Читать книгу Die Stadt der Regenfresser - Thomas Thiemeyer - Страница 14

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Nein!«

Elizas Gesicht war schweißgebadet.

Ihre Hände hatten das Metallblech gepackt und hielten es fest umklammert. Die Finger waren so verkrampft, dass die Knochen weiß hervortraten. Oskar schrak von seiner Lektüre hoch. Er hockte in einem Ohrensessel, den Kopf vorgebeugt und die Nase tief vergraben in Brehms Tierleben, dessen sämtliche Bände in ledergebundener Erstausgabe vor ihm im Regal standen.

»Nein.«

Humboldt schob seinen Stuhl zurück und eilte mit besorgtem Gesicht zu ihr hinüber. Der Tisch war übersät mit Reisedokumenten und Ausweispapieren, letzte Vorbereitungen für ihre bevorstehende Reise.

Die letzten Tage waren ziemlich aufregend gewesen. Oskar hatte mit dem Forscher Besorgungen machen dürfen, hatte ihn zu Spezialausstattern begleitet und neben ihm auf dem Kutschbock sitzen dürfen. Genau wie die feinen Herrschaften, die sonst immer mit Verachtung an ihm vorbeigefahren waren. Es waren Tage gewesen, an denen er fast vergessen hatte, wer er war und woher er kam.

Doch die Zeit neigte sich dem Ende zu. Schon bald würden sie aufbrechen und Oskar hatte immer noch keine Entscheidung getroffen.

Humboldt strich beruhigend über Elizas Arm. Er versuchte, ihr das Blech aus der Hand zu nehmen, doch sie hielt es so fest gepackt, dass ihr die scharfe Kante ins Fleisch schnitt. Ein Blutstropfen quoll hervor. Oskar beeilte sich, das Buch zurückzustellen, und lief ebenfalls zu den beiden hinüber.

»Bitte lass los.« Humboldts Stimme war gleichzeitig sanft und fordernd. »Leg sie wieder hin.«

Doch seine Worte blieben wirkungslos. Die Frau zitterte am ganzen Leib.

»Eliza!« Sein Ton wurde strenger. »Lass sie los!«

Endlich war eine Reaktion zu erkennen. Sie hob ihren Kopf. Ihr Blick war in weite Ferne gerichtet.

»Was ist mit dir? Hattest du eine Vision?«

Ein kaum wahrnehmbares Nicken war zu sehen.

»Die Platte?«

Wieder ein leichtes Nicken. Das Blut hatte sich mittlerweile zu einer kleinen Pfütze gesammelt.

»Du musst die Platte jetzt weglegen! Löse den Kontakt, ich befehle es dir.«

Langsam und unter Aufbringung all ihrer Willenskraft öffnete Eliza ihre Hände. Die Platte fiel scheppernd auf den Tisch.

»Oskar, ein Taschentuch, schnell.«

Oskar eilte ins Nebenzimmer und holte eine Stoffserviette.

»Was hast du gesehen?« Humboldt nahm die Serviette und umwickelte die verletzte Hand. »Hatte es etwas mit der Platte zu tun?«

Eliza bewegte ihren Kopf langsam auf und ab. Sie wirkte immer noch völlig weggetreten. Die Augen weit aufgerissen, sämtliche Muskeln angespannt, saß sie da und starrte in die Ferne. Ihre unverletzte Hand zitterte.

»Sieht aus, als wolle sie etwas aufschreiben«, sagte Oskar. »Vielleicht möchte sie Stift und Papier.«

»Ausgezeichnete Idee.« Humboldt griff in die Schublade, holte einen Stift und Papier hervor und legte beides in ihre Reichweite. Elizas Hand schoss vor, griff nach dem Stift und begann, das Papier mit Zeichen zu füllen. Zuerst waren da nur fahrige Symbole zu sehen. Kringel, Schnörkel, Wellenlinien. Doch plötzlich begannen sich Buchstaben zu formen. Ein B, dann ein O und ein S. Hilfesuchend blickte Oskar zu Humboldt, doch der Forscher schien genauso ratlos zu sein. Zwischen seinen Brauen hatte sich eine steile Falte gebildet. Unverwandt starrte er auf das Papier, das mittlerweile aussah, als wäre eine Horde Ameisen mit Tintenfüßen darübergelaufen.

Endlich kamen Elizas Finger zur Ruhe. Ihre Hand entspannte sich und ihre Augen wurden wieder lebendig.

Oskar hielt den Kopf schief und versuchte zu entziffern, was da stand. Neben vielen unsinnigen Zeichen trat ganz deutlich ein Wort hervor. Er formte die Buchstaben mit seinem Mund.

»Boswell.«

Humboldt atmete laut hörbar ein. »Harry Boswell?«

»Wer soll das sein?« Oskar blickte verwundert auf. »Jemand, den Sie kennen?«

Der Forscher nickte nachdenklich. »Wenn es der ist, den ich meine, dann ist er ein Fotograf. Ein Reporter des New Yorker Magazins Global Explorer. Ein ziemlich unverfrorener Bursche, aber mutig. Bin ihm vor einigen Jahren mal begegnet. Ihm würde ich eine solch waghalsige Expedition durchaus zutrauen. Kann es sein, dass er es war, den du gesehen hast?«

Eliza schien immer noch unter den Nachwirkungen ihrer Vision zu leiden. Ein fiebriger Glanz lag in ihren Augen. »Harry Boswell. Das ist der Name, den ich im Geiste gehört habe.« Ihre Stimme klang matt und kraftlos. »Er ist in großer Gefahr.«

»Erzähl mir davon.«

»Er wird irgendwo gefangen gehalten. Er … er hat versucht, sich befreien. Es ist ihm gelungen, ein Loch in den Boden zu stoßen, durch das er fliehen konnte. Oh Gott, dieser Abgrund. Tiefer als alles, was ich je gesehen habe.« Eliza hielt Humboldts Hand umklammert. »Er ist über die Unterseite der Holzkonstruktion geklettert. Dann gelang es ihm, eine Brücke zu erreichen. Er wurde entdeckt. Sie haben ihn wieder eingefangen … hässliche Gesichter, wie Vögel. Bucklige, gedrungene Kreaturen, mehr Tier als Mensch.« Ihre Augen waren vor Furcht geweitet.

»Und dann?«, drängte Humboldt. »Was ist weiter geschehen?«

Sie schüttelte den Kopf. »Der Kontakt ist abgerissen. Ich habe ihn verloren. Es tut mir leid.«

Der Forscher streichelte ihr über die Hand. »Ist schon gut. Es braucht dir nicht leid zu tun«, sagte er. »Die Tatsache, dass du überhaupt einen Kontakt herstellen konntest, ist mehr, als wir erwarten durften.«

Oskar konnte sich nicht länger beherrschen. »Kontakt? Was für einen Kontakt? Was ist mit Eliza geschehen und wer ist dieser Boswell?«

»Kein Grund zur Aufregung«, sagte Humboldt. »Du warst gerade Zeuge von Elizas besonderer Fähigkeit. Ich hatte dir davon erzählt.«

»Die Telepathie?«

»Ganz recht.« Er stand auf, ging an sein Bücherregal und zog einen dicken, ledergebundenen Band heraus. Er blätterte eine Weile darin herum, dann schien er gefunden zu haben, wonach er suchte. Aufgeschlagen legte er das Buch vor Oskar hin und deutete auf die Überschrift. ›Poltergeister, Kugelblitze und Telepathie – ein Ausflug ins Reich des Aberglaubens‹.

»Die Telepathie wird hierzulande ins Reich der Märchen und der dunklen Mächte verbannt«, sagte Humboldt. »Ich bin auf meinen vielen Reisen schon so manchen Menschen mit besonderen Fähigkeiten begegnet, doch Eliza ist etwas Besonderes. Sie verfügt über die Gabe, mit anderen Personen in Verbindung zu treten, und seien diese auch noch so weit entfernt.«

»Heißt das, sie und dieser Boswell sind sich gerade in Gedanken begegnet?« Das war doch wirklich zu toll. Oskar stellte sich sofort vor, wie es sein musste, in den Gedanken anderer Menschen herumzuspazieren. Ob er so etwas beruflich verwerten konnte …?

»Davon dürfen wir wohl ausgehen«, sagte der Forscher.

»Dann war er es, der das Foto gemacht hat.«

Humboldt nickte. »Ich glaube, die Platte ist der Schlüssel. Als Eliza sie berührte, muss sie eine Verbindung mit ihm eingegangen sein.«

»Und warum haben Sie das nicht schon früher versucht? Die Platte ist doch jetzt schon seit einer ganzen Zeit in Ihrem Besitz.«

»Haben wir«, sagte Eliza. Ihre Stimme war schwach und leise. »Aber manche Verbindungen brauchen länger als andere. Manchmal geht es nur an bestimmten Tagen oder zu einer bestimmten Stunde.« Ein müdes Lächeln erschien auf ihrem Gesicht. »Ich fürchte, es ist keine sehr genaue Wissenschaft.«

»Nein, meine Liebe.« Humboldt lächelte sie an. »Es ist Magie.«

»Und wo ist dieser Boswell?«, fragte Oskar.

»So genau kann ich das nicht sagen«, sagte sie. »Irgendwo in Peru. Die Verbindung war nur sehr kurz und die Vision leider nur sehr schwach. Ich habe Berge gesehen und eine Schlucht. Ich bin sicher, dass ich ein klareres Bild empfangen werde, je mehr wir uns ihm nähern.«

Humboldt räumte das Buch weg und kam zu ihnen zurück. »Auf jeden Fall ist es ein enormer Fortschritt. Wir müssen davon ausgehen, dass auch andere Unternehmen auf die Idee kommen könnten, eine solche Expedition anzutreten. Denkt daran: Es gab noch mehr solcher Platten. Aber die Tatsache, dass Eliza einen Kontakt herstellen konnte, verschafft uns einen gewaltigen Vorteil.«

»Was meinen Sie?«

»Es wird ab jetzt immer wieder möglich sein, mit Boswell Verbindung aufzunehmen. Wir können herausfinden, was er gerade tut und wo er sich aufhält. Vielleicht können wir ihm sogar mittels Telepathie Botschaften zukommen lassen.«

»Vorausgesetzt, er bleibt lange genug am Leben.« Elizas Gesichtsausdruck wirkte besorgt. »Was ich gesehen habe, war keineswegs ermutigend.«

»Ein Grund mehr, dass wir uns beeilen«, sagte Humboldt. »Jemand wie er könnte für das Gelingen unserer Reise von unschätzbarem Vorteil sein. Stellt euch nur mal vor, was er uns alles zu erzählen hätte.« Humboldt strahlte vor Aufregung, als er sich erhob und zu seiner Glasvitrine hinüberging. »Auf diese gute Nachricht brauche ich erst mal einen Schluck«, sagte er und nahm eine Flasche und ein Glas heraus.

In diesem Moment erklangen draußen im Hof die Geräusche von Hufen. Der Forscher spähte über den Rand seiner Brille durchs Fenster. Eine Kutsche war vorgefahren. Der Fahrer stieg ab und begann damit, Gepäckstücke abzuladen. Oskar glaubte eine junge Frau zu erkennen, die im Inneren der Droschke saß.

Humboldt stellte Flasche und Glas auf den Tisch und ging zum Fenster. »Da ist sie ja endlich. Das wurde aber auch langsam Zeit.«

Die Stadt der Regenfresser

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