fokus und damit die Bemühungen der Behörden auf sich konzentrieren. Dadurch wurden andere Aspekte zumindest vorerst niedriger priorisiert und die Terroristengruppe gewann jedenfalls etwas Zeit. Zeit, Dinge zu verschleiern oder Zeit, sich neu zu sammeln und noch einmal anzugreifen.

Die Entschlüsselungsabteilung erfasste als erstes "#18" in ihrem eigens dafür geschriebenen Programm Kryptos. Kryptos, banal abgeleitet vom griechischen kryptós, also verborgen oder geheim, war mit allen bekannten Verschlüsselungsverfahren gespeist. Nach der Eingabe eine Zeichenfolge wurde dieser auf alle je verwendeten und entschlüsselten Codes abgeprüft. Binnen Sekunden wurden die möglichen Ergebnisse jeweils mit einer dazugehörigen Wahrscheinlichkeitsquote angezeigt.

Dann begann erst die eigentliche Arbeit der Dechiffrierexperten. In den seltensten Fällen zeigte Kryptos nur eine Lösung an. Gerade bei sehr kurzen Codes - wie zum Beispiel bei „#18“ - gab es eine Vielzahl an möglichen Lösungen. Diese mussten dann hinsichtlich aller verfügbaren Informationen interpretiert werden. Dies war die Schwachstelle, der sich Fulham bewusst war. Die Spezialisten kannten weder die Person des Absenders oder des Empfängers noch den Ort oder den größeren Kontext.

Neben zeitlichen gab es auch geografische Muster. Bestimmte Verschlüsselungssysteme wurden etwa primär zu gewissen Zeiten häufig verwendet. Gleich verhielt es sich mit regionalen Schwerpunkten. Bestimmte Chiffriermethoden wurden beispielsweise nur in einzelnen Gegenden oder von einzelnen Gruppen eingesetzt.

Zu beachten galt es auch hier wiederum, dass sich manche Gruppen genau der Verschlüsselungsmethoden ihrer Feinde bedienten. So verwendete etwa eine linksextremistische Gruppe einen alten Nazi Code, der praktisch weitgehend in Vergessenheit geraten war. Die Kryptologie blieb daher bei aller Unterstützung durch die Informationstechnologien noch immer eine Wissenschaft, die viel Erfahrung und Gespür verlangte.

Einer weiteren großen Verleitung bildete das Streben nach komplexen Lösungen. Kryptografen neigen vielfach dazu einfache Lösungen zu negieren. "Die Verschlüsselung muss komplexer sein." Von dieser Prämisse angetrieben wird manchmal eine auf der Hand liegende Kombination abgelehnt. Gerade simple Verschlüsselungen haben sich in der Praxis als die tauglichsten herausgestellt. Jeder der Eingeweihten konnte eine Zeichenfolge ohne viel Aufwand dechiffrieren.

Bei der Analyse von "#18" gab es auch eine relativ primitive Lösung. Das Doppelkreuz oder Hashtag verweist - neben vielen anderen Bedeutungen - häufig auf einen numerischen Hintergrund. In zahlreichen simplen Chiffriermethoden werden Zahlen als Platzhalter für Buchstaben verwendet. In der einfachsten Form steht die Zahl 1 für den ersten Buchstaben im Alphabet, also für ein "A".

Eine 2 symbolisiert beispielsweise ein "B" und so weiter. In einer etwas diffizileren Form steht die 1 nicht für den ersten Buchstaben im Alphabet, sondern beispielsweise für den 10. Buchstaben, also ein "J". Mehr Komplexität bringt man in das System, wenn die 2. Zahl eine andere Buchstaben-Basis hat als die erste Zahl und ebenso mit jeder weiteren Zahl.

So konnte "#18" in der einfachen Interpretation für AH stehen, wenn man zwei Zahlen, also 1 und 8 unterstellte. Bei einer Zahl, "18" wäre die Entschlüsselung hingegen der Buchstabe "S". Bei einer Variante mit einer sich jeweils um einen Buchstaben ändernden Basis wären die Lösungsmöglichkeiten deutlich vielfältiger. Symbolisiert beispielsweise die 1 den 10. Buchstaben des Alphabets und die Basis verschiebt sich für die nächste Zahl um einen Buchstaben, also von J auf K, so steht "#18" für JR.

"AH" ist ein vielfach verwendetes Akronym für Adolf Hitler. Der Code war als Ausrufezeichen oder als ein Statement für eine rechtsradikale Gruppe durchaus plausibel. Fulhams Abteilungsleiter teilte ihm mit, dass anfänglich im Team diese Interpretation als am wahrscheinlichsten eingestuft wurde. Das alte Nokia Handy, dieses wurde ja den Entschlüsselungsspezialisten auch übergeben, stützte diese Deutung.

Zuletzt wurden bei einer rechtsradikalen Gruppe in London mehrere dieser Mobiltelefone beschlagnahmt. Auch diese Vereinigung nutzte praktisch nur Textmitteilungen als Kommunikationsmitte und verwendete einen primitiven Entschlüsselungscode auf der Basis von Zahlen.

Bei den Entschlüsselungsspezialisten gab es allerdings einen Mitarbeiter, der die Referenz auf Adolf Hitler vom ersten Augenblick an ablehnte. Sein Name war Paul Turner. Dem MI6 Chef war dieser Name binnen kürzester Zeit zweimal aufgefallen.

Beim ersten Mal identifizierte er als erster den Ursprung eines Hackerangriffs auf ein britisches Atomkraftwerk. Seine Kollegen ließen sich zu lange von einer falschen Fährte nach Nordkorea täuschen. Turner war sich zu diesem Zeitpunkt schon sicher, dass die Angriffe aus einem Hackerkollektiv nahe Sankt Petersburg stammten. Die Hackergruppe war dem russischen Militärgeheimdienst G.R.U. zugeordnet, wofür es aber keine stichhaltigen Beweise gab. Turner konnte aber Belege für den Ursprung der Angriffe aus eben diesem Hackerkollektiv präsentieren. An den zweiten Vorfall konnte sich Fulham nicht mehr im Detail erinnern, aber auch dort war Turners Analyse brillant.

Fulhams Abteilungsleiter erwähnte den Namen Paul Turner zufällig beim frühmorgendlichen Telefonat, kurz bevor Fulham die Premierministerin über dieses Detail informierte. Der Leiter des MI6 spitzte sogleich seine Ohren. Turner war zwar ein sehr junger Mitarbeiter, keine 25 Jahre alt, aber er schien ein gutes Gespür zu haben und dachte interdisziplinär. Er fragte daher bei seinem Abteilungsleiter nach, welche Meinung Turner vertrat.

Es zeigte sich, dass sich das Team schlussendlich gänzlich hinter Turners Lösung versammelt hatte. Die These war zugegeben gewagt und - nach Fulhams Einschätzung eigentlich auch zu kompliziert. Er vermutete, dass Paul Turner den Konnex zwischen der Textnachricht und den Anschlägen in Paris erkannte. Seine Erklärung hatte einen gewissen Charme, da er der doch recht einfachen Entschlüsselung eine gewiefte Täuschung hinzufügte. Gleichzeitig war der Konnex zu einer im Juli 2014 veröffentlichten Rede Abu Bakr al-Baghdadis, dem Führer der Terrororganisation Islamischer Staat, verblüffend und schwer als Zufall abzutun.

Turner bediente sich der einfachen Verschlüsselung, dass die Zahl dem entsprechenden Buchstaben im Alphabet entsprach. „#18“ stand also für AH. AH war aber in diesem Fall nicht das Akronym für Adolf Hitler, sondern für al-Haqqa.

Al-Haqqa war die 69. Sure im Koran. Hier lag auch ein Widerspruch in einer üblichen oder traditionellen Deutung. Die Ordnung der Suren nach ihrer Nummer ist lediglich im europäischen Sprachraum üblich. Der Verfasser der Textmitteilung wollte hier offensichtlich einen Widerspruch konstruieren. Das Doppelkreuz, oder Hashtag, sollte auf eine Zahl hindeuten. Die Suren des Korans werden aber eben nicht mit deren Nummer zitiert.

Wie Paul Turner auf diese Dechiffrierung stieß, konnte er selbst nicht mehr darlegen. Er vermutete, dass er sich an die Rede Abu Bakr al-Baghdadis im Juli 2014 erinnerte. Damals trat dieser zum ersten Mal öffentlich auf. Zuvor existierten nur Audioaufnahmen.

In der Großen Moschee des al-Nuri in Mossul rief al-Baghdadis damals sein Kalifat aus. Seine knapp 20-minütige Rede erinnerte nur entfernt an die früheren Ansprachen Osama bin Ladens, der am 2. Mai 2011 getötet wurde. Al-Baghdadi verwendete natürlich eine Vielzahl an religiösen Ausschmückungen, Verheißungen einer besseren Zukunft für Muslime und lamentierte natürlich über die vielfach geknechteten Muslime. Gleich zweimal zitierte er jedoch die ersten drei Verse der 69. Sure.

Einmal streute er sie in der Mitte seiner Rede ein, ohne erkennbaren Zusammenhang zu den Textpassagen davor und danach. Das zweite Mal zitierte er die drei Verse der al-Haqqa im allerletzten Teil seiner Ansprache. Auch der MI6 analysierte al-Baghdadis Rede kurz nach der Veröffentlichung. Ob dieser Teil eine Drohung an bestimmte Länder darstellte, war umstritten. Osama bin Laden warnte hingegen regelmäßig die Staaten vor, in denen er Anschläge plante.

Turner vertrat die Ansicht, dass al-Baghdadi mit dem Verweis auf diese Sure, westliche Länder vor Anschlägen warnen wollte. Al-Haqqa wird regelmäßig mit „die fällig werdende“ oder „in der es wahr wird“ übersetzt. Bildlich ist damit die Stunde des Jüngsten Gerichts gemeint.

In den ersten Versen dieser Sure wird etwa die Bestrafung der ungläubigen Völker thematisiert. Die folgenden Zeilen beschrieben hingegen die Umstände am Ende der Zeit wie Erdbeben und Naturkatastrophen. Es folgte die Beurteilung der Gläubigen und Ungläubigen. Die einen konnten ein angenehmes Leben im Paradies führen. Die anderen mussten die Qualen der Hölle erdulden und hätten sich in diesem Wissen gewünscht, dass ihnen der Tod ein endgültiges Ende bereitet hätte.

Die Entschlüsselungsspezialisten waren am Ende daher einhellig der Meinung, dass die SMS folglich von einem IS Anhänger verschickt und vermutlich auch von einem ebensolchem empfangen wurde. Turner vermutete auch, dass die Referenz auf das Jüngste Gericht der Hinweis auf einen größeren Anschlag war, der viele Menschenleben kosten sollte. Es war aber auch denkbar, dass der Inhalt der Textmitteilung auch nur eine, unter IS Anhängern weitverbreitete, ausgeschmückte leere Drohung war. Die Wahrscheinlichkeit dafür schätzte Turner aber gering ein, allerdings begründete er seine Bewertung nicht.

Die Premierministerin ergriff wieder das Wort:

"Offensichtlich war die Mitteilung also keine leere Drohung. Zumindest wir beide wissen das."

"Es war keine leere Drohung, Anne. Die Terroristen hätten mit ihrer Ausrüstung hunderte Menschen töten können."

"Aber warum wurde die Nachricht verschickt? Der Plan, ein Massaker in der O2 Arena anzurichten, war doch vermutlich bis ins kleinste Detail geplant?“

"Den Hintergrund der Nachricht würden wir wohl nur erfahren, wenn wir einen lebenden Beteiligten erwischen. Wie gesagt, ich gehe davon aus, dass der Absender tot ist. Der Empfänger weilt jedenfalls nicht mehr unter den Lebenden. Der wurde nämlich von einem unsere beiden Polizisten getötet. Ich könnte mir vorstellen, dass die Nachricht lediglich ein "Go!" war, also der Hinweis anzugreifen. Der Anführer wollte vielleicht sichergehen, dass die Operation in Paris auf Schiene war und erst dann den gleichzeitigen Angriff in London befehlen. In Paris fand jedenfalls auch die größere Operation statt. In Paris wurden an mehreren Stellen Angriffe durchgeführt: im Bataclan, im Stade de France, in Restaurants, ..."

Robert Fulham stoppte abrupt seinen Redefluss. Sein Gesicht versteinerte sich plötzlich.

"Was ist los Robert?"

In der Frage der Premierministerin schwang Besorgnis mit.

"Es gibt doch noch eine Möglichkeit, dass wir den Hintergrund der Nachricht erfahren könnten..."

"Welche Möglichkeit meinst du?"

"Wenn es gab noch einen weiteren Anschlagsversuch gab…“


13.11.2015

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