Читать книгу Die Stadt der Regenfresser - Thomas Thiemeyer - Страница 6

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Prolog

Januar 1893, irgendwo in den

peruanischen Anden …

Der Atem des Mannes ging stoßweise. Seine Haut glänzte im warmen Licht der Abendsonne. Schweiß, Blut und Staub hatten auf seiner Kleidung Spuren hinterlassen. Fleckig und zerknittert klebte der Stoff auf seiner Haut und ließ seine Arme und Beine darunter hervortreten. Der breite Hut, der ihn vor der südamerikanischen Sonne geschützt hatte, war ihm bereits vor Tagen verloren gegangen. Ein tragischer Verlust, bedachte man, welche Kraft die Sonne hier entfalten konnte. Nun drohten ihre Strahlen ihm auch noch das letzte bisschen Verstand auszudörren.

Sein schütteres Haar flatterte im aufkommenden Wind wie grauer Rauch. Nur langsam arbeitete sich der Mann vorwärts. Vorsichtig, einen Fuß vor den anderen setzend, bewegte er sich entlang eines schmalen Simses, den die innere Kraft der Erde vor Urzeiten aus der Felswand gebrochen hatte. Während er mit den Fingern in den Ritzen des rauen Granits nach Halt suchte, versuchte er krampfhaft, nicht nach unten zu schauen. Der Anblick des bodenlosen Abgrunds übte eine geradezu hypnotische Anziehungskraft aus. Er wusste um die verlockende Kraft der Tiefe. Sie konnte jeden – mochte er auch noch so schwindelfrei sein – irgendwann zu sich herabziehen.

Die Aussicht war gleichermaßen faszinierend wie erschreckend. Hin und wieder öffnete sich unter seinen Füßen eine Lücke zwischen den Wolken und erlaubte einen Blick in noch größere Tiefen. Dort schimmerte dunkel und geheimnisvoll der Urwald. Wie ein smaragdfarbenes Moospolster, dessen Oberseite an manchen Stellen von verirrten Sonnenstrahlen erhellt wurde, lag er da.

Der Mann schloss die Augen. Noch fester klammerten sich seine Finger in den Stein. Nicht auszudenken, was geschehen würde, wenn er den Halt verlöre. Sein Sturz würde vermutlich eine halbe Ewigkeit dauern. Zum Glück gehörte er nicht zu den Menschen, die unter Höhenangst litten. Er hatte schon viele Berge erstiegen, war über die Mauerkronen turmhoher Ruinen geklettert und hatte Hängebrücken überquert, bei denen so manchen seiner Kollegen die Angst gepackt hätte. Aber dies hier war anders. Eine solch immense Felswand war mit dem Verstand nicht mehr zu erfassen. Hier versagten alle Vergleiche. Zwei Kilometer steil nach unten abfallend und mindestens einen Kilometer über seinem Kopf aufragend, bildete sie das größte vertikale Plateau, das je ein Mensch erblickt hatte. Ein Naturwunder, vor dem selbst die Victoriafälle in Afrika oder der Grand Canyon in Nordamerika wie billige Jahrmarktsattraktionen aussahen. Und als wäre das noch nicht genug, war er hier auf eine Kultur gestoßen, die so außergewöhnlich war, dass es ihm daheim kein Mensch glauben würde. Doch er verfügte über unwiderlegbare Beweise. Was er an seiner Seite in einer ledernen Umhängetasche mit sich führte, war wertvoller als alles, was er zu Hause auf seinem Bankkonto hatte. Wertvoller als sein Haus in New Jersey einschließlich des benachbarten Anwesens seiner Eltern. Dieser Schatz war in Zahlen nicht zu bemessen, auch wenn er eher geistiger denn materieller Natur war. Ein Schatz des Wissens, der das Leben der Menschen für immer verändern konnte.

Das einzige Problem bestand darin, ihn unversehrt nach Hause zu bringen. Denn wie bei allen großen Geheimnissen gab es auch hier jemanden, der verhindern wollte, dass etwas davon an die Öffentlichkeit geriet.

Über die Hälfte des Weges hatte er zurückgelegt, als er sich eine kleine Atempause gönnte. Die Sonne stand so niedrig, dass sein Körper einen langen Schatten auf die goldene Felswand warf. Vor sich konnte er bereits den Pfad erkennen, der in die Freiheit führte. Das Buschwerk und die dichten subtropischen Wälder boten ausreichend Versteckmöglichkeiten – vorausgesetzt, er erreichte sie, bevor die Sonne verschwand. Ein Abstieg bei Dunkelheit wäre reiner Selbstmord und die Nacht kam schnell in diesen Breitengraden. Zweihundertfünfzig Meter trennten ihn von seinem Ziel. Ein ganzer Viertelkilometer entlang eines Vorsprungs, nicht breiter als ein Handtuch – ohne Schutz, ohne Ausweg und ohne die Möglichkeit einer Abkürzung. Er saß hier wie auf dem Präsentierteller. Bisher hatte er Glück gehabt. Offenbar hatten seine Verfolger nicht damit gerechnet, dass er so tollkühn sein würde, diesen Weg einzuschlagen. Wenn sie ihn suchten, dann bestimmt an allen möglichen anderen Orten. Die Frage war nur: Wie lange noch? Wann würden sie auf den Gedanken kommen, dass er den Himmelspfad eingeschlagen hatte? Die Zeit wurde langsam knapp.

Schwitzend und kraftlos arbeitete er sich vorwärts. Hand für Hand, Fuß für Fuß, Schritt für Schritt.

Der Wind wehte den Geruch des Abends zu ihm empor. Über ihm begannen die ersten Sterne auf dem violetten Firmament zu erscheinen. Seine Gedanken wanderten zurück. Er erinnerte sich, wie er zum ersten Mal dieses wundersame Land betreten hatte. An die ungläubigen Blicke der Einheimischen, als er, gerüstet mit seiner Kamera und ausreichend fotografischen Platten, den Weg zu dem verborgenen Plateau eingeschlagen hatte. Allen Warnungen zum Trotz hatten er und sein Maultier die Felsen jenseits der Schlucht erklommen und ein Abenteuer bestritten, das er selbst nie für möglich gehalten hatte.

Während er noch über die vergangenen Tage nachdachte, drang plötzlich ein Geräusch an seine Ohren. Eine Art Kratzen, als ob man zwei Holzstücke gegeneinanderriebe.

Er blieb stehen und lauschte. Da. Da war es wieder. Erst schwach, dann immer stärker werdend. Irgendwo über ihm prasselte eine Handvoll Steine in die Tiefe. Panik stieg in ihm auf. Er kannte dieses Geräusch. Er kannte es nur zu gut.

Er drehte sich um und schaute nach hinten. Niemand zu sehen. Der Vorsprung war leer. Auch der Blick nach oben und unten ergab nichts. Hatte er sich das etwa nur eingebildet?

Er wartete noch ein paar Sekunden und wollte sich gerade wieder nach vorn wenden, als er das Geräusch erneut vernahm. Diesmal näher. Es kam von irgendwo über ihm. Alarmiert spähte er nach oben. Eine tief hängende Wolke versperrte ihm die Sicht. Angestrengt versuchte er, den Dunst mit seinen Augen zu durchdringen. Plötzlich sah er etwas. Eine schnelle Bewegung in der Wolke. Irgendetwas Riesenhaftes.

Vor Angst beinahe gelähmt, wandte er sich wieder nach vorn. Alle Vorsicht beiseite lassend, vergrößerte er seine Schritte. Noch etwa hundertfünfzig Meter. Ein blaugrünes Gestrüpp von Dornen und Kakteen markierte das Ende des Himmelspfades. Dahinter begann der Wald. Er wusste, dass er dort in Sicherheit war. Knappe hundert Meter, eine lächerliche Entfernung für einen durchtrainierten Mann wie ihn. Doch ihm blieb kaum Zeit. Das Wesen war auf der Jagd und es war schnell. Im Gegensatz zu ihm war es an das Leben in der Vertikalen gewöhnt.

In diesem Augenblick traf er eine Entscheidung. Die Tasche mit dem wertvollen Inhalt unter den Arm geklemmt, löste er die Hände vom Fels und begann zu laufen. Erst langsam, dann mit stetig zunehmender Geschwindigkeit. Der bodenlose Abgrund unter seinen Füßen flog nur so dahin. Schneller und schneller bewegten sich seine Beine, den Abstand zwischen sich und dem Ende des Himmelspfades immer weiter verkürzend. Hundert Meter … fünfundsiebzig … fünfzig Meter.

Das Ende der Felswand war bereits in greifbare Nähe gerückt, als der Schatten des Verfolgers auf ihn fiel. Ein überwältigender Gestank drang ihm in die Nase. Es roch wie eine Mischung aus Rosenöl und Knoblauch. Er hörte Atemgeräusche, gefolgt von einem zischenden Laut. Ein Brennen stach ihm in den Rücken. Seine Hand fuhr nach hinten, konnte die schmerzende Stelle aber nicht erreichen. Noch einmal zischte es. Diesmal stach ihn etwas in die Schulter. Den Kopf drehend, gewahrte er einen Stachel, lang und dünn wie ein chinesisches Essstäbchen, der tief in seinem Oberarm steckte.

Seine Sinne begannen sich zu verwirren. Die Pflanzen, die eben noch in greifbarer Nähe waren, schienen sich immer weiter von ihm zu entfernen. Es war wie verhext. Es sah aus, als bestünde der Sims unter seinen Füßen aus Gummi, den eine unbekannte Kraft in die Länge zog.

Die Hoffnung verließ ihn. Er geriet ins Straucheln. Sein Fuß blieb an einem Stein hängen. Er stolperte, taumelte, dann trat er ins Leere. Geröll löste sich und prasselte in die Tiefe. Er versuchte, das Gleichgewicht zu halten, doch er konnte den Sturz nicht mehr verhindern. Wild mit den Armen rudernd, versuchte er, irgendwo Halt zu finden. Doch da war nichts. Kein Stein, kein Zweig, kein Ast.

Dann fiel er.

Mit zunehmender Geschwindigkeit raste die Felswand an ihm vorbei. Sie besaß keine Vorsprünge oder Vertiefungen, nichts, woran man sich festhalten konnte. Unaufhaltsam schoss er in die Tiefe. Der Wind steigerte sich zu Orkanstärke, während er immer schneller wurde. Ein Brausen und Grollen lag in der Luft, das seine Ohren zu sprengen drohte. Er versuchte zu schreien, doch das Dröhnen ließ sich nicht übertönen. Bilder seiner Vergangenheit flackerten vor seinem inneren Auge auf, vermischten sich mit Wahnvorstellungen. Zweifelsfrei eine Folge des Giftes, mit dem die Stacheln getränkt waren. Und dann, mit unauslöschlicher Gewissheit, wurde ihm bewusst, dass er sterben würde. Aus, vorbei. Seine Reise, sein ganzes Wissen, umsonst.

Was für ein Jammer!

Als er Minuten später in ein Fangnetz fiel, war er bereits ohnmächtig. Er spürte nicht, wie das kunstvoll geflochtene Gewebe seinen Sturz abbremste und schließlich gänzlich abfing. Er bekam nicht mehr mit, wie sich das schlanke Flugschiff mit den farbigen Markierungen und den geblähten Segeln näherte. Er bekam auch nichts davon mit, wie ein Hebearm ausgefahren wurde und ihn an Bord holte.

Als sich seine Umhängetasche von seinen Schultern löste und tief unter ihm in die rauschenden Fluten des Colca klatschte, war er bereits auf dem Weg in tiefes Vergessen.

Die Stadt der Regenfresser

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