Читать книгу Die Stadt der Regenfresser - Thomas Thiemeyer - Страница 16

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Drei Tage später …

Es war der Abend vor der Abreise.

Eliza hatte es sich nicht nehmen lassen, anlässlich ihres bevorstehenden Abenteuers etwas Besonderes zu kochen, und hatte sich dabei wieder einmal selbst übertroffen. Tassot de dinde – getrocknetes Truthahnfleisch, Grillot – Schweinefleisch, Diri et djondjon – Reis mit schwarzen Pilzen, Riz et pois – Reis mit Erbsen, Ti malice – kleine Banane, Piment oiseau – scharfe Soße und Grillot et banane pese – Koteletts mit Bananen. Eliza nannte es kreolisch, doch für Oskar war es wie Zauberei. Die Gewürze und Kräuter hatten eine merkwürdig belebende Wirkung. Es fühlte sich an, als hätte jemand ein kleines Feuer in seinem Bauch entzündet und vergessen, es zu löschen. Während die anderen in das Studierzimmer hinübergingen und dort noch ein Glas Punsch tranken, räumte Oskar den Tisch ab. Dann machte er die Küche sauber und kehrte zu den anderen zurück.

»Komm her, mein Junge, setz dich zu uns.« Der Forscher paffte eine dicke Zigarre und klopfte auf den Sessel neben sich. »Wir wollen uns noch ein wenig unterhalten, ehe wir uns zu Bett begeben. Morgen wird ein anstrengender Tag, da sollten wir alle gut ausgeruht sein.«

»Ehrlich gesagt, ich würde lieber schon ins Bett gehen«, sagte Oskar mit gesenktem Kopf.

»Stimmt etwas nicht?«

»Nein, es ist nur … ich bin einfach müde.«

Der Forscher blickte ihn prüfend über den Rand seiner Brille hinweg an. »Sicher, dass ich dich nicht zu einem Schluck überreden kann?«

Oskar warf Charlotte einen Blick aus dem Augenwinkel zu, dann nickte er. »Ganz sicher. Vielen Dank.«

»Nun, Reisende soll man nicht aufhalten«, sagte Humboldt. »Wir sehen uns dann morgen früh um sieben. Ich wünsche dir eine angenehme Nachtruhe.«

Oskar deutete eine Verbeugung an und zog sich dann zurück. Er stieg die Treppe hinauf, ging in sein Zimmer und zog die Tür hinter sich zu. Es war natürlich Unsinn, dass er müde war. Die Wahrheit war, er musste eine Entscheidung treffen.

Er ging hinüber zum Fenster, löste den Riegel und öffnete die beiden Flügel. Ein milder Wind wehte herein. Ein leichter Streifen von Abendrot war zu erkennen, darüber eine Front von Regenwolken, die rasch näher zog.

Während er einen Schwarm Vögel beobachtete, der über den Himmel flog, ließ er sich die ganze Sache noch einmal gründlich durch den Kopf gehen. Charlottes Eintreffen hatte seiner Vorfreude einen gehörigen Dämpfer verpasst. Durch sie war ihm klar geworden, dass er sich da in etwas hineingesteigert hatte. Etwas, was – nüchtern betrachtet – nichts als eine schöne Illusion gewesen war. Er hatte sich schon an der Seite Humboldts im indischen Dschungel auf Elefanten reiten sehen, er hatte sich ausgemalt, wie sie im finsteren Herzen Afrikas auf seltene Menschenaffen trafen, hart verfolgt von feindlichen Pygmäenstämmen. Er hatte geträumt, wie Karl May durch die Wüste oder das wilde Kurdistan zu reiten, Kara Ben Nemsi zu begegnen, packende Abenteuer zu erleben und als strahlender Held nach Berlin zurückzukehren, respektvoll gegrüßt von den feinen Herrschaften und umschwärmt von den jungen Damen. Mann, war er naiv gewesen! Der heutige Abend hatten ihm gezeigt, wo er wirklich stand.

Missmutig auf dem Bett sitzend, blickte er auf die näher kommenden Wolken. Für Oskar war klar, dass Charlotte die Schuld an allem trug. Den ganzen Abend hatte sie ihn von oben herab behandelt. Oskar hol dies, Oskar hol das. Räum meinen Teller weg, hol mir etwas zu trinken, mach dich nützlich in der Küche. Als wäre sie hier die Hausherrin. Er hatte es satt, sich von dieser hochnäsigen Person herumkommandieren zu lassen. Andererseits musste er ihr dankbar sein, dass sie ihm die Augen geöffnet hatte. Sie hatte ihm gezeigt, wie seine Aufgaben an der Seite Humboldts tatsächlich aussehen würden. Keine abenteuerlichen Kämpfe mit den Regenfressern hoch oben in ihren Himmelsstädten. Gepäck tragen, Kartoffeln schälen und Stiefelputzen, das war es, worum es für ihn auf dieser Reise gehen würde. Dinge organisieren, ja toll. Im Klartext hieß das, Einkäufe machen und den Laufburschen spielen.

Er stand auf und begann, im Zimmer auf und ab zu gehen. War er eigentlich verrückt? Er hatte doch alles, was er brauchte, hier in Berlin. Eine Unterkunft, seine Bücher und Freunde. Er war kein schlechter Taschendieb, er hatte sein Auskommen. Und vor allem hatte er etwas, was kein Herr Humboldt und keine Charlotte Riethmüller ihm trotz ihres vielen Geldes je bieten konnten: Freiheit. Hier konnte er tun und lassen, wonach ihm der Sinn stand, konnte aufstehen und schlafen gehen, wann er wollte, und war sein eigener Herr. Ein unschätzbares Gut, wenn man es erst einmal verloren hatte.

Warum hatte Humboldt ausgerechnet ihn ausgewählt? Es gab doch mit Sicherheit bessere Hilfskräfte für so ein Unternehmen. Was sollte er überhaupt hier?

Oskar blieb stehen.

Der Groschen war gefallen. Er würde nicht mitkommen.

Die Wolken zogen rasch näher und löschten das verbliebene Tageslicht. Eine überwältigende Sehnsucht stieg in ihm auf. Was mochten seine alten Weggefährten wohl gerade treiben? Ob sie ihn vermissten? Siedend heiß fiel ihm ein, dass heute ja Freitag war. Der Abend ihres wöchentlichen ›Clubtreffens‹, wie sie es nannten. Es war alles so schnell gegangen, dass er nicht mal Zeit gefunden hatte, sich von ihnen zu verabschieden. Sie mussten ja denken, ihm sei sonst was zugestoßen. Vielleicht hatten sie Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um ihn zu finden.

Er blickte zu der Wanduhr in der Ecke seines Zimmers. Kurz vor acht. Wie wäre es, wenn er einen kurzen Abstecher in die Innenstadt machen würde? Seinen Leuten Bescheid geben, ein, zwei Gläser mit ihnen trinken und erst dann in seine Bude heimkehren? Wie sehr er sich nach seinen Büchern sehnte! Komisch, die Helden in seinen Geschichten waren nie von Selbstzweifeln gequält. Für sie war immer alles ganz klar. Wie eine Eisenkugel auf einer schiefen Ebene folgten sie unbeirrbar ihrem Weg und überwanden auch die größten Hindernisse. Na ja, er war eben doch kein Held, sondern ein dummer Straßenjunge, der zu viel träumte.

Um sicherzugehen, dass keiner sein Verschwinden bemerkte, legte er einige Kissen unter seine Bettdecke, bis es so aussah, als würde er schlafen, löschte das Licht und stieg aus dem Fenster.

Langsam und leise wie ein Katze hangelte er sich entlang der Regenrinne nach unten. In der Wohnstube brannte noch Licht. Oskar warf einen Blick auf Humboldt, der an einem Tisch saß und an seinem Linguaphon herumbastelte. Eliza und Charlotte saßen daneben und unterhielten sich angeregt miteinander.

Lautlos ließ er sich ins Tulpenbeet fallen, wischte sich den Dreck von den Händen und lief geduckt zur angrenzenden Mauer hinüber. Das Licht aus der Wohnstube warf lange Schatten über den Rasen. Jetzt war er ganz sicher: Ihn würde niemand vermissen.

Plötzlich bemerkte er eine Bewegung neben sich im Gras. Wilma. Der kleine Vogel lief mit schnellen Schritten neben ihm her und beobachtete ihn mit schief gehaltenem Kopf. Ein fragender Ruf ertönte.

»Psst.« Oskar blieb stehen. Er sah sich um, dann hockte er sich hin. »Verrat mich bloß nicht«, sagte er.

Der Vogel quiekte und wackelte dabei mit seinen Stummelflügeln.

»Was ich hier mache? Na, wonach sieht es denn aus? Ich gehe fort, das mache ich.« Er streichelte sanft über den Kopf des Vogels. Das Quieken ging in ein Gurren über.

»Nein, ich werde es mir nicht noch einmal überlegen. Ich gehöre nicht hierher, verstehst du? Ich fühle mich wie das fünfte Rad am Wagen und habe deshalb entschieden, dass es besser ist, wenn ich gehe.«

Der Kiwi piepste, als hätte er jedes Wort begriffen. Oskar musste lächeln. Wilma war ihm während der letzten Tage richtig ans Herz gewachsen. In ihr hatte er so etwas wie eine verwandte Seele gefunden. Im Grunde war sie genauso ein Außenseiter wie er. »Mach’s gut, meine kleine Freundin«, sagte er und streichelte ihr ein letztes Mal liebevoll über den Kopf. »Pass gut auf die anderen auf und halte die Einbrecher fern. Wirst du das für mich tun?«

Wilma blickte ihn mit ihren großen Augen an.

Er wandte sich ab, packte den unteren Ast einer Eiche und zog sich daran empor. Dann ergriff er den nächsten, schwang sich hinauf und kletterte immer höher. Als er auf Höhe der Mauerkrone war, stieg er hinüber. Er warf einen letzten Blick zurück zum Haus und den kleinen Kiwi unten im Garten, dann sprang er auf der anderen Seite hinab.

Die Stadt der Regenfresser

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