Читать книгу Die Stadt der Regenfresser - Thomas Thiemeyer - Страница 15

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Die junge Frau trug ein weißes Kopftuch, unter dem einige blonde Strähnen hervorlugten. Ihr Gesicht war länglich und von ausgesprochen heller Farbe. Sie sah aus, als würde sie wenig Zeit an der frischen Luft verbringen. Ihre hohen Wangenknochen, die schmalen, fein gezogenen Augenbrauen und der geschwungene Mund verliehen ihr ein hochmütiges Aussehen. Nicht unbedingt sein Typ, entschied Oskar, aber doch interessant genug, nicht gleich jedes Interesse zu verlieren. Sie trug ein hellblaues Kleid und weiße Schuhe, die ihr kühles Erscheinungsbild unterstrichen. Eine der typischen feinen Großstadtdamen, die Oskar schon oft bewundert, die ihn aber immer mit Verachtung gestraft hatten.

In Humboldts Begleitung trat er aus dem Haus und ging auf sie zu. Er wollte gerade zu einem fragenden Lächeln ansetzen, als sich ihre Blicke kreuzten. Die Augen des Mädchens hatten denselben eisgrauen Farbton wie die des Forschers.

Er schwieg.

»Hallo Onkel«, sagte sie, ohne Oskar weiter zu beachten. »Ich hoffe, ich komme nicht zu spät. Ich hatte leider keine Zeit, dir wegen meiner Ankunft zu telegrafieren.«

»In der Tat? Wir warten hier schon alle sehnsüchtig auf dich«, sagte Humboldt. »Wie war deine Reise?«

»Lang und beschwerlich, wie immer«, sagte das Mädchen. »Ich habe das Gefühl, der Kutscher ist durch jedes Schlagloch zwischen Heiligendamm und Berlin gefahren. Ich kann es kaum erwarten, mir endlich etwas Bequemes anzuziehen.« Ihr Blick streifte Oskar. »Wer ist das?«

»Ein Gast. Ein sehr talentierter junger Mann, den ich als Diener mitzunehmen gedenke. Ich dachte mir, er wird unsere kleine Expedition verstärken. Oskar, das ist meine Nichte Charlotte.«

»Sehr erfreut.« Ernsthaft bemüht um ein möglichst gutes Benehmen, streckte er ihr die Hand entgegen. Schließlich musste die junge Dame ja nicht gleich erfahren, dass er auf der Straße aufgewachsen war, doch das Mädchen ignorierte ihn.

»Ein neuer Diener? Wo hast du ihn gefunden? Hat er gute Referenzen?«

Humboldt musste sich ein Lachen verkneifen. »Nun, das vielleicht nicht gerade, aber ich habe das Gefühl, dass er genau der Richtige ist. Und ein weiterer Mann ist für diese Reise unerlässlich. Warum gehen wir nicht ins Haus und unterhalten uns drinnen weiter?«

»Sehr gerne, Onkel.« Mit einem kühlen Blick in Oskars Richtung sagte sie: »Die Koffer kommen ins Mansardenzimmer, ganz die Treppe rauf. Und sei vorsichtig damit, sie sind sehr alt und sehr wertvoll. Ich möchte nicht, dass sie irgendwelche Schrammen abbekommen.« Damit eilte sie in Begleitung ihres Onkels an ihm vorbei und durch die Haustür.

Oskar blieb wie vom Donner gerührt stehen. Was für eine Zicke! Humboldt hatte ihm nichts von einer Nichte erzählt, geschweige denn davon, dass er sie mitzunehmen gedachte. Für wen hielt sich dieses junge Fräulein? Sie tat so, als würde ihr das Haus gehören. Von Humboldt ließ er sich ja Befehle erteilen, aber von diesem Mädchen? Er starrte eine Weile grimmig zu Boden, bis er die belustigten Blicke des Kutschers und des Stallburschen bemerkte. Letzterer war ein netter, aufgeweckter Junge mit apfelroten Wangen. »Probleme mit dem Fräulein Charlotte?« Ein breites Grinsen erschien auf seinem Gesicht.

Oskar verkniff sich einen Kommentar und schnappte sich den ersten der drei Koffer. Er wollte unbedingt mitbekommen, was im Haus weiter gesprochen wurde.

»Tut mir leid, dass ich mich nicht eher gemeldet habe«, hörte er die Stimme des Mädchens aus dem Speisezimmer. »Aber ich wollte so schnell wie möglich wieder zurück. Dieser Kurbetrieb macht mich wahnsinnig. Du kannst dir gar nicht vorstellen, welch belangloses Zeug da geredet wird. Und dann immer diese dämliche Etikette. Ich bin es leid, im weißen Kostüm herumzulaufen und artig zu knicksen.«

Oskar rückte näher an die Tür, die Ohren weit aufgesperrt.

»Wie geht es meiner Schwester?«, erkundigte sich Humboldt. »Hat sich ihr Zustand verbessert?«

»Mutter geht es den Umständen entsprechend gut«, sagte Charlotte. »Sie ist kräftig genug, alles und jeden in ihrer Umgebung herumzukommandieren, mich eingeschlossen. Trotzdem wird sie wohl noch eine Weile dort bleiben müssen. Mindestens ein halbes Jahr hat der Arzt gesagt. Ihre Lunge ist immer noch sehr schwach.«

»Der Fluch der Frauen in meiner Familie«, sagte Humboldt. »Abgesehen natürlich von dir. Du warst stets mit einer bärenstarken Gesundheit gesegnet. Hast du ihr von unserer Expedition erzählt?«

»Kein Sterbenswörtchen«, sagte Charlotte entrüstet. »Sie hätte sofort wieder einen Tobsuchtsanfall bekommen. Du weißt ja, wie sehr sie es hasst, dass ich unter deinem Dach wohne. Forschung und Wissenschaft sind ihr eben nicht damenhaft genug. Wenn sie auch noch erführe, dass ich mit dir auf Expedition gehe, würde sie durchdrehen. Ich habe ihr erzählt, dass wir eine Reise nach Wien unternehmen und eine Zeit lang nicht erreichbar sein werden.«

»Irgendwann wird sie es trotzdem erfahren«, erwiderte Humboldt düster. »Und dann steht uns mächtig Ärger ins Haus.«

»Nicht, wenn wir es geschickt anstellen«, sagte Charlotte. »Aber darüber müssen wir uns jetzt noch nicht den Kopf zerbrechen. Zuerst mal muss ich mich umziehen. Meinst du, dein neuer Diener hat die Koffer schon nach oben getragen? Einen besonders fleißigen Eindruck macht er nicht gerade.«

Oskar zuckte von der Tür zurück und beeilte sich, auch den zweiten Koffer ins Haus zu tragen. Als er wieder eintrat, stand Humboldts Nichte im Türrahmen.

»Ich dachte, du wärst schon längst fertig«, sagte sie mit missbilligendem Blick. »Was hast du nur die ganze Zeit über getrieben?«

»Ich musste dem Stallburschen mit den Pferden helfen«, log Oskar und ging an ihr vorbei.

»Wer’s glaubt«, sagte das Mädchen und schnappte sich den dritten Koffer. »Jetzt aber ein bisschen plötzlich! Ich sehne mich nach meinem Zimmer und einem warmen Bad.«

In diesem Augenblick kam Eliza aus der Küche. »Charlotte«, rief sie und umarmte die junge Frau. »Hattest du eine schöne Reise? Du musst durstig sein. Darf ich dir etwas anbieten? Wasser, Kakao oder Tee?« Oskar rümpfte die Nase. Er konnte sich vorstellen, was nun kam: Frauengespräche! Nichts, was man unbedingt belauschen musste.

Er ließ die beiden Damen am Fuß der Treppe stehen und schleppte die Koffer Stufe für Stufe empor. Schon nach der Hälfte kam er mächtig ins Schwitzen. Was hatte dieses Mädchen nur da drin? Ziegelsteine?

Keuchend und schnaufend erreichte er den obersten Treppenabsatz. Mit der Fußspitze öffnete er die Tür zum Mansardenzimmer und trat ein.

Der Raum war groß, luftig und hell. Durch das weit geöffnete Fenster drangen Frühlingsluft und das Gezwitscher von Vögeln. Oskar setzte die Koffer ab und sah sich um. Es gab ein Bett, einen Tisch sowie ein Sofa nebst Beistelltisch. Der meiste Platz wurde von Bücherregalen eingenommen, die entlang den Seitenwänden standen und randvoll mit Werken unterschiedlichster Größe und Ausstattung bestückt waren. Oskar konnte seine Neugier nicht beherrschen. Bücher übten eine magische Anziehung auf ihn aus. Er trat näher. Mit schnellem Blick überflog er die Rücken. ›Der große Sternenatlas‹, ›Vererbungslehre‹, ›Vom Einzeller zum Walfisch‹, ›Spanisch Aufbauwortschatz‹, ›Genealogisch-Etymologisches Lexikon Band 1 – 7‹ und so weiter. Keine Abenteuer, keine spannenden Expeditionen, nicht ein Buch, das irgendwie Spaß machen könnte. Das war eine Universitätsbibliothek und keine Lesestube.

»Und, gefallen dir meine Bücher?«

Oskar schrak zusammen. Charlotte hatte sich lautlos genähert. Darin schien sie eine Meisterin zu sein. Beschämt senkte er den Blick. Wie kam es nur, dass er sich in ihrer Gegenwart wie ein Dienstbote vorkam?

»Du scheinst den gleichen Geschmack wie dein Onkel zu haben«, sagte er. »Hast du nichts Spannendes –?«

»Wozu?«, fiel sie ihm ins Wort. »Für Schundhefte und Kolportageromane fehlt mir die Zeit. Im übrigen würde ich es vorziehen, wenn du mich mit ›Sie‹ anreden würdest.«

»Wie Sie wünschen.« Ihm schwoll der Hals. Kolportageromane? Schundhefte? Meinte sie damit etwa Jules Verne, Edgar Allan Poe, Karl May oder Arthur Conan Doyle?

Sie beobachtete ihn aufmerksam. »Kannst du überhaupt lesen?«

Entrüstet hob Oskar den Kopf. »Natürlich, ich –«

»Na schön. Was liest du denn? Groschenhefte oder gar Liebesromane?« Sie warf ihm einen bedeutungsvollen Blick zu.

»Hauptsächlich Geschichten aus fernen Ländern«, murmelte er leise. »Meistens Abenteuerromane.«

»Unterhaltungsliteratur also.« Sie nickte. »Das dachte ich mir. Nun, daran ist nichts Verwerfliches, aber ich bin der Meinung, dass Lesen in erster Linie der Bildung dienen sollte.« Sie fing an, ihre Koffer auszuräumen. Weitere dicke Schwarten kamen zum Vorschein. ›Grundlagen der Chemie‹, ›Artenkunde der Tierwelt Südamerikas‹, ›English Vocabulary‹. Jetzt wurde Oskar klar, warum die Koffer so schwer gewesen waren.

»Natürlich denken die meisten Männer, dass es unsinnig ist, wenn Frauen Bildung erlangen«, sagte Charlotte. »Aber das ist in diesem Hause anders. Mein Onkel fördert mich, wo er nur kann, und ich bin ihm zutiefst dankbar dafür.« Sie warf ihm einen prüfenden Blick zu. »Wo stehst du in der Frage, ob Frauen an die Universitäten sollten?«

Oskar blickte verwirrt. »Wo ich … ? Darüber habe ich mir, ehrlich gesagt, noch keine Gedanken gemacht.«

»Siehst du? Das ist typisch«, sagte Charlotte. »Die klassische Rollenverteilung. Dabei gibt es so viele Frauen, die den Männern leicht das Wasser reichen könnten, wenn sie nur eine Chance bekämen. Aber es ist, wie du sagst: Niemanden interessiert es.«

Oskar presste die Lippen zusammen. »Wenn Sie mich dann entschuldigen würden …«

»Warte.« Sie zögerte einen Moment, während ihre eisgrauen Augen unverwandt auf ihn gerichtet waren. Dann entspannten sich ihre Züge. »Wir hatten einen schlechten Start«, konstatierte sie mit kühler Sachlichkeit. »Vielleicht sollten wir noch einmal neu beginnen. Ich glaube, wir haben uns noch gar nicht richtig vorgestellt. Wie war doch gleich dein Name?«

»Oskar.«

»Einfach nur Oskar?«

»Oskar Wegener.«

»Schon besser.« Sie nickte und streckte ihm ihre Hand entgegen. »Mein Name ist Charlotte Riethmüller.«

Er zögerte. Erwartete sie jetzt etwa, dass er ihr einen Handkuss gab? Lieber würde er aus dem Fenster springen. Er überlegte, was wohl die richtige Form wäre, dann ergriff er ihre Hand und deutete eine Verbeugung an. Sie lächelte. Offenbar hielt sie die Begrüßung für angemessen. »Falls du dich über meinen Namen wunderst«, sagte sie, »mein Vater hieß Ferdinand Riethmüller. Er starb leider vor drei Jahren. Meine Mutter ist eine geborene Donhauser, genau wie mein Onkel.«

Oskar blickte verwundert auf. »Ich dachte, sein Name wäre Humboldt.«

»Irrtum.« Sie räumte den Rest ihrer Bücher aus, klappte den Koffer dann zu und schob ihn unters Bett. »Mein Onkel behauptet zwar immer, er wäre ein unehelicher Sohn von Alexander von Humboldt, aber dafür gibt es keinen wirklichen Beweis. Wenn du mich fragst, es ist eher so etwas wie ein Künstlername. Aber abgesehen davon ist er natürlich ein großer Forscher. Ich werde bei der bevorstehenden Expedition die Stelle der wissenschaftlichen Assistentin einnehmen.« Sie nickte ihm ernsthaft zu. »Da du ja, wie es scheint, mitkommen wirst, hoffe ich, dass wir beide gut zusammenarbeiten werden. Es ist von größter Wichtigkeit, dass diese Reise ein Erfolg wird. Ich fordere dich auf, deinen Teil dazu beizutragen.«

Oskar presste die Lippen aufeinander. »Ich werde mich bemühen.« Ihre Hochnäsigkeit war kaum zu ertragen. Nur noch wenige Augenblicke in diesem Zimmer und er würde platzen. »Gibt es sonst noch etwas, was ich für Sie tun kann?«, würgte er heraus.

»Nein, das war’s im Augenblick. Ich werde mir jetzt ein Bad gönnen und danach lesen. Dabei möchte ich nicht gestört werden.«

Oskar deutete ein Nicken an und ging zur Tür. Auf dem Weg nach unten verspürte er das dringende Bedürfnis, irgend etwas kaputt zu machen. Seine Stimmung war auf dem absoluten Nullpunkt angelangt.

Die Stadt der Regenfresser

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